Die sozialmed. Begutachtung erfolgt aus unterschiedlichen Anlässen, bzw. in unterschiedlichen Rechtsgebieten und ist daher mit bestimmten Fragestellungen verbunden. In der Regel sollen Funktionsstörungen bewertet werden als Basis für die Gewährung von entsprechenden Kompensationen. Die sozialmedizinische Begutachtung steht daher immer in einem Kontext, der ein Bewertungssystem darstellt, z. B. im Kontext der Versorgungsmedizin (Sozialgesetzbuch IX) bei der Zumessung eines Grades der Behinderung (GdB), oder des Sozialgesetzbuches (SGB) VII in der Frage der Anerkennung einer Berufskrankheit und hieraus folgenden Versorgungleistungen, oder des SGB XI zur Beurteilung des Pflegebedarfes usw.
Eine häufig auftretende Schwierigkeit im gegenseitigen Verständnis zwischen den akutmedizinisch ausgerichteten Arbeitsweisen in Krankenhaus und ärztlicher Praxis auf der einen Seite und der Begutachtung in der Sozialmedizin auf der anderen Seite ist die unterschiedliche Klassifikation, die zugrunde gelegt wird. So wird im Akutbereich in der Regel die ICD-Kodierung genutzt. Diese klassifiziert Diagnosen und ggf. im DRG-System auch durchgeführte Prozeduren und dient bislang u. a. als Basis der Vergütung von erbrachten medizinischen Leistungen.
Ausgewählte Beispiele der sozialmed. Bewertung
Der Anlass der Begutachtung muss für den Gutachter und den zu Begutachtenden bekannt sein. Eine schriftliche Beauftragung mit Fragestellung sollte vorliegen.
Beurteilung des Leistungsvermögens (positives und negatives Leistungsvermögen) im SGB VI (Gesetzliche Rentenversicherung)
Eine Begutachtung des positiven und negativen Leistungsvermögens erfolgt z. B. für Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung bei Beantragung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder bei Beantragung einer Erwerbsminderungsrente.
Bei der sozialmed. Begutachtung werden das quantitative und qualitative Leistungsvermögen bewertet.
Das quantitative Leistungsvermögen wird dabei in drei Gruppen eingeteilt:
-
0 bis < 3 h (entspricht einer vollen Erwerbsminderung);
-
3 bis < 6 h (entspricht einer teilweisen Erwerbsminderung)
-
6 bis 8 h (entspricht keiner Erwerbsminderung).
Bei dem qualitativen Leistungsvermögen werden u. a. die Fragen der Arbeitsschwere, der Körperhaltung, möglicher Belastungsfaktoren betrachtet und diese auch unter dem Aspekt der zeitlichen Beanspruchung bewertet. Am Beispiel der Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, in diesem Fall für die DRV ist gut zu erkennen, dass Bezeichnungen, die ggf. auch umgangssprachlich verwendet werden, wie z. B. „häufig“, „gelegentlich“, „selten“ eine genaue Definition der zeitlichen Anteile haben, s. hierzu auch das sozialmedizinische Glossar, z. B. ständig = mehr als 90 % der täglichen Arbeitszeit, überwiegend = 50–91 % der täglichen Arbeitszeit, zeitweise = bis zu 10 % der täglichen Arbeitszeit, gelegentlich = bis zu 5 % der täglichen Arbeitszeit. Gleichermaßen verhält es sich mit der Arbeitsschwere, z. B. der Definition von schwerer, mittelschwerer, leichter bis mittelschwerer und leichter körperlicher Arbeit.
Für die Leistungsbeurteilung in der gesetzlichen Rentenversicherung ist es daher unerlässlich sich mit den Definitionen und Begrifflichkeiten vertraut zu machen, diese korrekt einzusetzen bzw. im Text zu erläutern, welche Belastungen im vorliegenden Fall möglich sind und welche nicht.
Zugegriffen 15.01.2023
Für die Beurteilung des positiven und negativen Leistungsvermögens stehen als Grundlage eine Reihe von Publikationen der Deutschen Rentenversicherung zur Verfügung, z. B. das Werk „Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung“ (Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin (Hrsg.), ISBN-13 978-3-642-10249-3, 7. Auflage, Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York).
Weitere Krankheitsspezifische Leitlinien wurden durch die DRV erstellt.
Zugegriffen: 02.02.2023
Für onkologische Erkrankungen steht die Leitlinie zur Rehabilitationsbedürftigkeit bei onkologischen Krankheiten und die Leitlinie zur Leistungsfähigkeit bei
Mammakarzinom zur Verfügung. Auch wenn damit für sehr viele onkologische Erkrankung keine Leitlinie zur Beurteilung des Leistungsvermögens durch die Deutsche Rentenversicherung bereitgestellt ist, lässt sich die Systematik der Beurteilung und die dahinter liegende – ICF basierte Bewertung – auf andere Begutachtungssituationen übertragen.
Begutachtung in der Versorgungsmedizin im SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung)
Zur Begutachtung in der Versorgungsmedizin liegt als Anlass ein Antrag eines Antragstellenden auf Erreichen eines Grades der Behinderung (GdB) ggf. mit der Zuerkennung von Merkzeichen (MZ) vor.
Das zu Grunde liegende Sozialgesetzbuch ist das SGB IX. Die Grundidee ist die Anerkennung eines Leidens, bzw. der daraus resultierenden Funktionsstörungen, um in einem gewissen Sinne eine Kompensation von krankheitsbedingten Nachteilen zu erreichen, z. B. durch einen Steuerfreibetrag, Erleichterungen in der KfZ Steuer, unentgeltliche Mitnahme von Begleitpersonen, besonderer Kündigungsschutz, zusätzliche Urlaubstag etc.
Bei der Bewertung des GdB handelt es sich um eine finale Betrachtung, dieses ist zu unterscheiden von der Bewertung des GdS (Grades der Schädigungsfolge), die eine kausale Betrachtung beinhaltet.
Die möglichen Kompensationen sind an die Höhe des GdB und/oder das Vorliegen von MZ geknüpft.
So werden erst ab einem GdB von 50, dem Schwerbehindertenstatus zusätzliche Urlaubstage gewährt. Für den Schwerbehindertenstatus gilt der besondere Kündigungsschutz, der die Kündigung allein aufgrund von Behinderung verhindern soll. Aber auch bei einem GdB von 30 oder 40 unterhalb des Schwerbehindertenstatus kann nach Antrag bei der Agentur für Arbeit eine Gleichstellung mit o. g. Kündigungsschutz erreicht werden.
Die Bewertung des GdB erfolgt anhand der VersMedV (Versorgungsmedizin-Verordnung) mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen – dabei handelt es sich um eine rechtsverbindliche Norm. Die Grundlagen zur Begutachtung in der Versorgungsmedizin sind in der VersMedV verbindlich mit Rechtscharakter geregelt, diese können nur durch Gesetzesänderungen (Änderungsverordnungen) verändert werden. Zur Vereinheitlichung der in den Ländern gültigen Ausführungen wurde im März 2009 die „Arbeitsgemeinschaft der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr“ gegründet, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unterstützt wird. Durch diese Arbeitsgemeinschaft wird das „Arbeitskompendium der versorgungsmedizinisch tätigen Leitenden Ärztinnen und Ärzte der Länder und der Bundeswehr“ herausgegeben, in dem die Bewertungsmaßstäbe zu den Leiden der menschlichen Organsysteme aufgelistet sind.
Zugegriffen: 02.02.2023
Über 6 Monate anhaltende Funktionseinschränkungen werden nach Organsystemen getrennt bewertet. Da Erkrankungen sich auch bessern können, sind evtl. Nachuntersuchungen zu empfehlen. Bzgl. onkologischer Erkrankungen gibt es die Sonderregelung der sogenannten Heilungsbewährung. Als Besonderheit bei der Bewertung von Krebskrankheiten ist die Zumessung eines GdB für die Phase der Heilungsbewährung zu sehen. Hierbei wird, in der Annahme, dass die Funktionsstörungen vielfältig und zum Zeitpunkt der Bewertung noch nicht in Gänze abschätzbar sind, ein GdB gewählt, der möglicherweise höher als die aktuell vorliegenden Einschränkungen ist. Zu diesem GdB erfolgt nach einem festgelegten Zeitpunkt, z. B. von zwei, drei oder fünf Jahren eine Nachuntersuchung.
Nicht jede maligne Erkrankung bedeutet, dass ein Grad der Behinderung von 50 oder mehr (und somit der Status der Schwerbehinderung) anerkannt wird. So würde z. B. aktuell das Vorliegen einer nicht behandlungsbedürftigen hämatologischen Erkrankung ohne Funktionsstörungen, die eine Höherbewertung begründen, mit einem GdB von 30 oder 40 bewertet.
Da Tumorerkrankungen in allen Organsystemen entstehen können, sind sie in der VersMedV unter dem betroffenen Organsystem zugeordnet, z. B.
Mammakarzinom unter „Weibliche Geschlechtsorgane“. Im Unterschied zur Systematik der Bewertung anhand von bestehenden Funktionsstörungen erfolgt in der Bewertung von Tumorerkrankung auch die Berücksichtigung des Tumorstadiums. So wird aktuell bei einem invasiven Mammakarzinom im Stadium pT1-pT2 pN0 ohne weitere Manifestation ein GdB von 50 zugeordnet, während bei gleichem T-Stadium, aber mit pN1-Nodalstatus ein GdB von 60 bewertet wird. Diese Bewertung wird im Rahmen einer Heilungsbewährung angesetzt und beinhaltet die regelhaft zu erwartenden physischen, psychischen und mentalen Folgestörungen. Der Zeitraum der Heilungsbewährung wird in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Erkrankung festgesetzt, z. B. bei einem DCIS der Mamma für den Zeitraum von 2 Jahren, während für ein invasives Mammakarzinom zurzeit eine Heilungsbewährung von 5 Jahren angesetzt würde. Ein wichtiger Zeitpunkt der erneuten Bewertung ist der Ablauf der Heilungsbewährung. Bewertet werden bei dieser Nachuntersuchung der erreichte Remissionsstatus und ggf. fortbestehende Funktionsstörungen. Diese müssen ärztlich dokumentiert sein um in die Bewertung einbezogen zu werden. Mitunter werden Folgestörungen hierbei nicht versorgungsmedizinisch anerkannt, wenn eine ausreichend ärztliche Dokumentation nicht vorliegt.
Zur Bewertung bezüglich des Grades der Behinderung ist eine Feststellung der dauerhaften (über 6 Monate andauernden) Funktionsstörungen erforderlich. Diese sind anhand vorliegender Berichte zu erschließen bzw. anhand der Anamnese und körperlichen Untersuchung, ggf. unter Einbeziehung von Funktionsprüfungen zu bewerten.
Zur Erläuterung bezüglich der GdB-Zumessung hier die Angaben zum
Mammakarzinom: wie bereits als Beispiel in 1.2. genannt, stellt das UICC Stadium 0 das niedrigste Tumorstadium dar, es ist definiert als Tis N0 M0; ausgehend von der pathohistologischen Diagnose pTis wird diesem Leiden ein Grad der Behinderung von 50 mit einem Zeitraum der Heilungsbewährung von 2 Jahren zugemessen, d. h. nach 2 Jahren erfolgt die Nachuntersuchung, bei der in Abhängigkeit vom Remissionsstatus und dann ggf. vorhanden Krankheits- und/oder Therapiefolgestörungen der GdB neu festgelegt wird. Besteht hingegen ein UICC Stadium IA als T1 N0 M0 wird ebenso ein GdB von 50 angesetzt, allerdings mit einer Phase der Heilungsbewährung von 5 Jahren und beim UICC Stadium IIA/B (T1 bis T2) pN1 M0 als ein GdB von 60 mit einer Phase der Heilungsbewährung von 5 Jahren.
Am Beispiel eines an einer
akuten myeloischen Leukämie Erkrankten wird schnell deutlich, dass es neben einem komplikationsträchtigen Verlauf, möglicherweise mit Aufenthalt auf einer Intensivstation und hiernach lang anhaltenden Folgestörungen auch Patienten gibt, die relativ komplikationsarm durch die Therapie gehen und keine schwerwiegenden Folgestörungen haben.
Dennoch würden beide Patienten zunächst einen GdB von 100 für das erste Jahr der Intensivtherapie erhalten. Nach einem Jahr würde bei kompletter klinischer Remission der GdB zur Heilungsbewährung angesetzt, üblicherweise mit einem GdB von 80 für 3 Jahre und hiernach bei Ablauf der Heilungsbewährung entschieden, welche Folgestörungen vorliegen und wie diese zu bewerten sind. Das Problem der unterschiedlichen Betrachtungsweise von Akutmedizin und Begutachtung wird oft an dieser Stelle relevant, da in der Akutmedizin die Angaben zu möglicherweise vorliegendem Rezidiv, bzw. das Erreichen einer Remission angeben werden, die ohne Zweifel in der Versorgungsmedizin wichtige Angaben sind, aber in den Berichten fehlende oder unzureichende Angaben zu fortbestehenden Funktionsstörungen vorliegen.
Folgestörungen einer Tumorerkrankung, die über das zu erwartende Ausmaß hinausgehen, werden gesondert bewertet. Als Beispiel kann eine psychische Begleiterkrankung zur Anerkennung im Schwerbehindertenrecht gesehen werden. Die üblichen seelischen Begleiterscheinungen im Rahmen der Tumorerkrankung sind im GdB berücksichtigt. Sollte es sich aber um eine – möglicherweise bereits zuvor bestehende Erkrankung handeln- so ist diese auch entsprechend gesondert zu bewerten.
Die Ermittlung des Gesamt-GdB erfolgt in der Zusammenschau aller Leiden und der Auswirkung auf den Antragsteller. So könnte eine bereits zuvor bestehende Funktionsstörung am Sprunggelenk eines Beines mit einem gewissen Einzel-GdB bewertet werden; eine neu hinzukommende Bewertung eines Leidens am Knie desselben Beines würde in der Gesamtschau evtl. keine wesentliche zusätzliche Beeinträchtigung dieser Extremität bedeuten und somit auch den Gesamt-GdB nicht, oder nur in dem Maße erhöhen, in dem tatsächlich für das betroffene Bein ein zusätzliches Defizit festzustellen ist. Eine zusätzlich aufgetretene Funktionsstörung am Knie des anderen Beines würde hingegen zu einer Beeinträchtigung beider Beine führen und daher den Gesamt-GdB ggf. mehr erhöhen.
Die Zumessung eines bestimmten Grades der Behinderung ist keine Aussage zum Leistungsvermögen im Erwerbsleben. Zu beachten ist, dass sozialmedizinische Begutachtungen, die in einem definierten Kontext, z. B. im SGB VII erstellt sind, zwar einen Hinweis in andere Rechtsbereiche, z. B. in die Begutachtung im SGB IX geben können, aber keine Vorgabe bezüglich der Bewertung darstellen. So darf eine anerkannte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 % aufgrund einer Berufskrankheit oder eines Arbeitsunfalles nicht in einen GdB von 30 „übersetzt“ werden. In der Zumessung der MdE wird bewertet, wie hoch der Anteil des verschlossenen Arbeitsmarktes aufgrund der Schädigung ist, es handelt sich inhaltlich um eine kausale Betrachtung, während in der finalen Betrachtung des GdB im Schwerbehindertenrecht die Funktionsstörung und ihre Bedeutung auf die Teilhabe am sozialen Leben betrachtet wird.
Bei den Merkzeichen wird u. a. das Vorliegen einer erheblichen („G“) oder außergewöhnlichen („aG“) Gehbehinderung geprüft. Weitere Merkzeichen, durch die Nachteilsausgleiche erreicht werden können, sind die medizinische Notwendigkeit einer Begleitperson bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln („B“), die Befreiung/Reduktion von der Rundfunkgebührenpflicht („RF“) oder das Vorliegen einer Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes („H“). Die hierzu notwendigen Voraussetzungen können auf Dauer oder ggf. zeitlich befristet als erfüllt gewertet werden. In letzterem Fall würde eine Nachuntersuchung festgesetzt, die auch für das Leiden bestünde aufgrund dessen das Merkzeichen vergeben wird.
In der Begutachtung im SGB IX wird die Funktionsstörung als Abweichung vom altersgemäßen Zustand bewertet. Dieser Aspekt ist besonders in der Begutachtung bei Kindern und älteren Menschen zu berücksichtigen, da bestimmte Fähigkeiten und Funktionen im Laufe des Lebens Veränderungen unterliegen.
Zugegriffen 29.01.2023 14 Uhr