Skip to main content
Erschienen in: Ethik in der Medizin 2/2010

01.06.2010 | Originalarbeit

Gewissensfreiheit in der Apotheke

verfasst von: Jürgen Wallner

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 2/2010

Einloggen, um Zugang zu erhalten

Zusammenfassung

In den letzten Jahren wird intensiv darüber diskutiert, ob und in welcher Weise das Gewissen im Kontext der Apotheke zu schützen ist. Der Status quo in Deutschland und Österreich sieht keine gesetzliche Regelung für dieses Problem vor. Der ethische Rahmen für eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit dem Problem der Gewissensfreiheit in der Apotheke wird deutlich gemacht. Unter Anwendung des rechtsethischen Verhältnismäßigkeitsprinzips wird das Problem mit Berücksichtigung des deutschen und österreichischen Verfassungsrechts sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention auf individueller, korporativer und gesellschaftlicher Ebene analysiert. Auf individueller Ebene sind die berechtigten Interessen und Güter des Apothekers einerseits und der Patientin andererseits durch eine grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Auf korporativer Ebene legitimiert das auf der Religions- und Weltanschauungsfreiheit basierende Selbstbestimmungsrecht die ideologisch profilierte Apotheke als Organisation und kann in der Binnenbeziehung der Apotheke einen Loyalitätskonflikt verursachen. Auf gesellschaftlicher Ebene stehen vier Optionen der proaktiven rechtspolitischen Gestaltung der Gewissensproblematik zur Verfügung: sozialstaatlich, libertär, professionsbezogen und kommunitär. Wie Konflikte auf individueller oder korporativer Ebene gelöst werden können, hängt von den Optionen ab, die auf gesellschaftlicher Ebene gewählt werden. Für den Fall einer Änderung des Status quo wird für zwei Lösungsansätze argumentiert: a) die Einführung einer qualifizierten Gewissensklausel für Apotheker (mit Beratungs-, Verweis-, Notfall- und Verständigungspflicht); b) die auf einen Kompromiss zwischen ideologisch profilierter pharmazeutischer Korporation (Apotheke oder Apothekervereinigung) und Sozialstaat abzielende „weiche“ kommunitäre Option. Beide Ansätze werden einem schonenden Ausgleich berechtigter Güter gerecht.
Fußnoten
1
Für strenge Gegner des Präparats würden gemäß Vorsichtsprinzip auch begründete Zweifel an der bloß fertilitätshemmenden Wirkung genügen, um die „Pille danach“ als potentiell abtreibend anzusehen.
 
2
Das im Mai 2009 zugelassene und auf dem Wirkstoff Ulipristalacetat basierende Präparat Ellaone® soll innerhalb von 120 Stunden nach einem ungeschützten Geschlechtsverkehr bzw. Versagen der Kontrazeption eine Schwangerschaft verhüten [4].
 
3
„[…] dass der Apotheker/die Apothekerin eine besondere psychische Belastung feststellt, durch die die Schwelle einer Gesundheitsgefahr überschritten wird oder dieser gleichwertig ist […] In diesem Zusammenhang können auch familiäre Rahmenbedingungen von Relevanz sein“ ([1], S. 94).
 
4
Mit 18. Dezember 2009 wurde die Rezeptpflicht für das Notfallverhütungsmittel Vikela® in Österreich aufgehoben. Das Präparat bleibt aber weiterhin apothekenpflichtig, sodass die Notfallregelung für die hier argumentierte Bedingung einer Gewissensklausel inhaltlich relevant bleibt.
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Aigner G, Schwamberger H (2005) BMGF zur Abgabe der „Pille danach“ ohne ärztliche Verschreibung. Recht Med 12:94 Aigner G, Schwamberger H (2005) BMGF zur Abgabe der „Pille danach“ ohne ärztliche Verschreibung. Recht Med 12:94
3.
Zurück zum Zitat American Society of Health-System Pharmacists (2008) ASPH statement on professionalism. Am J Health Syst Pharm 65:172–174CrossRef American Society of Health-System Pharmacists (2008) ASPH statement on professionalism. Am J Health Syst Pharm 65:172–174CrossRef
5.
Zurück zum Zitat Beatty DM (2004) The ultimate rule of law. Oxford University Press, OxfordCrossRef Beatty DM (2004) The ultimate rule of law. Oxford University Press, OxfordCrossRef
7.
Zurück zum Zitat Berka W (1999) Die Grundrechte: Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich. Springer, Wien Berka W (1999) Die Grundrechte: Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich. Springer, Wien
8.
Zurück zum Zitat Böckenförde E-W (1976) Das Grundrecht der Gewissensfreiheit. In: Böckenförde E-W (Hrsg) Staat, Gesellschaft, Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S 253–317 Böckenförde E-W (1976) Das Grundrecht der Gewissensfreiheit. In: Böckenförde E-W (Hrsg) Staat, Gesellschaft, Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S 253–317
9.
Zurück zum Zitat Bundesapothekerkammer [DE] (2004) Das Berufsbild des Apothekers. ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Berlin Bundesapothekerkammer [DE] (2004) Das Berufsbild des Apothekers. ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Berlin
10.
Zurück zum Zitat Bundesverfassungsgericht [DE] (1960) Kriegsdienstverweigerung I. BVerfGE 12:45–61 Bundesverfassungsgericht [DE] (1960) Kriegsdienstverweigerung I. BVerfGE 12:45–61
11.
Zurück zum Zitat Bundesverfassungsgericht [DE] (1985) Rommelfanger. BVerfGE 70:138–173 Bundesverfassungsgericht [DE] (1985) Rommelfanger. BVerfGE 70:138–173
12.
Zurück zum Zitat Bundesverwaltungsgericht [DE] (1972) Notfalldienst II. BVerwGE 41:261–274 Bundesverwaltungsgericht [DE] (1972) Notfalldienst II. BVerwGE 41:261–274
13.
Zurück zum Zitat Cantor JD, Baum K (2004) The limits of conscientious objection—may pharmacists refuse to fill prescriptions for emergency contraception? N Engl J Med 351:2008–2012CrossRefPubMed Cantor JD, Baum K (2004) The limits of conscientious objection—may pharmacists refuse to fill prescriptions for emergency contraception? N Engl J Med 351:2008–2012CrossRefPubMed
14.
Zurück zum Zitat Cruess SR, Johnston SE, Cruess RL (2004) ‚Profession‘: a working definition for medical educators. Teach Learn Med 16:74–76CrossRefPubMed Cruess SR, Johnston SE, Cruess RL (2004) ‚Profession‘: a working definition for medical educators. Teach Learn Med 16:74–76CrossRefPubMed
15.
Zurück zum Zitat Department of Health and Human Services [US] (2008) Ensuring that Department of Health and Human Services funds do not support coercive or discriminatory policies or practices in violation of federal law. 245; 45 CFR Part 88 p. 78071 Department of Health and Human Services [US] (2008) Ensuring that Department of Health and Human Services funds do not support coercive or discriminatory policies or practices in violation of federal law. 245; 45 CFR Part 88 p. 78071
16.
Zurück zum Zitat Diekmann TJ, Diekmann F (2008) Kann Glaube rechtsfreien Raum schaffen. Apotheken Recht 11:29–34 Diekmann TJ, Diekmann F (2008) Kann Glaube rechtsfreien Raum schaffen. Apotheken Recht 11:29–34
17.
Zurück zum Zitat Duffar J (2004) Pichon & Sajous v. France, ECHR 49.853/99 (2001 Oct 2): Kommentar. Österr Arch Recht Relig 51:82–87 Duffar J (2004) Pichon & Sajous v. France, ECHR 49.853/99 (2001 Oct 2): Kommentar. Österr Arch Recht Relig 51:82–87
18.
Zurück zum Zitat Duvall M (2006) Pharmacy conscience clause statutes: constitutional religious ‚accomodations‘ or unconstitutional ‚substantial burdens‘ on women? Am Univ Law Rev 55:1485–1522PubMed Duvall M (2006) Pharmacy conscience clause statutes: constitutional religious ‚accomodations‘ or unconstitutional ‚substantial burdens‘ on women? Am Univ Law Rev 55:1485–1522PubMed
19.
Zurück zum Zitat European Court of Human Rights (2001) Pichon and Sajous v. France. ECtHR Appl. No. 49.853/99 European Court of Human Rights (2001) Pichon and Sajous v. France. ECtHR Appl. No. 49.853/99
20.
Zurück zum Zitat Fenton E, Lomasky LE (2005) Dispensing with liberty: conscientious refusal and the ‚morning-after pill‘. J Med Philos 30:579–592CrossRefPubMed Fenton E, Lomasky LE (2005) Dispensing with liberty: conscientious refusal and the ‚morning-after pill‘. J Med Philos 30:579–592CrossRefPubMed
21.
Zurück zum Zitat Grabenwarter C (2009) Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. Beck, München Grabenwarter C (2009) Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. Beck, München
22.
Zurück zum Zitat Herbe DW (2002) The right to refuse: a call for adequate protection of a pharmacist’s right to refuse facilitation of abortion and emergency contraception. J Law Health 17:77–102PubMed Herbe DW (2002) The right to refuse: a call for adequate protection of a pharmacist’s right to refuse facilitation of abortion and emergency contraception. J Law Health 17:77–102PubMed
23.
Zurück zum Zitat Kalb H, Potz R, Schinkele B (2003) Religionsrecht. WUV Universitätsverlag, Wien Kalb H, Potz R, Schinkele B (2003) Religionsrecht. WUV Universitätsverlag, Wien
24.
Zurück zum Zitat Klement A (2003) Die orale Notfallkontrazeption. Österr Apoth Ztg 57:230–232 Klement A (2003) Die orale Notfallkontrazeption. Österr Apoth Ztg 57:230–232
25.
Zurück zum Zitat Lamačková A (2008) Conscientious objection in reproductive health care: analysis of Pichon and Sajous v. France. Eur J Health Law 15:7–43CrossRefPubMed Lamačková A (2008) Conscientious objection in reproductive health care: analysis of Pichon and Sajous v. France. Eur J Health Law 15:7–43CrossRefPubMed
26.
Zurück zum Zitat Luf G (1989) Gewissen und Recht: Erwägungen zu strukturellen Gemeinsamkeiten im staatlichen und im kirchlichen Recht. Österr Arch Recht Relig 38:18–36 Luf G (1989) Gewissen und Recht: Erwägungen zu strukturellen Gemeinsamkeiten im staatlichen und im kirchlichen Recht. Österr Arch Recht Relig 38:18–36
27.
Zurück zum Zitat Luhmann N (1965) Die Gewissensfreiheit und das Gewissen. Arch Öffentlichen Rechts 90:257–286 Luhmann N (1965) Die Gewissensfreiheit und das Gewissen. Arch Öffentlichen Rechts 90:257–286
30.
Zurück zum Zitat Orr RD (2007) The role of moral complicity in issues of conscience. Am J Bioeth 7:23–24PubMed Orr RD (2007) The role of moral complicity in issues of conscience. Am J Bioeth 7:23–24PubMed
31.
Zurück zum Zitat Pellegrino ED (1994) Patient and physician autonomy: conflicting rights and obligations in the physician-patient relationship. J Contemp Health Law Policy 10:47–68 Pellegrino ED (1994) Patient and physician autonomy: conflicting rights and obligations in the physician-patient relationship. J Contemp Health Law Policy 10:47–68
32.
Zurück zum Zitat Pellegrino ED (2002) The physician’s conscience, conscience clauses, and religious belief: a Catholic perspective. Fordham Urban Law J 30:221–244 Pellegrino ED (2002) The physician’s conscience, conscience clauses, and religious belief: a Catholic perspective. Fordham Urban Law J 30:221–244
34.
Zurück zum Zitat Prat EH (2008) Der Gewissensvorbehalt des Apothekers aus sozialethischer Sicht. Imago Hominis 15:155–167 Prat EH (2008) Der Gewissensvorbehalt des Apothekers aus sozialethischer Sicht. Imago Hominis 15:155–167
36.
Zurück zum Zitat Schinkele B (1996) Das Arbeitsrecht in der Kirche: Der verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Rahmen unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Kirche. In: Runggaldier U, Schinkele B (Hrsg) Arbeitsrecht und Kirche. Springer, Wien, S 3–40 Schinkele B (1996) Das Arbeitsrecht in der Kirche: Der verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Rahmen unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Kirche. In: Runggaldier U, Schinkele B (Hrsg) Arbeitsrecht und Kirche. Springer, Wien, S 3–40
37.
Zurück zum Zitat Swartz MS (2006) ‚Conscience clauses‘ or ‚unconscionable clauses‘: personal beliefs versus professional responsibilities. Yale J Health Policy Law Ethics 6:269–350PubMed Swartz MS (2006) ‚Conscience clauses‘ or ‚unconscionable clauses‘: personal beliefs versus professional responsibilities. Yale J Health Policy Law Ethics 6:269–350PubMed
38.
Zurück zum Zitat Ulrich S (2007) Einführung in die pharmazeutische Gesetzeskunde: Österreichisches Apothekenrecht, Arzneimittel-, Suchtgift- und Giftverkehrsrecht, Arzneimittelpreisgestaltung, 2. Aufl. Leykam, Graz Ulrich S (2007) Einführung in die pharmazeutische Gesetzeskunde: Österreichisches Apothekenrecht, Arzneimittel-, Suchtgift- und Giftverkehrsrecht, Arzneimittelpreisgestaltung, 2. Aufl. Leykam, Graz
39.
Zurück zum Zitat Verwaltungsgerichtshof [AT] (2003) Innere Angelegenheiten und Arbeitsrecht. VwSlg 15993 A Verwaltungsgerichtshof [AT] (2003) Innere Angelegenheiten und Arbeitsrecht. VwSlg 15993 A
40.
Zurück zum Zitat Walter C (2006) Religions- und Gewissensfreiheit. In: Grote R, Marauhn T (Hrsg) EMRK/GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz. Mohr-Siebeck, Tübingen, S 817–894 Walter C (2006) Religions- und Gewissensfreiheit. In: Grote R, Marauhn T (Hrsg) EMRK/GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz. Mohr-Siebeck, Tübingen, S 817–894
41.
Zurück zum Zitat White M (2005) Conscience clauses for pharmacists: the struggle to balance conscience rights with the rights of patients and institutions. Wis L Rev 2005:1611–1648 White M (2005) Conscience clauses for pharmacists: the struggle to balance conscience rights with the rights of patients and institutions. Wis L Rev 2005:1611–1648
Metadaten
Titel
Gewissensfreiheit in der Apotheke
verfasst von
Jürgen Wallner
Publikationsdatum
01.06.2010
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 2/2010
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-010-0055-2

Weitere Artikel der Ausgabe 2/2010

Ethik in der Medizin 2/2010 Zur Ausgabe

Alter der Mutter beeinflusst Risiko für kongenitale Anomalie

28.05.2024 Kinder- und Jugendgynäkologie Nachrichten

Welchen Einfluss das Alter ihrer Mutter auf das Risiko hat, dass Kinder mit nicht chromosomal bedingter Malformation zur Welt kommen, hat eine ungarische Studie untersucht. Sie zeigt: Nicht nur fortgeschrittenes Alter ist riskant.

Fehlerkultur in der Medizin – Offenheit zählt!

28.05.2024 Fehlerkultur Podcast

Darüber reden und aus Fehlern lernen, sollte das Motto in der Medizin lauten. Und zwar nicht nur im Sinne der Patientensicherheit. Eine negative Fehlerkultur kann auch die Behandelnden ernsthaft krank machen, warnt Prof. Dr. Reinhard Strametz. Ein Plädoyer und ein Leitfaden für den offenen Umgang mit kritischen Ereignissen in Medizin und Pflege.

Mammakarzinom: Brustdichte beeinflusst rezidivfreies Überleben

26.05.2024 Mammakarzinom Nachrichten

Frauen, die zum Zeitpunkt der Brustkrebsdiagnose eine hohe mammografische Brustdichte aufweisen, haben ein erhöhtes Risiko für ein baldiges Rezidiv, legen neue Daten nahe.

Mehr Lebenszeit mit Abemaciclib bei fortgeschrittenem Brustkrebs?

24.05.2024 Mammakarzinom Nachrichten

In der MONARCHE-3-Studie lebten Frauen mit fortgeschrittenem Hormonrezeptor-positivem, HER2-negativem Brustkrebs länger, wenn sie zusätzlich zu einem nicht steroidalen Aromatasehemmer mit Abemaciclib behandelt wurden; allerdings verfehlte der numerische Zugewinn die statistische Signifikanz.

Update Gynäkologie

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert – ganz bequem per eMail.