Erschienen in:
01.08.2015 | Übersicht
Juristische Schwellenvorgaben, psychiatrische Diagnostik und psychopathologisches Erkennen
Unerschöpflicher Diskurs
verfasst von:
Norbert Nedopil
Erschienen in:
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
|
Ausgabe 3/2015
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Zusammenfassung
Zwischen dem psychiatrischen (medizinischen) und dem juristischen Krankheitsbegriff gibt es seit jeher gravierende Unterschiede, die weder durch das Bemühen der Gesetzesreformen zwischen 1965 und 1975, als versucht wurde, die juristische Terminologie der psychiatrischen anzunähern, noch durch die operationalisierte Diagnostik, die mit der 3. Aufl. des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III, 1984) in die Psychiatrie eingeführt wurde, verringert wurden. Krankheit ist im juristischen Sinne abhängig vom Überschreiten einer bestimmten, u. U. normativ gesetzten Schwelle. Es kommt bei der Begutachtung darauf an, die klinischen Diagnosen quantitativ zu erfassen und sie – falls das Ausmaß der Störung eine bestimmte Schwelle übersteigt – den im Gesetz verwendeten juristischen Krankheitsbegriffen zuzuordnen. So sind die Begriffe „krankhafte seelische Störung“ (§ 20 StGB), „psychische Krankheit“ (§ 1896 BGB) oder „psychische Störung“ (Art. 1 ThUG) durch ganz unterschiedliche quantitative Beeinträchtigungen des Betroffenen definiert, obwohl sie aus medizinischer Sicht vergleichbare Bedeutungen haben.
Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde sowohl von psychiatrischer Seite und auch interdisziplinär versucht, die juristischen Krankheitsbegriffe mehr oder weniger operationalisiert einzugrenzen und zu definieren, ab wann deren normativ vorgegebene Zuordnungsschwelle überschritten sein soll. Nur unter diesen Vorgaben erschien es möglich, vergleichbare Bedingungen zu schaffen und empirische Untersuchungen zu ermöglichen. Die Quantifizierungsdebatte der 1980er Jahre, das Süchtigkeitskonzept bei Paraphilien, das sozialstrukturelle Krankheitsmodell oder das psychopathologische Referenzsystems sind Beispiele derartiger Versuche.
Die Auseinandersetzungen um die Erfüllung derartiger Schwellenvorgaben haben mit den Entwicklungen von bildgebenden Untersuchungsmethoden und neurobiologischen Erkenntnissen neue Nahrung erfahren, meist um die Ergebnisse dieser Untersuchungen als mehr oder weniger unbrauchbar für die forensische Entscheidungsfindung zu erklären.
Letztendlich sind diese Bemühungen an normativen Vorgaben des Bundesgerichtshofs (BGH) gescheitert. Was bleibt, ist der interdisziplinäre Diskurs im Einzelfall, der intensiviert werden sollte, dessen Ergebnis sich aber dem Vergleich und der empirischen Aufarbeitung entzieht.