Hintergrund und Fragestellung
Sepsis und septischer Schock sind die schwerstmöglichen Verlaufsformen einer Infektion [
22]. Aufgrund der physiologischen Interaktion von Inflammation und Koagulation [
6] sind Störungen des Gerinnungssystems als fester Bestandteil der Pathophysiologie der Sepsis zu verstehen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff sepsisinduzierte Koagulopathie (SIC) etabliert [
10,
11,
13]. Die SIC definiert die Maximalform einer disseminierten intravasalen Koagulopathie (DIC) auf dem Boden einer Sepsis; abgegrenzt wird diese von einer DIC anderer Genese (z. B. Pankreatitis oder Verbrennung; Zusatzmaterial online: Zusammenstellung – Tab. 1) [
10]. Bis heute sind nur wenige Studien durchgeführt worden, die erstens den Nutzen einer medikamentösen Prophylaxe einer venösen Thromboembolie (VTE) bei Intensivpatienten und zweitens den Nutzen einer therapeutischen Antikoagulation bei Patienten mit Sepsis untersuchen. Zwar wird eine medikamentöse VTE-Prophylaxe mit niedermolekularem Heparin (NMH) oder unfraktioniertem Heparin (UFH) allgemein für Patienten in intensivmedizinischer Behandlung [
4] und damit auch für Patienten mit Sepsis und septischem Schock [
1,
20] empfohlen. Ob jedoch Patienten, die eine SIC entwickeln, von einer, über die VTE-Prophylaxe hinausgehenden, therapeutischen Antikoagulation profitieren könnten, ist wissenschaftlich kaum untersucht und in nationalen und internationalen Leitlinien nicht abgebildet [
1,
20]. Gleiches gilt für das Vorgehen bei Patienten, die an einer „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) erkrankt sind, da insbesondere schwere Verläufe dieser Erkrankung mit einer ausgeprägten Koagulopathie und einem deutlich erhöhten Risiko für thrombembolische Ereignisse im Sinne einer „COVID-19-associated coagulopathy“ (CAC) assoziiert sind [
9,
16]. Während internationale Leitlinien weitgehend an einer „normalen“ VTE-Prophylaxe festhalten, geht die Ende November 2020 veröffentlichte S2K-Leitlinie zur stationären Therapie von COVID-19-Patienten einen Schritt weiter und empfiehlt bei intensivpflichtigen Patienten mit COVID-19 eine „intensivierte“ VTE-Prophylaxe [
15,
25].
Die Folge dieser unklaren Studienlage ist, dass intensivmedizinische Bereiche jeweils eigene Konzepte entwickeln, um die VTE-Prophylaxe sowie die therapeutische Antikoagulation für den klinischen Alltag in ihrem Bereich zu standardisieren und dabei gleichzeitig der Heterogenität der Patienten und deren individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die vorliegende Umfrage soll Einblicke in die auf deutschen Intensivstationen gelebte Praxis der prophylaktischen und therapeutischen Antikoagulation bei intensivmedizinischen Patienten allgemein, bei Patienten mit Sepsis und septischem Schock (mit/ohne SIC) sowie bei Patienten mit COVID-19 geben.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Grundlage unserer Erhebung war eine deutschlandweite Onlineumfrage zwischen dem 01.10.2019 und dem 30.05.2020. Der Fragebogen (Zusatzmaterial online: Fragebogen) richtete sich gezielt an die ärztlichen Leiter einer Intensivstation (ITS) oder eines Intensivbereiches mit dem explizit formulierten Ziel, nur einen ausgefüllten Fragebogen pro Intensivbereich zu erhalten, ohne dass eine doppelte Teilnahme technisch blockiert war. Der Link zu dem Fragebogen wurde zunächst über die Kliniken der SepNet Study Group verteilt. In einem zweiten Schritt wurden im April 2020 alle in der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) organisierten intensivmedizinischen Abteilungen sowie die Mitglieder der „Interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft für Klinische Hämotherapie“ (IAKH) per E‑Mail zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen. Die Datenbank wurde am 31.05.2020 geschlossen. Die Teilnahme erfolgte vollständig anonym.
Der Onlinefragebogen wurde nach ausführlicher Literaturrecherche und in enger Rücksprache mit den ausgewiesenen Experten der SepNet Study Group erstellt. Einfach- und Mehrfachauswahlfragen sowie Freitextfelder wurden zur Erhebung genutzt.
Der Fragebogen umfasste 5 Fragenkomplexe zu „Infrastruktur“, „Status quo Antikoagulation“, „Status quo Sepsis“, „Status quo sepsisassoziierte DIC“ und „COVID-19“. Kern des Fragebogens waren 2 Fallvignetten von Patienten mit pneumogener Sepsis (Zusatzmaterial online: Zusammenstellung – Fallbeispiel 1) bzw. abdomineller Sepsis bei sekundärer Peritonitis und erfolgter chirurgischer Fokussanierung (Zusatzmaterial online: Zusammenstellung – Fallbeispiel 2). Nachfolgend wurde in Variationen der Fälle abgefragt, wie die Teilnehmer entsprechende Patienten in Bezug auf die VTE-Prophylaxe behandeln bzw. therapeutisch antikoagulieren würden.
Der letzte Teil des Fragebogens, der sich mit den Besonderheiten bei COVID-19 befasst, wurde im April 2020 online gestellt. Somit konnte nur ein Teil der Teilnehmer die Fragen zu COVID-19 beantworten.
Eine ausführlichere Darstellung der Methodik ist in den Internet-Supplements (Zusatzmaterial online: Zusammenstellung – Methodenteil) zu finden.
Statistik
Zur statistischen Auswertung wurden deskriptive Methoden mittels Microsoft® Office Excel (Excel für Mac Version 16.3; Fa. Microsoft Corporation, Redmond, WA, USA) und Prism® 8 for macOS, (GraphPad Prism® für Mac Version 8.3.0; Fa. GraphPad Software LLC, San Diego, CA, USA) verwendet. Es wurden absolute und relative Häufigkeiten dargestellt. Das arithmetische Mittel, Median und Quartile wurden berechnet, wenn immer es sinnvoll erschien.
Diskussion
Die Deutsche Sepsis Gesellschaft (DSG) empfiehlt in Ihrer „S3-Leitlinie Sepsis – Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge“ [
1] in Übereinstimmung mit den Leitlinien der Surviving Sepsis Campaign [
20], der European Society of Anesthesiology and Intensive Care (ESAIC) [
3] und der Deutschen Gesellschaft für Angiologie [
2] allgemein eine „pharmakologische Prophylaxe einer venösen Thromboembolie (VTE) mittels unfraktioniertem Heparin (UFH) oder niedermolekularem Heparin (NMH), sofern keine Kontraindikationen in Bezug auf die Verwendung dieser Wirkstoffe vorliegen“. Aufgrund der heterogenen Datenlage wird explizit keine Empfehlung bezüglich der Bevorzugung von einem beiden Medikamente oder dem Applikationsweg (i.v. vs. s.c.) abgeben. Auch werden weder eine Dosierung für eine der genannten Substanzen, noch ein (laborchemisches) Zielkriterium für die antikoagulatorische Wirkung genannt. Die vorliegende Umfrage zeigt, dass diese aktuellen Leitlinienempfehlungen auf deutschen Intensivstationen in der klinischen Praxis sehr heterogen interpretiert und umgesetzt werden. Die meisten Kliniken setzen bei Patienten mit Sepsis (ohne Schock) UFH oder NMH in relativ niedrigen Dosierungen ein, ohne dabei ein spezifisches Gerinnungsmonitoring durchzuführen. Dies ist leitliniengerecht, bei Patienten im septischen Schock sollte jedoch das Risiko von Unterdosierungen bei katecholaminpflichtigen Patienten beachtet werden. So schlussfolgern Minet et al. nach einer Auswertung der verfügbaren Literatur [
17], dass eine Kontrolle des Anti-FXa-Spiegels bei diesen Patienten insofern ratsam sei, als dass Katecholamine mit der Aufnahme von s.c.-applizierten Substanzen interagieren, jedoch die Veränderung der Anti-FXa-Wirkung nicht direkt mit der Katecholamindosis korreliert [
17,
19]. Obwohl bei Patienten mit einer sekundären Peritonitis nach operativer Sanierung (ohne Schock) UFH etwas häufiger eingesetzt wird, kommen auch hier beide Varianten regelhaft zum Einsatz. Einzelne Kliniken führen eine medikamentöse VTE-Prophylaxe mit PTT-Zielwerten > 40 s durch. Die Bestimmungen der PTT sowie der ACT zum Therapiemonitoring von Heparin bei Akute-Phase-Reaktionen wie in der Sepsis sind jedoch aus mehreren Gründen mit Unsicherheiten verbunden: So können zum einen die Werte z. B. durch Verlust wie auch durch Hochregulation einzelner Faktoren in der Akute-Phase-Reaktion beeinflusst werden [
24], zum anderen unterliegt die Messung von Gerinnungsparametern wie der PTT einer hohen Variabilität zwischen einzelnen Laboren und Institutionen, wodurch die vergleichende Bewertung erschwert ist [
18].
Auch Argatroban kommt zum Einsatz, obwohl die Zulassung des Medikamentes die Indikation zur VTE-Prophylaxe formal nicht beinhaltet. Interessant ist, dass der Einsatz von mechanischen Verfahren zur VTE-Prophylaxe nur in weniger als 10 % der Fälle angegeben wurde. Dies steht im Gegensatz zu den entsprechenden Leitlinienempfehlungen, die „eine Kombination aus einer pharmakologischen VTE-Prophylaxe und einer mechanischen Prophylaxe [vorschlagen], wann immer dies möglich ist“ [
1,
20]. Zudem scheint die Datenlage zumindest für die IPK solide [
14]. Allerdings wurde auch die entgegengesetzte Angabe „keine mechanische Kompression“ nur in 10–15 % der Antworten gemacht, sodass definitive Aussagen hierzu nicht möglich sind.
Da die SIC eine schwerwiegende Komplikation einer Sepsis ist [
7,
26], liegt es nahe zu überlegen, ob Sepsispatienten oder zumindest solche, die Anzeichen für eine beginnende SIC ohne Blutungszeichen haben, von einer, über die VTE-Prophylaxe hinausgehenden, Antikoagulation profitieren könnten [
12]. Jedoch fehlt die Evidenz, wann und mit welchem Medikament eine solche Therapie indiziert ist. In den bisher vorliegenden Studien gelang es mit keinem der getesteten Therapieregime, die Überlebenswahrscheinlichkeit eines unselektierten septischen Patientenkollektivs zu erhöhen. Anders könnte dies in den Subgruppen von Patienten mit SIC oder schwerer Sepsis ohne manifeste Blutungskomplikationen aussehen, wie eine retrospektive, multizentrische Kohortenstudie [
30] sowie 2 kürzlich publizierte systematische Übersichtsarbeiten mit Metaanalyse [
27,
29] suggerieren. Yamakawa et al. konnten das Subkollektiv sogar noch weiter eingrenzen und zeigen, dass insbesondere diejenigen Patienten von einer „erweiterten“ Antikoagulation profitieren, die eine nachgewiesene SIC und/oder eine hohe, jedoch keine sehr hohe (initialer Sequential Sepsis-related Organ Failure Assessment (SOFA) Score 13–17) Erkrankungsschwere aufweisen [
28]. Unsere Umfrage zeigt, dass auf immerhin 20 % der deutschen Intensivstationen bereits bei Anzeichen für eine SIC eine Antikoagulation durchgeführt wird, die über die reine medikamentöse VTE-Prophylaxe hinausgeht. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Antikoagulation auf immerhin 10 % der ITS auch dann noch bei Patienten mit PS und SIC fortgeführt wird, wenn es zum Auftreten einer diffusen Blutung kommt. Bei Patienten mit abdomineller Sepsis, SIC und diffuser Blutung ist dies nicht der Fall; nur eine der teilnehmenden Kliniken führt in dieser Situation noch eine PTT-wirksame Antikoagulation durch.
Obwohl sich die Anzeichen und Berichte aus aller Welt mehren, dass insbesondere schwere Verläufe von COVID-19 mit einer Koagulopathie vergesellschaftet sind [
9,
16,
21], wurde nur in etwa 25 % der in der vorliegenden Umfrage repräsentierten Intensivbereiche eine Anpassung der VTE-Prophylaxe vorgenommen. In den Kliniken, die im Rahmen der COVID-19-Pandemie neue Schemata einführten, wird UFH häufiger PTT-wirksam eingesetzt, und es kommt deutlich häufiger Argatroban zur Anwendung. Ein gezieltes Screening auf eine SIC mithilfe eines Scores findet auch in dieser Risikogruppe nur in 5 % der Kliniken statt. Auch eine regelmäßige laborchemische Bestimmung von D‑Dimeren wird in nur knapp einem Drittel der Kliniken durchgeführt, sodass geschlussfolgert werden kann, dass die koagulatorischen Besonderheiten bei COVID-19-Patienten in den meisten Häusern nur im Falle von manifesten, symptomatischen Komplikationen (z. B. Thrombose, Embolie etc.) behandelt werden. Dies deckt sich nur z. T. mit den Empfehlungen der European Society of Cardiology, die zuletzt im Juni 2020 aktualisiert wurden und die bei COVID-19-Patienten eine „normale“ VTE-Prophylaxe empfehlen, jedoch die Hinweise geben, dass ein erhöhtes Risiko für Lungenarterienembolien besteht, und dass D‑Dimere daher regelmäßig kontrolliert werden sollen [
25]. Allerdings gehen auch die Empfehlungen der unterschiedlichen Fachgesellschaften zur Antikoagulation bei COVID-19 derzeit noch z. T. weit auseinander [
5]. So wird beispielsweise in der Ende November 2020 veröffentlichten interdisziplinären S2k-Leitlinie zur stationären Behandlung von COVID-19-Patienten für intensivmedizinisch versorgte Patienten, eine „intensivierte“ VTE-Prophylaxe mit „halbtherapeutischem“ NMH oder UFH mit einem Ziel-PTT-Bereich von 1,5–1,8 s empfohlen [
15].
Limitierend bei der Bewertung unserer Daten sind die Charakteristika einer anonymen Umfrage sowie der Umstand, dass, vor dem Hintergrund einer Gesamtzahl von über 1000 Intensivstationen in Deutschland, eine Repräsentativität unserer Umfrageergebnisse nicht belegt werden kann; diese sollte jedoch angesichts der breiten Streuung der Umfrage und der hohen relativen Anzahl an teilnehmenden Universitätsklinika zumindest in gewissem Maße angenommen werden können.
Zusammenfassung
Aufgrund der ausgesprochenen Heterogenität der Ergebnisse muss zusammenfassend konstatiert werden, dass weiterhin relevante Unklarheiten in Bezug auf den Stellenwert der VTE-Prophylaxe sowie den möglichen Benefit einer therapeutischen Antikoagulation bei Sepsis bestehen. Um dem Anspruch einer evidenzbasierten Medizin auch in diesem Feld der Intensivtherapie gerecht werden zu können, bedarf es daher einer systematischen Bearbeitung dieses Themenfeldes. Ziel muss es sein, klinische Studien auf den Weg zu bringen, die es zulassen, sowohl die medikamentöse VTE-Prophylaxe als auch eine therapeutische Antikoagulation evidenzbasiert patientenindividuell oder zumindest subgruppengerecht anzuwenden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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