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Erschienen in: Die Nephrologie 3/2023

Open Access 21.03.2023 | Leitthema

Genetische Diagnostik bei Nierenerkrankungen im Erwachsenenalter

verfasst von: Dr. med. Ulla T. Schultheiss, PD Dr. med. Tobias Hermle

Erschienen in: Die Nephrologie | Ausgabe 3/2023

Zusammenfassung

Erkrankungen der Niere sind häufig genetisch bedingt, und über 600 beteiligte Gene wurden bereits identifiziert. Bei ungefähr 10 % der chronischen Nierenkrankheiten unklarer Genese lässt sich eine monogen vermittelte Ursache ermitteln. Dabei stellt eine DNA-Veränderung in einem einzigen Gen die molekulare Ursache der Erkrankung dar. Vielfach bleibt die genetische Diagnose derzeit noch unerkannt. Für die klinische Betreuung der Betroffenen hat eine genetische Diagnosestellung entscheidende Vorteile, da sich zum einen für eine Reihe von Diagnosen zusätzliche Therapieoptionen eröffnen und zum anderen auch auf belastende diagnostische und (bei genetischer Ursache erfolglose) therapeutische Maßnahmen verzichtet werden kann. Zusätzlich kann der genetische Befund im Rahmen einer reversen Phänotypisierung frühzeitig Hinweise auf die mögliche Beteiligung weiterer Organsysteme liefern. Dies ermöglicht entsprechende Vorsorgeuntersuchungen und die rechtzeitige Einbeziehung weiterer Fachgebiete. Nicht zuletzt erlaubt eine genetische Beratung auch für weitere Familienmitglieder eine Risikoeinschätzung, auch bei Kinderwunsch, sowie eine maßgeschneiderte Therapie und Prävention. Vor diesem Hintergrund ist eine breitere Implementierung genetischer Diagnostik in die klinische Praxis der Nephrologie sinnvoll. Das praktische Vorgehen bezüglich der Indikationsstellung zur Diagnostik und anschließend die Beurteilung der genetischen Befunde mit Übersetzung in ein personalisiertes Management sind Herausforderungen, welche eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Nephrologie und Humangenetik erfordern. Zur optimalen Betreuung der Betroffenen wird darüber hinaus in Anbetracht des rasch expandierenden Wissens der Bedarf nach einer Subspezialisierung Nephrogenetik innerhalb des Fachgebiets deutlich.
Hinweise

Redaktion

Danilo Fliser, Homburg/Saar
Gert Mayer, Innsbruck
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Die Niere ist ein komplexes und hoch spezialisiertes Organ mit differenzierten Zelltypen, welche eine Vielzahl an Genen in besonderem Umfang oder in einem eigenständigen funktionellen Kontext exprimieren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass mehr als 600 Gene beschrieben wurden, in welchen DNA-Veränderungen zu einer Beeinträchtigung des funktionellen Spektrums der Niere führen können. Der vorliegende Artikel zielt darauf ab, grundlegende Erwägungen im Rahmen der genetischen Diagnostik bei Nierenerkrankungen im Erwachsenenalter zusammenzufassen.

Kurzübersicht zu genetischen Nierenerkrankungen

DNA-Varianten in Genen, die eine Rolle bei der Nierenentwicklung spielen, können eine fehlerhafte Ausbildung der Niere und der ableitenden Harnwege zur Folge haben. Angeborene Fehlbildungen sind die häufigste Ursache einer chronischen Nierenerkrankung („chronic kidney disease“, CKD) mit Auftreten vor dem 25. Lebensjahr, gefolgt vom steroidrefraktären nephrotischen Syndrom [25]. Große Kohortenstudien bei CKD zeigten in den letzten Jahren, dass auch bei Erwachsenen in rund 6–30 % der Fälle eine genetische Ursache der bislang undefinierten CKD zugrunde liegt [4, 7, 9]. Eine exakte Bestimmung des Gesamtanteils mit genetischer Diagnose bei CKD ist derzeit aufgrund der Heterogenität der einzelnen Kohorten und Vorgehensweisen noch schwierig. Dennoch signalisieren große, kaum vorselektionierte Kohorten eine Größenordnung von wahrscheinlich rund 10 % [2, 7]. Eine große erbliche Komponente wird zusätzlich durch Registerstudien untermauert [21]. Eine wichtige Erkenntnis ist weiterhin, dass Varianten in den Typ-4-Kollagenen der glomerulären Basalmembran wahrscheinlich in ähnlichem Umfang eine CKD verursachen wie die autosomal-dominante polyzystischen Nierenerkrankung (ADPKD; [7]). Dabei reicht das klinische Spektrum weit über das klassische Alport-Syndrom hinaus. Gemeinsam mit den Varianten in den ADPKD-Genen machen die Kollagenvarianten wahrscheinlich rund 60 % der Fälle aus [7]. Die verbleibenden rund 40 % sind einer Vielzahl an selteneren Genen zugeordnet. Neben der CKD können krankheitsauslösende DNA-Varianten dabei ein breites Spektrum an klinischer Symptomatik auslösen (Abb. 1). Ein Großteil der Krankheitsmanifestationen in der Nephrologie kann letztlich genetisch bedingt sein. Daher sollte die zumindest grundsätzliche Erwägung einer hereditären Genese fester Bestandteil des diagnostischen Algorithmus in der Nephrologie sein. Andererseits ist eine unkritisch eingesetzte Diagnostik jedoch nicht zielführend. Schließlich bringt die Übersetzung genetischer Befunde in das individuelle Management weitere Herausforderungen mit sich.

Vorteile und Risiken genetischer Diagnostik

Jede genetische Untersuchung birgt Risiken, über die aufgeklärt werden muss [11]. Bei Betroffenen kann ein positives Testergebnis zu Stress, Angst oder Schuldgefühlen bezüglich der Weitervererbung an Kinder führen oder auch negativen Einfluss auf einen Kinderwunsch haben [3]. Unabhängig davon, ob Betroffene oder Gesunde getestet werden, kann ein genetisches Testergebnis immer zu Spannungen in Familien führen, da das Vorliegen einer genetischen Erkrankung in vielen Fällen abhängig vom Erbgang auch Implikationen für weitere Familienmitglieder hat [14, 18]. Die potenzielle Ausweitung von Symptomen auf andere Organe kann zu psychischen Belastungen führen. Durch einen Datenunfall könnten zudem Dritte unberechtigt von DNA-Veränderungen Kenntnis erlangen, was zu Diskriminierung oder wirtschaftlichen Nachteilen für die Betroffenen führen könnte. Denkbar ist z. B. Diskriminierung in Bezug auf Versicherungsverhältnisse und Kreditwürdigkeit oder bei Arbeitsverhältnissen [11]. Dies trifft jedoch für fast jede medizinisch relevante Information zu. Bei breiterer Diagnostik wie der Exomsequenzierung besteht darüber hinaus eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1 % für genetische Nebenbefunde [24]. Nebenbefunde sind Veränderungen, die nicht mit der zu untersuchenden Krankheit zusammenhängen, sich aber auf zukünftige Gesundheitsrisiken beziehen. Ein Beispiel wären Veränderungen in Genen, die assoziiert sind mit Tumorprädispositionssyndromen. Über die Möglichkeit von Nebenbefunden muss vorab aufgeklärt werden, und die Befundmitteilung darf nur auf Wunsch erfolgen. Weiterhin sollten nur medizinisch relevante Nebenbefunde, welche z. B. eine Prävention ermöglichen, mitgeteilt werden [16]. Bei Nebenbefunden besteht ein besonderes Risiko einer psychischen Belastung, weshalb hier präventiv eine genetische Beratung nötig wird. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Diagnostik keine relevanten physischen Risiken und nur begrenzte und teilweise vermeidbare psychische Risiken mit sich bringt.
Die Vorteile der Diagnostik überwiegen die Nachteile
Die Vorteile der Diagnostik wiegen schwerer. Eine eindeutige molekulare Diagnose beendet oftmals eine diagnostische Odyssee und wird von den Betroffenen als Erleichterung wahrgenommen. Ein genetischer Befund ist häufig die Voraussetzung für ein optimales Behandlungsergebnis, da nun eine maßgeschneiderte Therapiestrategie, Prävention, Prognose sowie Unterstützung bei der Familienplanung möglich werden. Darüber hinaus sind spezifische Therapiemöglichkeiten für einige genetische Erkrankungen verfügbar. Dazu gehört beispielsweise Tolvaptan bei ADPKD oder Enzymtherapie bei Morbus Fabry bzw. Substitution von Coenzym-Q10 bei Biosynthesedefekten. Dadurch kann das Fortschreiten der CKD verlangsamt oder sogar gestoppt werden. V. a. bei der fokal-segmentalen Glomerulosklerose (FSGS) spielt auch ein Verzicht auf belastende Immunsuppressiva eine große Rolle. So kann stattdessen bei einer durch Varianten in den glomerulären Typ-IV-Kollagenen bedingten FSGS durch eine frühzeitige und intensive Blockade des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) ein deutlicher Vorteil für die Patienten erzielt werden [8]. Ein weiterer Vorteil genetischer Diagnostik ist die Möglichkeit einer reversen Phänotypisierung, d. h. die gezielte Suche nach für das betroffene Gen typischer Komorbidität. Durch den genetischen Befund können frühzeitig weitere Fachgebiete einbezogen werden. Selbst nach Eintreten einer Terminalisierung der CKD können durch eine genetische Diagnose das Risiko einer Rekurrenz der Grunderkrankung nach einer Nierentransplantation besser eingeschätzt und potenzielle Spender in der Familie evaluiert werden. In einer Untersuchung nephrologischer Patienten ergab sich durch die genetische Diagnose bei 54 % eine relevante Anpassung der Therapie, bei 66 % wurde ein weiteres Fachgebiet für die Behandlung von Komorbiditäten hinzugezogen, und die Einschätzung der Prognose änderte sich in 71 % aller Fälle [17]. Diese Diagnostik, die normalerweise nur einmal im Leben bei den Betroffenen nötig wird, hat folglich umfangreichen Einfluss auf das klinische Management. In manchen klinischen Konstellationen kann eine genetische Abklärung auch eine invasive Abklärung durch eine Nierenbiopsie überflüssig machen. Insgesamt eröffnet die genetische Diagnostik somit für die Betroffenen in fundamentaler Weise den Zugang zu personalisiertem Management, und die Vorteile überwiegen die Risiken.

Indikationsstellung und Verfahren

In Anbetracht der Häufigkeit und Vielgestaltigkeit genetischer Nierenerkrankungen sollte als erster und wichtigster Schritt überhaupt an eine genetische Diagnostik gedacht werden. Dies gilt insbesondere bei einer unklaren Nierenerkrankung, jüngerem Erkrankungsalter, positiver Familienanamnese oder aber auch bei extrarenalen Symptomen (Abb. 2). Dies sind jedoch alles nur Hinweise, welche die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer genetischen Ursache erhöhen. Auch ohne ganz konkrete Verdachtsmomente kann die Überprüfung einer genetischen Ursache bei einer unklaren Konstellation sinnvoll sein. Eine präzise Familienanamnese ist essenziell und kann einen Hinweis auf den Erbgang geben. Ein wichtiger Teil der Anamnese ist weiterhin die Frage nach elterlicher Blutsverwandtschaft, da diese rezessiv vererbte Störungen begünstigt.
Die Testung Betroffener kann jeder Facharzt initiieren
Bei der genetischen Diagnostik kann man generell die Testung Betroffener (diagnostische Testung) von der Testung Gesunder (prädiktive Testung), die unter dem Risiko einer zukünftigen Erkrankung stehen, unterscheiden. Eine diagnostische Testung kann von jedem Facharzt in die Wege geleitet werden. Nur die prädiktive Untersuchung gesunder Probanden bleibt der Humangenetik vorbehalten [11]. Die Diagnostik selbst kann erst nach Aufklärung und schriftlicher Einwilligung veranlasst werden. Nach Ausfüllen des jeweiligen Anforderungsformulars reichen 5 ml EDTA(Ethylendiamintetraacetat)-Blut zusammen mit einem Überweisungsschein (Ü10) aus, um die molekulargenetische Diagnostik zu initiieren. Bei unklarem renalen Phänotyp ist die telefonische Rücksprache mit den humangenetischen Fachpraxen hilfreich bei der Entscheidung, welche Untersuchungsmethode sinnvoll ist. Generell ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend und erwünscht (Abb. 3). Wichtig ist, dass die molekulargenetische Diagnostik das Praxisbudget nicht belastet, den Wirtschaftlichkeitsbonus nicht berührt und unabhängig von der Größe der zu untersuchenden genetischen Bereiche in Auftrag gegeben werden kann und von den Kassen übernommen wird.
Ist die Klinik eines Patienten sehr eindeutig, kann eine gezielte Einzelgen-Untersuchung mittels Sanger-Sequenzierung erfolgen (Abb. 4). In der Routinediagnostik wird die Sanger-Sequenzierung jedoch zumeist nur bei bekannter familiärer Variante eingesetzt. Sequenzierungsverfahren der nächsten Generation (Next Generation Sequencing, NGS) ermöglichen eine Sequenzierung mit sehr hohem Durchsatz, z. B. für die gezielte Sequenzierung sogenannter Gen-Panels. Dabei wird eine Auswahl an Genen, die zur klinischen Präsentation passen, untersucht. Die Panels aller bekannten monogen bedingten Erkrankungen werden regelmäßig aktualisiert (z. B. unter https://​clinicalgenome.​org/​), sodass die diagnostische Aufklärungsrate genetischer Erkrankungen stetig steigt. Ein ausreichend breites Panel ist wichtig für Überlappungssyndrome und atypische Manifestationen. Problematisch können repetitive Sequenzen und Pseudogene in der NGS-basierten Sequenzierung sein, die gezielte Zusatzuntersuchungen erfordern. Die Exomsequenzierung („whole-exome sequencing“, WES) ermöglicht die Untersuchung aller kodierenden Abschnitte des Genoms. Von den etwa 3 Mrd. Basenpaaren der Erbinformation kodieren nur rund 30 Mio. unmittelbar für ein Protein [19]. Der Großteil dient u. a. regulatorischen Funktionen oder ist Teil von RNA-Genen. Obwohl proteinkodierende Abschnitte nur etwa 1 % des Genoms ausmachen, finden sich hier ungefähr 85 % der heute bekannten krankheitsauslösenden Varianten [19]. Es besteht mittlerweile auch die Möglichkeit, das komplette Genom zu untersuchen. Hierdurch können auch Veränderungen in den regulatorischen Bereichen des Genoms detektiert werden. Die Genomanalyse ist der Exomanalyse bei der Erkennung struktureller Veränderungen überlegen [12]. Jedoch sind sowohl die Datenmenge als auch die Kosten weit höher, sodass die Genomsequenzierung bislang noch wenig Teil der klinischen Praxis ist.

Befundinterpretation

Bei jedem Menschen finden sich zahlreiche Abweichungen vom Referenzgenom, die genetischen Varianten. Diese haben meist keinerlei Krankheitswert, müssen jedoch beurteilt werden. Das American College of Medical Genetics and Genomics (ACMG; [20]) hat hierfür, basierend auf 28 Kriterien, unterschiedliche Evidenzlevel mit Einteilung der Varianten in 5 Klassen definiert (Abb. 2). Zu den Kriterien gehört beispielsweise die Prüfung, ob eine Variante bereits bei einer erkrankten Person beschrieben wurde (z. B. ClinVar: https://​www.​ncbi.​nlm.​nih.​gov/​clinvar/​; Human Gene Mutation Database [HGMD®]: https://​www.​hgmd.​cf.​ac.​uk/​ac/​index.​php) oder sich bei Kontrollpersonen in öffentlich zugänglichen Datenbanken findet (z. B. The Single Nucleotide Polymorphism Database [dbSNP]: https://​www.​ncbi.​nlm.​nih.​gov/​snp/​, The Genome Aggregation Database [gnomAD]: https://​gnomad.​broadinstitute.​org/​). Zusätzlich gibt es Algorithmen, welche den Einfluss einer Veränderung auf die Proteinfunktion prognostizieren. Solche In-silico-Analysen machen jedoch keine definitiven Aussagen, da die Situation in vivo abweichen kann.
Genetische Varianten der Klassen 1 und 2 werden als benigne und wahrscheinlich benigne ohne Krankheitswert klassifiziert und können als Normvarianten angesehen werden. Am anderen Ende des Klassifikationsspektrums stehen die Varianten der Klassen 4 und 5 („wahrscheinlich pathogen“ und „pathogen“). Diese Varianten können als (wahrscheinliche) Ursache einer genetisch bedingten Nierenerkrankung betrachtet werden. Zwischen den pathogenen und den benignen Varianten stehen die Varianten unklarer Signifikanz (VUS; Klasse 3), die, basierend auf dem heutigen Wissensstand, weder in die eine noch in die andere Richtung klassifiziert werden können. Klasse-3-Varianten haben keine unmittelbare klinische Konsequenz. Zur Einschätzung einer VUS kann die Untersuchung weiterer Familienmitglieder hilfreich sein (Segregation mit dem Phänotyp). Betroffenen wird ansonsten die Wiedervorstellung zur Reklassifikation einer VUS nach 2 bis 3 Jahren in einer humangenetischen Praxis empfohlen, da durch neue Erkenntnisse eine genauere Einteilung möglich werden kann.

Perspektive

Genetische Untersuchungen stellen durch die molekulare Diagnostik in der Nephrologie eine zunehmend wichtige Bereicherung für die Patientenversorgung dar. Die Bedeutung finanzieller Limitationen für den Einsatz genetischer Diagnostik wird durch fallende Sequenzierungskosten weiter abnehmen, und es gibt selbst Hinweise für eine Kostenersparnis durch gezielte Diagnostik [1]. Die Bewertung der enorm wachsenden Zahl an DNA-Varianten unklarer Signifikanz (VUS) benötigt große Anstrengungen. Tiermodelle wie das Drosophila-Modell [10] oder verbesserte zelluläre Systeme wie Organoide [15] können hier hoffentlich einen rascheren Fortschritt in der wissenschaftlichen Funktionsanalyse bieten. Weitere klinische Forschungsbemühungen werden die Indikationsstellung über eine stärkere Evidenzbasis präzisieren. Derzeit konzentriert sich die Diagnostik nahezu ausschließlich auf die monogen vermittelten Erkrankungen, bei welchen die DNA-Veränderung eines einzigen proteinkodierenden Gens die molekulare Krankheitsursache darstellt. Das Spektrum genetisch bedingter Nierenerkrankungen umfasst jedoch ebenfalls die komplexen genetischen Erkrankungen, bei denen häufigere Varianten mit leichtgradiger Funktionsänderung ihr Krankheitspotenzial erst im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren genetischer Art oder aus der Umwelt entfalten. Hier wurden über 250 Gen-Orte mit Nierenerkrankungen in Verbindung gebracht [22]. Die höhere Komplexität und der weniger klare Kausalzusammenhang stehen einer flächendeckenden Einbeziehung in der Diagnostik noch im Wege. Die Varianten in Genen wie APOL1 (Apolipoprotein L1; [5, 6, 23]) und UMOD (Uromodulin; [13]) haben jedoch große Relevanz für die Entstehung einer CKD, sodass sich dies mittelfristig ändern wird. Die Implementierung von polygenen Scores wird es ermöglichen, die genetische Risikokonstellation in personalisierter Form einzuschätzen. Befunde mit Bezug auf die individuelle genetische Information dürfen dabei nicht zur Stigmatisierung der Betroffenen führen. Aufklärungsstrategien und möglicherweise auch der gesetzliche Rahmen werden hierfür weitere Anpassung benötigen. In der Gegenwart ist aber zunächst eine strukturierte genetische Grundausbildung eine dringende Herausforderung bei der Weiterbildung in der Nephrologie. Darüber hinaus sollte sich die Subspezialisierung der Nephrogenetik ausdifferenzieren und interdisziplinäre Fallkonferenzen implementiert werden, um die Versorgung der Betroffenen auf höchstem Niveau sicherzustellen.

Fazit für die Praxis

  • Veränderungen der Erbinformation liegen auch bei Erwachsenen in relevantem Umfang und mit breitem klinischen Bild bei diversen Nierenerkrankungen zugrunde
  • Eine zielgenaue genetische Diagnostik ermöglicht eine maßgeschneiderte Therapie der Betroffenen unter Vermeidung von invasiven Maßnahmen.
  • Ein optimiertes Management erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den diagnostischen Laboren der Humangenetik, ein gutes genetisches Grundwissen nephrologisch tätiger Ärztinnen und Ärzte und zunehmend auch eine Subspezialisierung der Nephrogenetik.

Funding

Die Open-Access-Publikation wurde ermöglicht durch Mittel des Sonderforschungsbereichs 1453 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG; project-ID 431984000–SFB 1453). U.T. Schultheiss wurde unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Forschungs- und Förderkonzeptes e:Med (01ZX1912B), T. Hermle erhielt Förderung durch die DFG (HE 7456/4‑1).

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

U.T. Schultheiss ist Angestellte von SYNLAB MVZ Humangenetik Freiburg GmbH, Freiburg. T. Hermle gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Metadaten
Titel
Genetische Diagnostik bei Nierenerkrankungen im Erwachsenenalter
verfasst von
Dr. med. Ulla T. Schultheiss
PD Dr. med. Tobias Hermle
Publikationsdatum
21.03.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Nephrologie / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 2731-7463
Elektronische ISSN: 2731-7471
DOI
https://doi.org/10.1007/s11560-023-00646-6

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