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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 1/2015

01.02.2015 | Journal Club

Kriminologischer Beitrag

Die Illusion der heilsamen Vergeltung

verfasst von: Angelika Treibel

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 1/2015

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Auszug

Das Bedürfnis nach Rache oder Vergeltung, das Betroffene und deren Angehörige nach Gewalttaten empfinden, ist menschlich, legitim und nachvollziehbar. Ganz anders ist es, wenn diesem Bedürfnis Taten folgen und die Fantasien von Rache und Vergeltung in die Tat umgesetzt werden. Es ist Kennzeichen einer zivilen Gesellschaft, dass auch schlimmste Regelverstöße nicht durch Rache vergolten werden, sondern rechtsstaatlicher Strafverfolgung unterliegen. So sind Handlungen, die der Rache und Vergeltung dienen, zwar nachvollziehbar und in dem Sinne auch menschlich; legitim sind sie schwerlich und legal schon gar nicht. So weit zur rechtsstaatlichen Realität. Wie sieht es aber mit dem Empfinden der Betroffenen aus? Hat die rechtsstaatliche Regelung den Preis, beispielsweise Hinterbliebene von Mordopfern auf ihren Bedürfnissen nach Vergeltung „sitzen zu lassen“? Wäre es – alle zivilisatorischen Ansprüche außen vor gelassen – für die Hinterbliebenen „gesünder“, wenn es im Fall eines Mords zur „Vergeltung“ käme, also zur Todesstrafe? Die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe ist in Deutschland kaum noch vorstellbar. Noch unvorstellbarer wäre es, Zuschauer hierfür zuzulassen, mutet dies doch an wie eine „öffentliche Hinrichtung“ und weckt schlimmste Assoziationen. In den USA ist dies gängige Praxis. Hinterbliebene von Mordopfern dürfen der Hinrichtung des Mörders ihres Angehörigen beiwohnen. Die legitimierende Idee dabei ist, dass dies den Hinterbliebenen das „Abschließenkönnen“ („closure“) erleichtert. Legitimation wird hier nicht nur für die Anwesenheit bei der Hinrichtung abgeleitet, sondern für die Todesstrafe per se. Die Hypothese, dass Hinterbliebene besser abschließen (und so bewältigen) können, wenn sie den Mörder sterben wissen, oder noch besser: sterben sehen, ist ein Argument, dass für die Todesstrafe ins Feld geführt wird. Jenseits der ethischen Frage, ob – gesetzt den Fall, es wäre so, dass die Hinrichtung eines Mörders das Leid der Hinterbliebenen mildert –, dies tatsächlich eine Legitimation für die Todesstrafe sein könnte, stellt sich die Frage, ob die Annahme des Abschließenkönnens zutreffend ist. Einen empirischen Beleg für diese Annahme gibt es bisher nicht. …
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Eaton J, Christensen T (2014) Closure and its myths: victims’ families, the death penalty, and the closure argument. Int Rev Vict 20(3), 327–343 Eaton J, Christensen T (2014) Closure and its myths: victims’ families, the death penalty, and the closure argument. Int Rev Vict 20(3), 327–343
2.
Zurück zum Zitat Gross S, Matheson DJ (2003) What they say at the end: capital victims’ families and the press. Cornell Law Rev 88(2), 486–516 Gross S, Matheson DJ (2003) What they say at the end: capital victims’ families and the press. Cornell Law Rev 88(2), 486–516
3.
Zurück zum Zitat Maercker A (Hrsg) (2013) Posttraumatische Belastungsstörungen, 4., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Springer, Berlin Maercker A (Hrsg) (2013) Posttraumatische Belastungsstörungen, 4., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Springer, Berlin
4.
Zurück zum Zitat Vollum S, Longmire DR (2007) Covictims of capital murder: statements of victims’ family members and friends made at the time of execution. Violence Vict 22(5), 601–619 Vollum S, Longmire DR (2007) Covictims of capital murder: statements of victims’ family members and friends made at the time of execution. Violence Vict 22(5), 601–619
Metadaten
Titel
Kriminologischer Beitrag
Die Illusion der heilsamen Vergeltung
verfasst von
Angelika Treibel
Publikationsdatum
01.02.2015
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 1/2015
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-014-0306-z

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