Die Diskussion rund um ME/CFS hat jetzt nicht zuletzt aufgrund der rezent aufgetretenen Post-COVID/Long-COVID-Symptome wieder an Aktualität gewonnen. Die S1-Guidelines der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) [
35] sowie die NICE-Guidelines [
59] orientieren sich an folgender Definition: Bei anhaltenden Beschwerden jenseits einer Zeitspanne von 4 Wochen ab Infektion handelt es sich um Long-COVID oder postakute Folgen von COVID-19. Beim Auftreten innerhalb von 12 Wochen nach Infektion und Persistenz von mindestens 2 Monaten werden diese Beschwerden laut World Health Organization (WHO) als Post-COVID-19-Syndrom bezeichnet [
77]. Fraglich bleibt, ob dieser Syndrombegriff der Vielzahl und auch der Variabilität der Symptome und auch potenziellen Differenzialdiagnosen gerecht wird [
4]. Die epidemiologischen Zahlen klaffen weit auseinander: In einer App-basierten Studie berichteten von 4182 SARS-CoV-2-Infizierten lediglich 13,3 % von anhaltender Fatigue, Kopfschmerzen, Dyspnoe und Geruchsverlust 28 Tage nach Infektion und nach 12 Wochen nur mehr 2,3 % [
64]. In einer anderen Studie mit 938 Teilnehmer:innen antworteten 46 %, dass sie nach 1,5 bis 6 Monaten (Mittelwert 117,5 Tage) nach Infektion noch immer unter Fatigue leiden würden [
61]. Vermeintliche Gemeinsamkeiten zwischen Post-COVID- und ME/CFS-Symptomen sind zum einen die Fatigue bzw. die Belastungsintoleranz und die subjektiven kognitiven Beeinträchtigungen, aber weder Kopfschmerzen noch Geruchsverlust sind in den Diagnosekriterien von ME/CFS enthalten. Inwieweit Patient:innen nach COVID-Infektion häufiger orthostatische Dysfunktion als die Normalbevölkerung entwickeln, ist, trotz mehrere Berichte, noch ungeklärt [
14]. Die Pathophysiologie der neurologischen Post-COVID-Symptome ist bislang ungeklärt, unter anderem wird diskutiert, ob SARS-CoV‑2 ein neurotropes Virus sei. Hinweise darauf wären einzelne histologische Fallberichte, die das Virus in neuronalen Endothelzellen nachweisen [
53], allerdings wurde nie ein aktives sich tatsächlich replizierendes Virus gefunden. In einer prospektiven Studie wurden 40 Patient:innen mit neurologischen Symptomen während und nach der SARS-CoV-2-Infektion lumbalpunktiert. Im Liquor fanden sich keine Hinweise auf eine aktive Infektion des Zentralnervensystems, bei 5 Patient:innen konnte das Virus per PCR nachgewiesen werden, allerdings mit sehr niedrigen Werten [
58]. Neuropsychologische Studien zeigen eine Diskrepanz zwischen den wahrgenommenen kognitiven Einschränkungen und den Resultaten in den normierten neuropsychologischen Tests, aber Assoziationen zwischen hohen Werten in Angst- und Depressionsfragebögen und grenzwertig unterdurchschnittlichen Ergebnissen in den kognitiven Testungen [
69,
75,
76]. Werden die von Patient:innen geschilderten Beschwerden strukturiert aufgearbeitet, so lassen sich bei der Mehrheit keine neurologisch objektivierbaren Symptome finden (85,5 %) und bei einer geringeren Prozentzahl an Patient:innen tatsächlich neurologische Symptome, die aber etablierten neurologischen Diagnosen zuordenbar ist [
80]. In dieser prospektiven Kohortenstudie von Fleischer et al. konnte auch ein signifikanter Zusammenhang zwischen Fatigue und Konzentrationsschwierigkeiten mit vorbekannten psychiatrischen Erkrankungen dargestellt werden [
80]. Während mittlerweile fast sämtliche ME/CFS-Richtlinien vermeiden, psychische, psychosomatische und psychiatrische Aspekte zu erwähnen, findet sich in den Empfehlungen der S1 ein Kapitel mit psychischen Post-COVID-Komponenten und in den allgemeinmedizinischen Empfehlungen die Aufforderung, eine psychosomatische Grundversorgung anzubieten [
35]. Longitudinale Studien mit höherer Fallzahl an Proband:innen, normierten neuropsychologischen Testungen und zerebralen MRT-Kontrollen werden notwendig sein, um systematisch und evidenzbasiert die von den Patient:innen geschilderten Beschwerden schlussendlich korrekt zu definieren und klassifizieren.