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Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie

Verfasst von: Vera Clemens, Tobias Banaschewski, Jörg M. Fegert und Laura Weninger
Wie werden Zwangsstörungen behandelt? Was ist der Goldstandard zur Feststellung einer Lese-Rechtschreibstörung? Ist Fluoxetin oder Escitalopram besser zur Behandlung einer jugendlichen Depression geeignet? Viele Fragen entstehen tagtäglich bei der Diagnostik und Behandlung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Doch wo und wie finden wir Antworten? Die Methodik der evidenzbasierten Medizin (EbM) sowie Leitlinien helfen, dass unser Vorgehen nicht nur intuitiv-gefühlsmäßig, sondern wissenschaftlich fundiert ist. Unseren jungen Patienten und ihren Eltern können wir Chancen und Risiken besser erklären, wenn wir Therapeuten diese auch verstehen. Durch leitlinienorientiertes Vorgehen können wir im nächsten Schritt Behandlungsergebnisse vergleichen und zu neuen Schlussfolgerungen gelangen. Im Rahmen dieses umfangreichen Lehrbuches sollen verschiedene Aspekte der evidenzbasierten Medizin bis hin zu Leitlinien aufgezeigt und eine Schlüsselkompetenz für lebenslanges Lernen vermittelt werden.

Einführung in die evidenzbasierte Medizin (EbM)

David Sackett, ein Pionier der evidenzbasierten Medizin, definiert EbM wie folgt.
„Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.“ (Sackett et al. 1996).

Historische Entwicklung von EbM

Den Ursprung der EbM sehen die meisten im 18. Jahrhundert, da erst hier begonnen wurde, medizinische Heilmethoden wissenschaftlich zu beurteilen. Zuvor bildete vor allem die individuelle Erfahrung die Basis wissenschaftlichen Handelns. Diese ist aber nicht immer ein geeignetes Mittel, um Behandlungsmethoden zu bewerten. Beispielsweise wurde in den 80er-Jahren Lidocain zur Behandlung von Rhythmusstörungen beim Herzinfarkt eingesetzt, da es den Herzrhythmus stabilisierte und Kardiologen hiermit gute Erfahrungen gemacht und Einzelerfolge erzielt hatten. Systematische Übersichtarbeiten zeigten später jedoch, dass die Behandlung mit Lidocain die Mortalität nicht erniedrigt, sondern sogar erhöht.
Im 18. Jahrhundert wurde von dem britischen Arzt William Black das Konzept der „medical arithmetic“ entwickelt – also systematische Beobachtungen zur Beurteilung von Therapien. Im Jahr 1793 wurde dann der Begriff EbM erstmals in einer Arbeit des schottischen Arztes George Fordyce gebraucht, in der er die Nutzung wissenschaftlicher Methoden zur Überprüfung der Wirksamkeit von medizinischen Behandlungen diskutiert: „An Attempt to improve the Evidence the Medicine“.
Als erste kontrollierte klinische Studie gilt die Veröffentlichung von James Lind, der im 18. Jahrhundert ein Mittel gegen die bei Matrosen sehr weit verbreitete Erkrankung Skorbut zu finden hoffte. Hierfür teilte er 12 Matrosen in 6 Gruppen ein – alle erhielten dieselbe Kost, aber mit unterschiedlichen Ergänzungen. Einige Matrosen erhielten beispielsweise zusätzlich Schwefelsäure aufgrund der Hypothese, dass Säure Skorbut heilen könnte. Andere erhielten Essig oder Meerwasser. Die zwei Matrosen, die zur normalen Kost täglich je zwei Orangen und eine Zitrone erhielten, erholten sich nach einigen Tagen von der Erkrankung, alle anderen nicht. James Lind ordnete an, dass nun alle Matrosen auf seinem Schiff täglich Zitrusfrüchte erhalten, es kam zu keinen neuen Skorbutfällen mehr. James Lind rettete mit diesem systematischen Zugang vielen Matrosen das Leben.
Ein weiterer Meilenstein der EbM wurde durch den ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) gesetzt, der in Wien wirkte und 1848 die Einführung der „Systematische(n) klinische(n) Beobachtung“ in die medizinische Forschung verfasste. Semmelweiß untersuchte die Entstehung von Kindbettfieber und fand heraus, dass dies häufiger auftrat, wenn Gebärende von Ärzten und anstatt von Hebammen betreut wurden. Als Grund vermutete er mangelnde Hygiene der Ärzte, die häufig direkt vom Leichensezieren in den Kreißsaal kamen. Semmelweiß gilt daher als Pionier auf dem Gebiet der Krankenhaushygiene.
Das Buch „Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services“ von dem britischen Epidemiologen Professor Archie Cochrane aus dem Jahr 1972 gilt als Grundlage der aktuellen EbM, die sich in den 1980er-Jahren aus der klinischen Epidemiologie entwickelte. Der Epidemiologe Davis Sackett gründete 1967 das erste Institut für klinische Epidemiologie in Kanada und später das Oxford Centre for Evidence-based Medicine.

Bestandteile von EbM

EbM basiert auf den Erkenntnissen klinischer Forschung. Hierzu wird die medizinische Fachliteratur zu einer definierten Fragestellung systematisch untersucht. Die gefundenen Studien werden hinsichtlich ihrer Aussagekraft beurteilt und zur Beantwortung der Fragestellung genutzt. Neben dieser externen Evidenz werden nach EbM-Standard auch die eigene klinische Expertise und die individuelle Situation des Patienten sowie seine persönlichen Präferenzen zur Findung der bestmöglichen Behandlung für den Patienten mit einbezogen.
EbM besteht aus 3 Kernaspekten:
  • Aktueller Stand der klinischen Forschung
  • Individuelle klinische Erfahrung
  • Präferenzen und Wünsche des Patienten
„Beispiel“ Fallbeispiel
Ein 16-jähriger Patient wird aufgrund einer akuten polymorphen psychotischen Störung mit Aripiprazol erfolgreich behandelt. Nach Remission der Symptomatik wird eine Weiterbehandlung für 12 Monate empfohlen. Der Jugendliche ist allerdings sehr skeptisch und möchte die Medikation so bald wie möglich absetzen. Er möchte gerne wissen, wie groß das Risiko für einen Rückfall ohne Medikation ist?

Vom Fall zur Frage – das Handwerkszeug

Gemäß der Definition von David Sackett heißt die praktische Umsetzung der EbM, das klinisches Wissen mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung verknüpft wird.
Dies erfolgt in mehreren Schritten. Anhand des oben geschilderten Fallbeispiels wird dies im Folgenden demonstriert.
Zunächst ist es notwendig, dass aus dem klinischen Fall eine beantwortbare Frage abgeleitet wird. Dies geschieht sehr einfach anhand des PICO-Schemas:
  • Patient population: Patient und sein Problem
  • Intervention: Behandlung
  • Comparison: Alternativmaßnahme oder keine Behandlung
  • Outcome: messbarer Endpunkt (z. B. Reduktion der Krankheitssymptomatik, Lebensqualität)
Aus unserem Fall leitet sich somit die folgende vierteilige Frage ab: Ist bei einem 16-jährigen Jugendlichen mit einer remittierten Psychose eine Medikation mit Aripiprazol besser geeignet als keine Medikation (Placebo), um ein Rezidiv zu vermeiden?
Auf der Grundlage dieser Frage ist es nun leicht möglich eine gezielte Internet-Recherche in den gängigen Datenbanken, z. B. Pubmed durchzuführen. Als Suchbegriffe können die Begriffe adolescent, psychosis, aripiprazol, relapse angegeben werden.
Als Ergebnis lässt sich z. B. folgende Studie finden, durch die wir der Antwort hoffentlich näher kommen.
Oral Aripiprazole as Maintenance Treatment in Adolescent Schizophrenia: Results From a 52-Week, Randomized, Placebo-Controlled Withdrawal Study (Correll et al. 2017)
ABSTRACT
Objective:
To evaluate the efficacy, safety, and tolerability of aripiprazole, a dopamine D2 receptor partial agonist, as maintenance treatment in adolescent outpatients with schizophrenia.
Method:
This was a multicenter, double-blind, placebo-controlled, randomized withdrawal design trial. Participants 13 to 17 years of age with a diagnosis of schizophrenia (DSM-IV-TR) were first cross-titrated from their other oral antipsychotic(s) (4–6 weeks), then stabilized (7–21 weeks) on oral aripiprazole 10 to 30 mg/d, and finally randomized 2:1 to continuation of oral aripiprazole or to placebo in a double-blind maintenance phase (≤52 weeks). The primary endpoint was time from randomization to exacerbation of psychotic symptoms/impending relapse. Safety and tolerability were assessed.
Result:
Of 201 enrolled participants, 146 were randomized to aripiprazole (n = 98) or placebo (n = 48) in the double-blind maintenance phase. Treatment with aripiprazole was associated with a significantly longer time to exacerbation of psychotic symptoms/impending relapse compared with placebo (hazard ratio, 0.46 [95 % CI = 0.24–0.88]; p = .016). Aripiprazole was associated with lower rates of serious treatment-emergent adverse events (TEAEs) versus placebo (3.1 % versus 12.5 %; p = .059) and severe TEAEs (2.0 % versus 10.4 %; p = 0,039). The rate of discontinuation due to TEAEs was lower with aripiprazole versus placebo (20.4 % versus 39.6 %, p = .014, number-needed-to-harm = 5.1). The incidences of extrapyramidal symptoms, weight gain, and somnolence were similar or lower with aripiprazole than with placebo, and no TEAEs related to elevated serum prolactin were reported. Based on Tanner staging, 27.6 % of participants treated with aripiprazole and 16.7 % of those who received placebo progressed one or two stages from baseline.
Conclusion:
Aripiprazole was observed to be safe and effective for the maintenance treatment of adolescents with schizophrenia.

Von der Frage zur Antwort – die fünf Schritte der EbM

Die ersten beiden Schritte der evidenzbasierten Medizin sind damit schon gegangen.
Übersicht
1.
Schritt: Stellen von beantwortbaren Fragen
 
2.
Schritt: Suche nach externer Evidenz
 
3.
Schritt: Bewerten der externen Evidenz
 
4.
Schritt: Anwendung auf den Patienten
 
5.
Schritt: Evaluation der eigenen Leistung
 
Der 3. Schritt, die Bewertung der externen Evidenz, ist sicher einer der anspruchsvollsten. Dabei helfen uns aber einige Bewertungskriterien. Zunächst unterscheiden wir nach der Zuordnung der Studie zu einem Evidenzgrad anhand folgender Tabelle (Tab. 1).
Tab. 1
Evidenzgrade für Therapiestudien
Stufe
Evidenz-Typ
I a
Mindestens ein systematischer Review auf der Basis methodisch hochwertiger kontrollierter, randomisierter Studien (RCTs)
I b
Mindestens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT
II a
Mindestens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung
II b
Mindestens eine hochwertige Studie eines anderen Typs quasi-experimenteller Studien
III
Mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie
IV
Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien
Bei unserem Beispiel handelt es sich um eine randomisierte, kontrollierte Studie – also um den hohen Evidenzgrad Ib.
Weiterhin werden die Studien nach
1.
Gültigkeit (interne Validität),
 
2.
Relevanz,
 
3.
Übertragbarkeit (externe Validität)
 
bewertet.
Interne Validität
Die interne Validität ist ein Maß dafür, inwieweit in Untersuchungen das gemessen wird, was gemessen werden soll – und das Ergebnis nicht durch systematische Fehler (=Bias) verzerrt wird. Sie gibt an, inwieweit man dem gemessenen Effekt vertrauen kann, und hängt von der Durchführung, Auswertung und Berichterstattung der Studie ab. Um dies zu erreichen, erfolgen Studien wenn möglich „kontrolliert“. Das bedeutet, neben einer Gruppe, an der die Intervention (z. B. Aripiprazol) getestet wird, wird eine andere Gruppe als Kontrolle mit einem Placebopräparat oder z. B. dem sonst üblichen Standardverfahren behandelt. Hinterher wird das Outcome (z. B. das Auftreten eines Rezidivs) zwischen den Gruppen verglichen, um zu beurteilen, welche Intervention erfolgreicher war.
Die Gruppen sollten sich hierbei weder in ihrer Zusammensetzung noch in ihrer Behandlung unterscheiden – die einzige Ausnahme bildet die zu testende Intervention (z. B. Aripiprazol oder Placebo in der Remissionsphase). Um sicherzustellen, dass sich die Studiengruppen nicht bereits im Vorhinein unterscheiden – z. B. die schwerer erkrankten Patienten eher in die Verum und die leichter erkrankten eher in die Placebogruppe kommen –, werden die Teilnehmende in RCTs randomisiert. Dies bedeutet, dass die Verteilung in die Interventionsgruppe vollkommen zufällig erfolgt, d. h. dass jeder Studienteilnehmer dieselbe Chance hat, in die Verum- oder die Placebogruppe zu kommen. Diese Zuordnung erfolgt häufig mit zuvor erstellten Randomisierungscodes oder PC-basierter Zufallsverteilung. Würde keine Randomisierung erfolgen und Ärzte z. B. leichter erkrankte Patienten bewusst oder unterbewusst eher der Placebo-Gruppe zuteilen, könnte es sein, dass bei diesen Patienten die Erkrankung schneller oder stärker rückläufig ist oder die Remission häufiger bestehen bleibt. Dies läge dann aber nicht unbedingt an der zu testenden Intervention, sondern daran, dass die Patienten ohnehin weniger stark erkrankt waren und ihrer Prognose daher unabhängig von der Intervention besser ist.
Ein weiterer wichtiger Faktor für die interne Validität einer Studie ist, dass die Studiengruppen abgesehen von der zu testenden Intervention absolut gleich behandelt werden. Liegen hier Unterschiede vor – erhält z. B. die Verum-Gruppe mehr Arztkontakte – kann es sein, dass der in der Studie gefundene Unterschied zwischen den Studiengruppen in dieser zusätzlichen unterschiedlichen Behandlung begründet ist und nicht an der zu testenden Intervention liegt. Eine gute Methode, um dies sicherzustellen, ist die doppelte Verblindung, d. h., dass weder Patient noch Untersucher wissen, in welcher Gruppe sich der Patient befindet. So beugt man einer bewussten oder unbewussten Ungleichbehandlung zwischen den Studiengruppen durch die Untersucher vor. Durch die Verblindung kontrolliert man zudem den „Placebo-Effekt“ – also, dass es Patienten allein deswegen besser geht, weil sie irgendeine Intervention erhalten.
Typische Fehler, die die interne Validität herabsetzen können, sind z. B.:
  • Selection Bias – Verzerrung durch Unterschiede in den Patientencharakteristika zwischen den Untersuchungsgruppen (z. B. wenn die Aufteilung in die Studiengruppen nicht randomisiert erfolgt)
  • Performance Bias – Verzerrung durch unterschiedliche Behandlung der Untersuchungsgruppen über die untersuchte Intervention hinaus
  • Detection Bias – verzerrte Messung des Outcomes, wenn z. B. die Beurteiler bei einer subjektiven Endpunkterhebung bzw. -bewertung über die Gruppenzugehörigkeit informiert sind
  • Attrition Bias – systematische Unterschiede in der Anzahl und den Ursachen fehlender Daten zwischen den Untersuchungsgruppen, z. B. durch unterschiedliche Anzahl an Studienabbrüchen (Juni et al. 2001)
  • Reporting Bias – systematische Unterschiede zwischen selektiv berichteten und nichtberichteten Ergebnissen einer Studie
Bei methodisch adäquaten RCTs geht man davon aus, dass diese systematischen Fehler/Bias (unabhängig davon, ob sie den Forschern bekannt sind oder nicht) durch die Randomisierung (d. h. die zufällige Verteilung der Studienteilnehmer auf die Behandlungsgruppen) auch zufällig verteilt werden. Deswegen wird RCTs ein hoher Evidenzgrad zugeschrieben.
Die Beantwortung folgender Fragen dient der Einschätzung, ob die Ergebnisse gültig sind (interne Validität):
  • Erfolgte die Zuordnung der Studienteilnehmer zu den Behandlungsmethoden durch Randomisierung (d. h. zufällig)? Ist die Randomisierung verdeckt („concealment of allocation“)?
  • Waren die Gruppen zu Beginn der Studie ähnlich? Oder gab es signifikante Unterschiede, z. B. hinsichtlich Alter, Geschlecht, Schwere der Erkrankung, Vormedikation etc.?
  • Wurden Ein- und Ausschlusskriterien beschrieben?
  • Waren die Studienteilnehmer gegenüber der Therapie verblindet?
  • Waren die Behandelnden gegenüber der Therapie verblindet?
  • Gab es ein genügend langes und ausreichendes Follow-up?
  • Wurden die Studienteilnehmer (abgesehen von den zu untersuchenden Therapiemaßnahmen) gleich behandelt? Wurden alle Studienteilnehmer, die in die Gruppen randomisiert zugeordnet worden waren, analysiert („intention-to-treat“)?
  • Wurden die (primären und evtl. sekundären) Endpunkte der Studie definiert?
  • Sind Angaben über Nebenwirkungen und andere unerwünschte Effekte beschrieben („side effects“)?
  • Wurden Angaben über Finanzierung/Interessenkonflikte gemacht?
Gute Anhaltspunkte für die Validitätsbewertung von verschiedenen Studientypen, u. a. auch RCTs, bieten die NHS CASP Checklisten: https://casp-uk.net/casp-tools-checklists/
Folgende Fragen können bei der oben genannten Studie positiv beantwortet werden: Die Ein- und Ausschlusskriterien sind sehr ausführlich beschrieben. Der Intention-to-treat-Ansatz wurde gewahrt. Primärer und sekundärer Endpunkt wurden definiert. Die Beschreibung von Nebenwirkungen ist sehr detailliert. Angaben über Interessenkonflikte finden sich ebenfalls.
Etwas ungenau beschrieben sind die Methoden der Randomisierung und der Verblindung. Ähnlichkeit der Gruppen bestand zu Beginn mit Ausnahme von niedrigeren Scores in der Children’s Global Assessment Scale (CGAS) und höheren Werten auf der Negativsubskala der Positive an Negative Symptom Scale (PANSS) in der Interventionsgruppe. Ob die Behandlung der Gruppen außer der Intervention der Studie gleich war, ist aus den Angaben in der Publikation nicht genau ersichtlich. Bezüglich des Follow-ups konnte das ursprüngliche Ziel von 52 Wochen nur bei einer kleinen Anzahl der Probanden erreicht werden, diese Limitation wurde in der Studie gut beschrieben.
Die interne Validität ist ein Maß dafür, inwieweit in Untersuchungen das gemessen wird, was gemessen werden soll, und die Ergebnisse nicht durch Bias verzerrt sind. Sie bewertet die Aussagekraft und Glaubhaftigkeit von Studienergebnissen.
Relevanz
Es geht weiter mit der Beurteilung der Relevanz. Doch was ist mit Relevanz gemeint? Dabei geht es darum, ob die Studienergebnisse tatsächlich wichtig sind für unseren Patienten. Beispielsweise ist eine bei einer Adipositas die Gewichtsreduktion nach einer Therapie um 2 kg statistisch signifikant, aber spielt das bei einem Patienten mit einem Körpergewicht von 150 kg tatsächlich eine relevante Rolle?
Die wohl wichtigste Kenngröße zur Beurteilung der Relevanz ist die Number needed to treat (NNT), die eine Kenngröße für den Behandlungserfolg darstellt und die Anzahl der Patienten, die man mit der experimentellen Therapie behandeln muss, um einen zusätzlichen Erfolg zu erzielen, meint. Das bedeutet je kleiner die NNT, umso besser.
Weitere Kenngrößen und deren Berechnung sind Tab. 3 dargestellt. Grundlage für die Berechnung bildet die Vierfeldertafel (Tab. 2).
Tab. 2
Vierfeldertafel
Patientengruppen
Therapieversager
Summen
Ja
Nein
Experimentelle Behandlung
a
b
a + b = g (alle Patienten mit experimenteller Behandlung)
Kontrollgruppe
c
d
c + d = h (alle Patienten der Kontrollgruppe)
Gesamt
a + b = e („Therapieversager“)
b + d = f („Therapieerfolge“)
I (alle Patienten)
Tab. 3
Berechnung wichtiger Kenngrößen (alle Werte bis auf NNT in [%])
Kenngröße
 
Definition
CER (control event rate)
Event-Zahl Populationsgröße (der Kontroll-Gruppe) = c/h
Anteil der Teilnehmer in der experimentellen Gruppe einer klinischen Studie, die in einem definierten Zeitraum ein Ereignis oder einen Endpunkt erleiden
EER (experimental event rate)
Event-Zahl Populationsgröße (der Versuchs-Gruppe) = a/g
Anteil der Teilnehmer in der Kontrollgruppe einer klinischen Studie, die in einem definierten Zeitraum ein Ereignis oder einen Endpunkt erleiden
ARR (absolute risk reduction)
CER-EER Effektmaß für dichotome Endpunkte
Die absolute Risikoreduktion beschreibt die absolute Differenz der Rate an ungünstigen Ereignissen in der experimentellen Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe, wenn die experimentelle Behandlung wirksam ist
RRR (relative risk reduction)
CER-EER/CER
Die relative Senkung der Rate an ungünstigen Ereignissen in der experimentellen Gruppe einer Studie im Vergleich zur Kontrollgruppe
NNT (number needed to treat)
1/ARR
Gibt die Anzahl von Patienten wieder, die behandelt werden müssen, um 1 zusätzliches ungünstiges Ereignis zu verhindern
Übertragbarkeit (externe Validität)
Zu guter Letzt ist natürlich die Frage zu beantworten, ob aus der wissenschaftlichen Arbeit die Übertragbarkeit auf den klinischen Fall gegeben ist.
Die externe Validität bezeichnet die Generalisierbarkeit oder Übertragbarkeit der Untersuchungsergebnisse und hängt damit von der Fragestellung, den Ein- und Ausschlusskriterien und dem Setting der Studie ab. Die externe Validität beurteilt demnach, ob die in der Studie gezeigten Ergebnisse auch unter anderen Rahmenbedingungen, Zeitpunkten und/oder bei Personen außerhalb der Studienpopulation gelten, z. B. für meinen Patienten. Dies ist der Fall, wenn die Studienteilnehmer repräsentativ für meine Zielpopulation/meinen Patienten sind. Einen wichtigen Hinweis hierfür kann folgende Frage bieten: Würde mein Patient die Ein- und Ausschlusskriterien der Studie erfüllen?
Wichtig ist, dass die interne Validität eine Voraussetzung für die externe Validität darstellt. Wenn die Ergebnisse einer Studie aufgrund von Bias verzerrt und somit nicht aussagekräftig und glaubhaft sind, dann ist die externe Validität der Ergebnisse nie gegeben.
Der Patient aus unserem Fallbeispiel ist grundsätzlich den Studienpatienten ähnlich, was das Alter und die Symptomatik betrifft. Allerdings handelte es sich bei unserem Jugendlichen um die erste Episode im Vergleich zur Studienpopulation, die bereits vorbehandelt war.
Die externe Validität ist ein Maß für die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf die eigenen Patienten.
Berücksichtigung von Patientenwünschen in der EbM
EbM berücksichtigt neben wissenschaftliche Evidenz immer auch die eigene klinische Expertise und die individuellen Wünsche von Patienten.
Es sollte also immer überlegt werden, ob die Therapieform und das Therapieziel den Vorstellungen des Patienten entsprechen. In dem geschilderten Fall war der Patient zwar kritisch gegenüber der Medikation mit Aripiprazol, er konnte jedoch nach entsprechender Aufklärung, insbesondere durch die Darstellung des Nutzens und des Risikos der Behandlung mit Aripiprazol zur weiteren Einnahme motiviert werden. Mithilfe der zitierten Studie konnte ihm das Risiko eines Rückfalles (HR 0.46 [95 % CI = 0.24−0.88, p =.016]) mit und ohne Medikation gut erklärt werden, sodass für ihn auch das Therapieziel der Symptomfreiheit und der Verhinderung eines Rückfalles überwog und er in die weitere Behandlung einwilligte. In der klinischen Nachbeobachtung blieb die Remission für 12 Monate stabil, woraufhin die Medikation langsam ausgeschlichen wurde.

Relevanz von Patientenaufklärung für EbM

In der Fortführung der Anwendung der EbM kann auch die Patientenaufklärung verbessert werden, wenn evidenzbasierte Informationen genutzt werden. Da in der Definition nach David Sackett explizit die Anwendung auf das Individuum betont wird, ist die Umsetzung einer EbM ohne eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung („shared decision-making“) nicht denkbar. Dabei spielen gute Patienteninformationen, auch in schriftlicher Form, eine zentrale Rolle bei der Beteiligung der Patienten bzw. seiner Sorgeberechtigten an der Entscheidung über ihre Behandlung. Einem Patienten bzw. bei Minderjährigen den Sorgeberechtigten wird z. B. durch das Aufzeigen von wissenschaftlich begründeten Wahrscheinlichkeiten der Erfolgsaussichten und der Risiken, besser möglich, sich bewusst für oder gegen eine Therapie gemäß eigener Wünsche zu entscheiden. Wenn Patienteninformationen von guter Qualität sind und alle Aspekte eines Behandlungsverfahrens berücksichtigen, stellen sie ein wichtiges Hilfsmittel in der Wahl des besten Verfahrens für jeden Einzelnen dar. So konnte in einer Arbeit von Siegmund-Schultze zu Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen gezeigt werden, dass durch die EbM die Rate informierter Entscheidungen steigt (Siegmund-Schultze 2011). Selbst wenn wenige Wahlmöglichkeiten vorhanden sind, unterstützen gute Patienteninformationen die Behandlungsmaßnahme zu verstehen und einzuschätzen, was von dieser zu erwarten ist.
Doch was sind qualitativ gute Patienteninformationen? Evidenzbasiert sind sie, wenn sie auf den zum Zeitpunkt der Erstellung vorhandenen besten und aussagekräftigsten Daten zu den untersuchten Themen durch die systematische Auswahl, kritische Durchsicht und Bewertung von Literatur basieren.
Doch leider ist dies nicht immer der Fall. Mittlerweile sind eine Fülle von Informationen zu sämtlichen Erkrankungen und Behandlungsmethoden, insbesondere durch das Internet, sehr leicht verfügbar. Diese enthalten teilweise ungenaue oder sogar verwirrende Empfehlungen und es bleibt unklar, welche Informationen genutzt werden sollen. Dabei schreibt in Deutschland das Patientenrechtegesetz ausdrücklich vor, dass die Aufklärung für Patienten verständlich sein muss (Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten 2013). In Deutschland wurde im Jahr 2017 zudem die Leitlinie „Evidenzbasierte Gesundheitsinformation“ veröffentlicht, um langfristig die Versorgung mit qualitativ hochwertiger Gesundheitsinformation sicherzustellen und damit informierte Entscheidungen zu befördern. Hierfür besteht sowohl ein rechtlicher (Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten 2013) als auch ein ethischer Anspruch (General Medical Council; Mühlhauser und Meyer 2016).
Zur Einschätzung der Qualität von Patienteninformationen, wurden Kriterien und diverse Kennzeichnungen (Zertifikat, Siegel) erarbeitet. Für die Bewertung von Patienteninformationen stehen inzwischen standardisierte Instrumente zur Verfügung, wie z. B. DISCERN (http://www.discern.de). Dabei handelt es sich um einen 15 Fragen umfassenden Katalog, der sich auf die Zuverlässigkeit einer Information und die Qualität der Darstellung von Behandlungsalternativen bezieht. Nach DISCERN sind Merkmale einer guten Patienteninformation eine klare Formulierung von Zielen und Zielgruppen, Angaben von Literaturquellen und weiteren Hilfsangeboten, Angaben zu den Autoren, Angaben zur Aktualität, Ausgewogenheit und Unabhängigkeit, Beschreibung von Unsicherheiten, Darstellung aller möglichen Behandlungsoptionen, Erklärung der Behandlung einschließlich Nutzen und Nebenwirkungen, Erklärung des natürlichen Krankheitsverlaufs und Verständlichkeit.
Leider existieren solche Standards noch nicht speziell für den Kinder- und Jugendbereich. Vor dem Hintergrund der dargestellten Relevanz von verständlichen Patienteninformationen sollten sich Ärzte jedoch unbedingt ausreichend Zeit für die Aufklärung ihrer jungen Patienten nehmen.

Systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen

Eine gute Möglichkeit, sich einen Überblick über Literatur zu einem Thema zu verschaffen, bieten systematische Übersichtsarbeiten (Synonym: systematisches Review). Eine systematische Übersichtsarbeit sucht mit vorher definierten Suchbegriffen und Kriterien systematisch Literatur zu einer klar formulierten Fragestellung, bewertet diese und fasst sie qualitativ zusammen.
Eine Meta-Analyse ist eine systematische Übersichtsarbeit, die zusätzlich die Ergebnisse quantitativ zusammenfasst und hieraus mathematisch den Effekt der Intervention schätzt.
Systematische Übersichtsarbeiten haben einen hohen Evidenzgrad (Stufe 1a) und sind von großer Wichtigkeit für EbM. Sie können zudem die zeitaufwendige Suche nach Primärstudien zu klinischen Fragestellungen ersparen.
Die Cochrane Collaboration ist ein internationales Netzwerk, das sich auf die Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten spezialisiert hat. Diese sind in der „Cochrane Library“ zu finden: http://www.cochrane.de/de/cochrane-library

Kritik an EbM

Kritiker der EbM betonen den Unterschied zwischen Forschung und klinischer Praxis. Sie führen an, dass Studienpatienten häufig weniger stark krank sind oder weniger Komorbiditäten haben als Patienten in der alltäglichen klinischen Praxis. Auch weisen sie darauf hin, dass in Studien gefundene statistisch signifikante Unterschiede gerade in psychiatrischen Fächern nicht immer auch klinisch relevant sind (Kazdin 2008). Diese Kritikpunkte sind nicht immer von der Hand zu weisen. Gerade deshalb ist es aber wichtig, als Arzt Kenntnisse in der Bewertung klinischer Studien zu haben. Er wäre jedoch wünschenswert, wenn zukünftig mehr schwer erkrankte und komorbide Patienten auch aus dem stationären Setting in klinischen Studien berücksichtigt würden.

Einführung Leitlinien

Leitlinien (engl. clinical practice guidelines) sind „systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten, die eine dem Einzelfall angemessene gesundheitliche Versorgung ermöglichen sollen“ (AWMF 2012). Leitlinien beruhen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren, berücksichtigen aber mitunter auch gesundheitsökonomische Aspekte. Von anderen evidenzbasierten Übersichtsarbeiten (z. B. systematischen Reviews oder Health Technology Assessments) unterscheiden sie sich dadurch, dass sie klare Handlungsempfehlungen formulieren, in die auch eine klinische Wertung und Anwendbarkeit von Studien eingeht (AWMF 2012).
Das Hauptziel medizinischer Leitlinien ist es, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen sie die schnellere Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis gewährleisten („getting evidence into practice“).
Auf Basis von EbM sollen Leitlinien konkrete Handlungsempfehlungen für den Versorgungsablauf bereitstellen. Sie sind für Ärzte aber rechtlich nicht bindend, haben also weder eine haftungsbegründende noch eine haftungsbefreiende Wirkung (AWMF).
Leitlinien stellen Orientierungshilfen dar, von denen in begründeten Einzelfällen abgewichen werden kann und soll. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) formuliert dies in ihrem Regelwerk so: „Leitlinien sind als ‚Handlungs- und Entscheidungskorridore‘ zu verstehen, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Die Anwendbarkeit einer Leitlinie oder einzelner Leitlinienempfehlungen muss in der individuellen Situation geprüft werden nach dem Prinzip der Indikationsstellung, Beratung, Präferenzermittlung und partizipativen Entscheidungsfindung“ (AWMF 2012).
Leitlinien sind eine Orientierungshilfe für die Versorgung von Patienten. Leitlinien sind rechtlich aber nicht bindend. In begründeten Fällen kann und soll von ihnen abgewichen werden.

Historie der Leitlinienentwicklung

Leitlinien haben in der Medizin eine lange Tradition. Während sie früher vor allem auf Expertenmeinungen (Konsens) basierten, erfolgte während der letzten 20 Jahre ein Wandel hin zu der systematischen Entwicklung von Leitlinien, die auf wissenschaftlicher Evidenz basieren.
Die immer schnellere Gewinnung von neuen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, führt dazu, dass traditionelle ärztliche Aus- und Fortbildung nicht mehr ausreichen, um die Patientenversorgung nach neuster wissenschaftlicher Kenntnis flächendeckend sicherzustellen. Auch die Veränderung der Patientenrolle hin zu einem selbstbestimmten, informierten Nutzer von Gesundheitsleistungen und die Forderung von Kostenträgern und Politikern, medizinische Entscheidungen nachvollziehbar zu begründen, trieben die Entwicklung weg von Expertenmeinungen und hin zu evidenzbasierten Leitlinien voran. Leitlinien richten sich demnach nicht nur an Ärztinnen und Ärzte und weitere Leistungserbringer im Gesundheitssystem, sondern auch an Kostenträger, an die Politik und an Patienten.
Damit die verschiedenen Sichtweisen beteiligter Akteure Berücksichtigung finden, sind Leitlinien im Idealfall nicht nur evidenz- sondern auch konsensbasiert. Der wissenschaftliche Konsens wird hierbei in einem transparenten, standardisierten Verfahren erfasst und ist zentral für die spätere Akzeptanz und Nutzung der Leitlinie (Schwartz et al. 2012).

Leitlinienerstellung

Die Anforderungen an Leitlinien sind hoch. Für Deutschland sind die Qualitätsanforderungen im Deutschen Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI) zusammengefasst (http://www.delbi.de). Folgende Kernaspekte sind zentral:
  • Repräsentativität des Leitliniengruppe,
  • Evidenzbasierung,
  • strukturierte Konsensfindung.
Die Erstellung von Leitlinien erfolgt in Deutschland in der Regel durch die Medizinischen Fachgesellschaften bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), auf deren Homepage alle Leitlinien eingesehen werden können: http://www.awmf.org.
Da in Deutschland noch nicht alle Leitlinien den hohen Anforderungen der Leitlinienentwicklung entsprechen, werden sie von der AWMF in verschiedene Stufen eingeteilt (Tab. 4).
Tab. 4
Leitlinien-Stufen und deren Bedeutung
S3
Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie
Repräsentatives Gremium, systematische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur, strukturierte Konsensfindung
S2e
Evidenzbasierte Leitlinie
Systematische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur
S2k
Konsensbasierte Leitlinie
Repräsentatives Gremium, strukturierte Konsensfindung
S1
Handlungsempfehlungen von Expertengruppen
Konsensfindung in einem informellen Verfahren
Liegt eine Evidenzbasierung für die jeweilige Handlungsempfehlung vor, wird diese gemäß der Evidenzgrade der zugrunde liegenden Studien (Abschn. 1) in Empfehlungsgrade eingeteilt:
  • A – starke Empfehlung („soll“),
  • B – Empfehlung („sollte“),
  • 0 – Empfehlung offen („kann erwogen werden“).
Details zur Methodik und Entstehung der Leitlinie finden sich im jeweiligen Leilinienreport, auf der Homepage http://www.awmf.org.
Um die Verwaltung von Leitlinien zu verhindert, liegt die Gültigkeitsdauer von Leitlinien bei maximal 5 Jahren. Dann muss eine Aktualisierung durch die Fachgesellschaft erfolgen.

Leitlinien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Leitlinien zu primär kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitsbildern entstehen unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Ein Beispiel hierfür ist die Leitlinie „Störungen des Sozialverhaltens: Empfehlungen zur Versorgung und Behandlung“. Leitlinien betreffen jedoch häufig Anwender und Patienten aus verschiedenen Disziplinen. Neben der federführenden Gesellschaft sind in der Leitliniengruppe meist noch Vertreter anderer Fachgesellschaften und zudem weitere Vertreter der Anwenderzielgruppe (Berufsgruppen, die die Leitlinien nutzen sollen) und der Patienten vertreten. So waren an der Erstellung der Leitlinie „Störungen des Sozialverhaltens“ neben der DGKJP zudem u. a. die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) mit Herausgeber, zudem waren noch 12 weitere Fachgesellschaften und Verbände, wie z. B. die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGP), in der Leitliniengruppe vertreten. Die Beteiligung aller Interessengruppen ist hierbei von großer Wichtigkeit für die spätere Akzeptanz der Leitlinie in der Praxis.
Ein Beispiel für Multidisziplinarität bei der Leitlinienerstellung ist die Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“, bei der sich die DGKJP und die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM) die Federführung teilen. Die Leitlinie enthält zwar speziell kinder- und jugendpsychiatrische Teile, geht aber über den Altersbereich von Kindern und Jugendlichen hinaus und adressiert auch erwachsene Patienten (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html).
Alle Leitlinien, an deren Erstellung die Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) beteiligt ist, finden sich unter: http://www.awmf.org/leitlinien/aktuelle-leitlinien/ll-liste/deutsche-gesellschaft-fuer-kinder-und-jugendpsychiatrie-psychosomatik-und-psychotherapie.html.

Kritische Anmerkungen zur Leitlinienerstellung in Deutschland

Aufgrund der hohen methodischen Anforderungen ist die Leitlinienerstellung sehr ressourcenaufwendig. Da in Deutschland im Normalfall die medizinischen Fachgesellschaften die Kosten alleine tragen, bedeutet dies für die betreffenden Mitglieder der Fachgesellschaften und deren Teams ein hohes Maß an Engagement und Arbeit über die sonstige Tätigkeit hinaus. Dies kann zu Verzögerungen oder gar Verhinderung von Leitlinien führen.
Kritiker nennen als positives internationales Gegenbeispiel z. B. England, wo die Leitlinien durch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) erstellt werden. Die Leitlinienerstellung erfolgt dort streng evidenzbasiert und richtet sich nach Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Die vom NICE erstellten Leitlinien umfassen nicht nur die klinischen Themen, sondern auch multiple Public-Health-Bereiche. Die Finanzierung erfolgt durch öffentliche Mittel, somit stehen ausreichend Mittel für die Umsetzung der hohen methodischen Ansprüche von Leitlinien zur Verfügung. Diese unabhängige, öffentliche Finanzierung und Erstellung von Leitlinien fördert zudem die Unabhängigkeit von Leitlinien und den darin enthaltenden Empfehlungen.
Das deutsche Pendant des NICE ist das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Es erstellt fachlich unabhängige, evidenzbasierte Gutachten zu Arzneimitteln und medizinischen Interventionen, die bisher jedoch zumeist unabhängig von Leitlinien entstanden. Eine methodische und finanzielle Unterstützung nach dem britischen Vorbild könnte auch in Deutschland die Qualität von Leitlinien sichern und die Fachgesellschaften entlasten. So erkennen Kritiker zwar zumeist die transparente Offenlegung von Interessenkonflikten in deutschen Leitlinien an, kritisieren aber, dass hieraus häufig keine Konsequenzen, wie z. B. die Enthaltung bei Abstimmungen, gezogen werden (Schott und Lempert 2018). Dennoch werden in Deutschland weiterhin die Leitlinien zumeist alleine durch die medizinischen Fachgesellschaften finanziert und erstellt.
Ein Aspekt, der in deutschen Leitlinien zudem häufig wenig Berücksichtigung findet, ist, dass sich Leitlinien auch an Patientinnen und Patienten richten sollen. Die American Academy of Child and Adolescent Psychiatry stellt Informationen zu kinder- und jugendpsychiatrischen Themen für betroffene Familien zur Verfügung („Facts for Families“, abrufbar unter: https://www.aacap.org/aacap/families_and_youth/facts_for_families/home.aspx).
Ein genereller Kritikpunkt an Leitlinien ist, dass die Studien, auf denen sie basieren, zumeist an relativ leicht erkrankten Patienten durchgeführt wurden. Zudem adressieren sie zumeist den „Normalfall“. Ihre Aussagekraft zu schwer erkrankten oder komorbiden Patienten im stationären Setting ist daher häufig eingeschränkt (Kazdin 2008). Auch deswegen ist es unerlässlich, eigene ärztliche Urteilskraft zu nutzen und zu hinterfragen, ob eine Leitlinie das beste Vorgehen für den eigenen Patienten abbildet.

Beispiel Kinderschutzleitlinie

Ein positives, jedoch leider atypisches Beispiel der Leitlinienerstellung stellt die im Jahr 2019 veröffentlichte AWMF S3(+) Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung“ („Kinderschutzleitlinie“) dar. Ihre Entstehung basiert auf einer Empfehlung des Runden Tisches der Bundeskanzlerin zum sexuellen Missbrauch aus dem Jahr 2011. Sie entstand also nicht wie sonst üblich auf Initiative der medizinischen Fachgesellschaften selbst. Die Finanzierung erfolgte durch das Bundesministerium für Gesundheit. Diese öffentliche Finanzierung erlaubte einen viel höheren Ressourceneinsatz als sonst üblich – so waren unter der Federführung durch die Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) insgesamt 82 Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt. Die öffentliche Förderung erleichterte zudem die Umsetzung der hohen Standards einer S3-Leitline trotz vieler Beteiligter und die Einbeziehung von Patientinnen und Patienten, so existiert z. B. eine Kinder- und Jugendversion der Leitlinie (http://www.kinderschutzleitlinie.de).

Fazit

Zusammenfassend ist EbM zentral für die gewissenhafte Behandlung unserer Patienten. Dabei ersetzt EbM keinesfalls die eigene ärztliche Kompetenz. Vielmehr meint EbM das Treffen der bestmöglichen Entscheidung für den Patienten unter Berücksichtigung der eigenen klinischen Erfahrung, der Ansprüche und Präferenzen des eigenen Patienten und dem aktuellen Stand der Forschung.
Leitlinien bieten praxisnahe Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie vieler Krankheitsbilder. Die Berücksichtigung der individuellen Situation von Patienten und ihre persönlichen Präferenzen können sie jedoch nicht gewährleisten. Leitlinien sind somit eine wichtige Orientierungshilfe, können die eigene ärztliche Entscheidung im individuellen Fall aber niemals ersetzen.
Literatur
Literatur zum Weiterlesen
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). http://​www.​awmf.​org/​leitlinien. Zugegriffen am 12.07.2023
Deutsche Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI). http://​www.​delbi.​de. Zugegriffen am 12.07.2023
Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. http://​www.​ebm-netzwerk.​de. Zugegriffen am 12.07.2023
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„Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen“, Dtsch Arztebl Int 2009, Ressing M, Blettner M, Klug S.J.
„Von Leitlinien zur Qualitätssicherung“, Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2011, Kopp I.B.
„Von Sinn und Grenzen von Leitlinien –Werkstattbetrachtungen“, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2018, Schepker R
Literaturverzeichnis
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