Seit dem 01.01.2013 gibt es das neue Verletzungsartenverzeichnis (VAV) mit Erläuterungen unter Einschluss des Schwerstverletzungsartenverfahren (SAV). Am 01.01.2014 ist das SAV in Kraft getreten. Was bedeutet dies für die tägliche Praxis? Wo sind Fallstricke zu erwarten?

Die aktuelle Version des VAV besteht unverändert aus 10 Ziffern [1]. Vorangestellt ist eine Erläuterung im Sinne einer Präambel, im Anschluss folgen Erläuterungen zu den einzelnen Ziffern mit Ausarbeitung von Subgruppen und auch optischer Trennung zwischen VAV und fett gedruckten SAV-Verletzungen.

Neuerungen

  • Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Ziffern 1–4 und 8 weitestgehend identisch mit der alten Version des VAV sind. Neu ist jedoch die Unterteilung in VAV- und SAV-Verletzungen.

  • Die neue Ziffer 5 ersetzt die alten Ziffern 5 (Brustkorbverletzung) und 6 (Bauchverletzung mit Organbeteiligung). Auch sie differenziert jetzt zwischen VAV und SAV.

  • Die neue Ziffer 6 ähnelt der alten Ziffer 9, wobei der Begriff Knochenbrüche durch „Brüche der großen Röhrenknochen“ ersetzt wurde.

  • Die Ziffer 7 ist neu und definiert die schweren Verletzungen der großen Gelenke unter besonderer Berücksichtigung kindlicher Verletzungen.

  • Die Ziffer 9 ist ebenfalls neu besetzt mit Frakturen des Gesichtsschädels und des Rumpfskeletts.

  • Die neue Ziffer 10 ist den Polytraumata und Mehrfachverletzungen sowie besonderen Verletzungsmustern bei Kindern und Erwachsenen gewidmet. Die alte Ziffer 10 als Mischung aller Komplikationen existiert nicht mehr, ihre Inhalte wurden gestrichen.

Neu und überall deutlich hervorgehoben ist die Trennung zwischen dem stationären Durchgangsarztverfahren (DAV, alle Verletzungen, die nicht im VAV erwähnt werden), VAV und SAV. Dadurch hat die Komplexität deutlich zugenommen, was sich auch darin widerspiegelt, dass der Umfang des VAV von ehemals 3 jetzt auf 7 Seiten angewachsen ist.

Um unnötige Diskussionen um die Zuordnung eines Verletzungsmusters zum VAV bzw. SAV zu vermeiden, genügt eigentlich ein Blick in die Präambel. Dort heißt es:

Die Behandlung einer vital bedrohlichen (z. B. Milzzerreißung) oder hoch dringlich zu versorgenden (z. B. Muskelkompressionssyndrom) Verletzung hat selbstverständlich Vorrang vor den Regelungen für Zuweisungen und Verlegungen im Verletzungsartenverfahren. In diesen Fällen und entsprechend bei Konstellationen des Schwerstverletzungsartenverfahrens erfolgt die Verlegung in ein beteiligtes Krankenhaus zum frühestmöglichen Zeitpunkt. … In Zweifelsfällen, ob eine Verletzung nach dem Verletzungsartenverzeichnis vorliegt, und insbesondere bei abzuklärender Operationsnotwendigkeit hat grundsätzlich die Vorstellung in einem am Verletzungsartenverfahren bzw. am Schwerstverletzungsartenverfahren beteiligten Krankenhaus zu erfolgen.

Sofern sich alle Beteiligten an diese beiden Vorgaben halten, sollte es keine Unstimmigkeiten über die jeweils notwendige Vorgehensweise geben.

Komplett neu ist die jetzt notwendige Kenntnis mehrerer medizinischer Klassifikationen, was zumindest auf Verwaltungsseite einen gewaltigen Schulungsbedarf nach sich ziehen könnte.

  • So ist die Klassifikation der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) notwendig, um innerhalb der Ziffern 6, 7 und 9 zwischen VAV und SAV zu differenzieren.

  • Die Kenntnis des Injury Severity Score (ISS) ist notwendig, um die Ziffer 10 diesbezüglich richtig anzuwenden.

  • Die Glascow Coma Scale (GCS) ist ein Indikator zur Unterscheidung zwischen VAV und SAV unter Ziffer 4.

  • In der Präambel wird die Kenntnis der Klassifikation von offenen und geschlossenen Weichteilschäden (nach Gustilo bzw. Tscherne) verlangt, um eine korrekte Zuordnung der Verletzungen zum VAV oder SAV zu ermöglichen.

  • Zusätzlich ist die Verschlüsselung nach der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) im D-Arzt-Bericht (DAB) verpflichtend. Die Angabe der AO-Klassifikation hingegen, die ja relevant zur korrekten Eingruppierung der Verletzung ist, bleibt fakultativ.

Im DAB wird nun bei der Art der Heilbehandlung eine Einteilung der Verletzungen bis in die Subgruppen gefordert z. B Ziffer 10.2(S).

In der Summe resultiert hieraus eine deutliche Mehrarbeit für alle Beteiligten.

Probleme mit der korrekten Zuordnung

Probleme mit der korrekten Zuordnung einzelner Verletzungsmuster ergeben sich unter verschiedenen Aspekten.

Sicherlich ist es in vielen Fällen schwierig, eine objektiv einwandfreie Einteilung von Röntgenaufnahmen nach der AO-Klassifikation durchzuführen. Dies erlaubt einen betrachterabhängigen Interpretationsspielraum in der Zuordnung einzelner Frakturen zum VAV oder SAV. Das Gleiche trifft auf den Begriff „starke Verschiebung“ zu, der nicht näher definiert wird, aber mehrfach zwischen VAV- und SAV-Verfahren differenziert (insbesondere Ziffer 6).

Offen bleibt auch die Definition der kindlichen Fraktur. Es wird nicht erläutert, ob es sich so lange um eine kindliche Fraktur handelt, bis die Wachstumsfugen geschlossen sind, oder ob das kalendarische Alter gelten soll.

Probleme bereitet das Fehlen der alten Ziffer 10. Das dafür eigentlich geplante Komplikationsmanagement der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ruht aktuell. Wie sind nun Verläufe mit Wundheilungsstörungen bzw. Infekten, Pseudarthrosen, Fehlverheilungen oder mit komplexem regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) einzugruppieren? Unter Ziffer 10.2(S) steht: „… auch rehabilitationseinschränkende Kombinationen von Verletzungen an unterer und oberer Extremität, bei tiefgehenden, ausgedehnten und fortschreitenden Entzündungen nach operativer Versorgung, bei Weichteiluntergang mit Nekrosen von Haut, Faszien und Muskeln im Verlauf.“

Gegebenenfalls ist hier ein „Upgrading“ auch primär einfacher Verletzungen z. B. einer distalen Radiusfraktur vom Typ 23A3 nach AO möglich. Ob dies so gemeint und gewollt ist, bedarf einer genaueren Analyse.

Auch die Unterziffer 10.4(S) „Kombinationen von Verletzungsformen mit vorbestehenden Erkrankungen oder Störungen, die den Heilungsverlauf oder die Rehabilitation nachhaltig beeinflussen wie z. B. schwerwiegende Vorerkrankungen kardialer oder pulmonaler Genese, Störungen des Sehens, Verständigungsprobleme“ lässt viel Interpretationsspielraum. So wäre letztlich jeder Verletzte, der nicht deutsch spricht, unter diesem Aspekt zu beurteilen, ebenso jeder Versicherte mit einer ausgeprägten Sehstörung.

Weiterhin ist nicht definiert, ab wann kardiale bzw. pulmonale Erkrankungen als schwerwiegend gelten.

Die Literatur zu dieser Thematik ist bislang spärlich. Beikert [2] hat im Sinne einer Positivliste versucht herauszuarbeiten, welche Verletzungsmuster in einem am DAV teilnehmenden Krankenhaus behandelt werden können.

Bei kritischer Betrachtung dieser Arbeit zeigt sich aber deutlich die fehlende Trennschärfe des neuen VAV, wenn man isoliert den aufgestellten DAV-Katalog betrachtet, ohne die zuvor dargestellte Komplexität der Einordnung im Detail zu berücksichtigen. Hier einige Beispiele:

  • Alle Humerusschaft- und Unterarmschaftfrakturen vom Typ A und B nach AO

    • Problem: Besonderheiten bei kindlichen Verletzungen, 6.1(V)

  • Unterschenkelfrakturen vom Typ A und B nach AO

    • Problem: starke Verschiebung nicht genau definiert, 6.6(V)

  • Schulterluxationen

    • Problem: In der Präambel steht „Verletzungen von Kapseln und Bändern mit Instabilität bei gegebener oder abzuklärender Operationsbedürftigkeit gelten als schwere Verletzung“.

  • Oberarmkopffrakturen vom Typ A und B1 nach AO

    • Problem: Typ B1 ist eine mehrfragmentäre Verletzung, bei der die Operationsnotwendigkeit in einem am VAV beteiligten Haus abzuklären ist, 7.5(V).

  • Radiusfrakturen (außer C3-Frakturen nach AO)

    • Problem: Ziffer 10.2(S) „paarige Verletzungen an der oberen Extremität“

  • Alle Knöchelbrüche mit Ausnahme der Weber-C-Verletzung

    • Problem: gilt nur für Außenknöchelbrüche, isolierte Frakturen des Innenknöchels oder eines Volkmann-Dreiecks fallen unter 7.14(V)

Allein diese Beispiele zeigen deutlich, wie komplex und teilweise schwierig die korrekte Zuordnung im neuen VAV-Verzeichnis sein kann. Als abschließendes Beispiel sei auf die Ähnlichkeit der Ziffer 6.7(V) „Brüche mehrerer Röhrenknochen an einer Extremität bei gegebener oder abzuklärender Operationsbedürftigkeit“ mit der Ziffer 10.2(S) „Mehrfachverletzungen der Extremitäten als Kettenverletzung an einer Extremität oder paarige Verletzung an den unteren oder oberen Extremitäten“ hingewiesen. Diese dürfte immer wieder Schwierigkeiten bei der korrekten Zuordnung bereiten.

Schlussfolgerung

Zweifelsohne hat das neue VAV durch die Einführung des SAV einen entscheidenden Schritt in Richtung differenzierte Versorgung Schwer- und Schwerstunfallverletzter in Anlehnung an das Weißbuch der DGU und die bereits vorhandenen Strukturen der Traumanetzwerke getan. Es fehlt aber teilweise an klaren Definitionen und Erläuterungen, um es möglichst konfliktfrei anwenden zu können.