Die Diagnose Lungenkrebs bedeutet für die Betroffenen einen starken Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Dabei sind Menschen mit Lungenkrebs stärker psychisch und emotional belastet als Betroffene mit anderen Krebsarten. Der folgende Artikel fußt auf einer qualitativen Interviewstudie mit Lungenkrebsbetroffenen und befasst sich mit deren erlebten emotionalen Herausforderungen sowie individuellen Gründen für die (Nicht‑)Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung.
Hintergrund
Psychische Belastungen bei Lungenkrebsbetroffenen
Lungenkrebs ist eine der Krebserkrankungen mit besonders schlechter Prognose verbunden mit einer raschen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Betroffenen und einer niedrigen 5‑Jahres-Überlebensrate [
11]. Physische Symptome wie Energieverlust, Fatiguesyndrom, Schmerzen, Appetitlosigkeit, Kurzatmigkeit und Husten führen zu einer signifikanten Einschränkung in der Bewältigung des alltäglichen Lebens [
4,
8,
17,
21,
24]. Auch das Vorhandensein psychischer und emotionaler Belastungen bei Lungenkrebsbetroffenen ist inzwischen gut erforscht. Studien zeigen, dass Menschen mit Lungenkrebs psychisch stärker belastet sind als Betroffene mit anderen Krebsarten [
9,
10,
14,
15,
25,
27]. Zu den häufig berichteten psychischen Herausforderungen gehören u. a. Unsicherheiten, Zukunftsängste, Sorgen um nahe Angehörige und die Angst vor einer Verschlechterung des Gesundheitszustands [
2,
7,
12,
19,
21]. Qualitative Studien mit Lungenkrebsbetroffenen aus Deutschland konnten zeigen, dass die Erkrankung starke Auswirkungen in Bezug auf das Alltags- und soziale Leben und auf die Beziehungen zu Angehörigen hat [
19,
20].
Inanspruchnahme von Psychoonkologie bei Lungenkrebsbetroffenen
In einer multizentrischen Querschnittstudie aus Deutschland mit Überlebenden mit kleinzelligem Lungenkrebs zeigte sich bei 36 % (
n = 19) der Befragten eine erhöhte psychische Belastung. Von 49 Teilnehmenden wurde rund der Hälfte psychoonkologische Unterstützung im Krankenhaus angeboten und 17 % (
n = 8) haben diese auch genutzt [
5]. Eine Studie mit Daten aus zertifizierten Krebszentren in Deutschland konnte herausfinden, dass von 36.165 Krebsbetroffenen rund 37,3 % die Unterstützung durch Psychoonkolog*innen im Krankenhaus in Anspruch nahmen. Bezogen auf Lungenkrebsbetroffene lag die Inanspruchnahme bei 24,5 % und damit unter dem Durchschnitt im Vergleich zu allen Betroffenen [
18]. Dies steht in Einklang mit Ergebnissen aus einer Querschnittstudie aus den USA mit insgesamt 313 Patient*innen (davon 103 mit Lungenkrebs), welche zeigen konnte, dass Patient*innen mit Lungenkrebs eine nur halb so hohe Wahrscheinlichkeit aufwiesen, unterstützende und palliativ-pflegerische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, als Betroffene mit anderen Krebsarten [
13]. Als mögliche Erklärung für dieses Phänomen geben Kumar und Kolleg*innen an, dass Lungenkrebspatient*innen zum Beispiel im Vergleich zu Betroffenen mit Brustkrebs eine kürzere mittlere Überlebenszeit nach der Diagnose aufweisen. Daraus resultierend bliebe Lungenkrebsbetroffenen insgesamt weniger Zeit, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Zudem würden sie sich in der verbleibenden Zeit eher für medizinische Behandlungen entscheiden als für zusätzliche Angebote.
Vor dem Hintergrund, dass Menschen mit Lungenkrebs psychisch stärker belastet sind als andere Krebsbetroffene, aber die Inanspruchnahme unterstützender Angebote besonders gering ist, scheint es wichtig herauszufinden, aus welchen individuellen Gründen Lungenkrebsbetroffene Unterstützung ablehnen oder annehmen. Dies könnte dazu beitragen, in der Zukunft die Teilnahmeraten zu erhöhen oder bestehende Angebotsstrukturen an die Bedürfnisse der Betroffenen besser anzupassen.
CoreNAVI – Versorgungsbedarfe von Lungenkrebsbetroffenen
Ziel unserer CoreNAVI-Studie (
https://navicare.berlin/de/forschung/corenavi/) war es, Versorgungsbedarfe und erlebte Barrieren in der Versorgung im zeitlichen Verlauf zu erfassen. Dabei wurde auch untersucht, was die Betroffenen während ihrer Erkrankung emotional belastet, sowie nach individuellen Gründen für die Annahme oder Ablehnung des Angebots psychoonkologischer Unterstützung gefragt.
Studiendesign und Methode
Es wurden jeweils drei qualitative Interviews mit 20 Lungenkrebsbetroffenen durchgeführt, jeweils im Abstand von drei bis sechs Monaten. Die Auswahl der Studienteilnehmer*innen erfolgte nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Zeitpunkt der Diagnose, Komorbiditäten etc. Ziel war es, durch eine heterogene Studienpopulation möglichst vielfältige Erfahrungen mit dem Gesundheits- und Versorgungssystem erfassen zu können. Die Baseline-Interviews wurden zwischen Dezember 2017 und April 2019 durchgeführt und das letzte Follow-up-Interview im November 2019 abgeschlossen. Insgesamt wurden 49 Interviews durchgeführt (20 Baseline-Interviews, 16 zum 1. Follow-up-Zeitpunkt und 13 zum 2. Follow-up-Zeitpunkt). Die durchschnittliche Dauer der Interviews lag zwischen 60 und 90 min. Alle Interviews wurden digital aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Bei der Datenauswertung wurde ein deskriptiver qualitativer Ansatz verfolgt [
3,
16]. Im ersten Schritt wurde das gesamte Interviewmaterial bezüglich folgender Forschungsfragen und Themenfelder gesichtet und die entsprechenden Textpassagen markiert: Welche emotionalen Herausforderungen und Belastungen erleben die Betroffenen? Wurde den Studienteilnehmer*innen bisher schon einmal Psychoonkologie angeboten? Wurde das Angebot der Psychoonkologie genutzt? Warum wurde das Angebot der Psychoonkologie genutzt/nicht genutzt? Anhand der Forschungsfragen wurden deduktiv die Oberkategorien (emotionale Herausforderungen, Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung und Nichtinanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung) festgelegt. Die Unterkategorien wurden induktiv aus dem Datenmaterial entwickelt und herausgearbeitet. Die Datenauswertung wurde regelmäßig in einem interdisziplinären Team diskutiert.
Ergebnisse
Bei den Studienteilnehmer*innen handelte es sich um acht männliche und zwölf weibliche Lungenkrebsbetroffene im Alter von 44 bis 75 Jahren, die in einer Metropolregion an einem Universitätsklinikum behandelt wurden.
Die folgenden Ergebnisse der qualitativen Analyse werden entsprechend den drei Oberkategorien emotionale Herausforderungen, Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung sowie Nichtinanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung und den dazugehörigen Unterkategorien präsentiert.
Emotionale Herausforderungen
In den Interviews mit den Betroffenen wurden diverse emotionale Herausforderungen sichtbar. Diese bezogen sich auf eine ungewisse Zukunft oder auch auf die Verarbeitung negativer Nachrichten bzw. Untersuchungsergebnisse und damit verbunden eine Verschlechterung des Gesundheitszustands. Zudem fühlten sich manche Betroffene durch die Vielzahl an Behandlungsterminen, die in kurzen Zeitabständen stattfanden, unter Druck gesetzt und beklagten, dass ihnen keine Zeit für sich bliebe.
Auch in Bezug auf das Alltagsleben wurden Ängste und Unsicherheiten in den Interviews sichtbar, mit denen sich die Betroffenen auseinandersetzen mussten. Beispielsweise spielte die Sorge um die Familie eine zentrale Rolle, insbesondere wenn die Patient*innen minderjährige Kinder hatten. Diese Sorgen und Ängste kamen noch zusätzlich zu dem als ohnehin belastend wahrgenommenen „Kampf“ gegen die Erkrankung hinzu.
Man hat seine ganzen Ängste und Nöte, ne? Also was ist, wenn ich es nicht schaffe? Meine Tochter ist sechzehn, ne? Also wie soll der Alltag, wie soll das Leben weitergehen? Also diese Ängste halt eben und dann diese Krankheit. Man muss sich wieder zurückkämpfen, ne? Also dieser Kampf, die Angst und diese Belastung, ne? Und das alles unter einen Hut zu kriegen, also das ist verdammt schwer, ne? (LK_0207: w, 50–60 Jahre alt, Diagnose 2006)
Die Behandlung von Lungenkrebs ist durch eine hohe Komplexität der Versorgung gekennzeichnet. Neben dem Behandlungszeitdruck wurde dementsprechend auch die Behandlungsdichte und Vielzahl an Therapieterminen als sehr belastend und anstrengend von den Betroffenen empfunden. Dadurch blieb ihnen aus ihrer Sicht kaum Zeit, sich um die eigenen Bedürfnisse und die aktuelle Situation Gedanken machen zu können.
Früher hatte ich jeden Tag fünf Arzttermine, ja? Ich bin um acht hier aus dem Haus und gegen 19 Uhr war ich zurück. Das ist unglaublich, ja? Alle möglichen Ärzte und jeden Tag. Ich hatte keine Pause, keine Zeit für mich. Es war unmöglich. (LK_0214: m, 60–70 Jahre alt, Diagnose 2015)
Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung
In unserer Interviewstudie gaben 18 von 20 Teilnehmer*innen an, dass ihnen Unterstützung durch Psychoonkologie aktiv angeboten wurde. Einige der Lungenkrebsbetroffenen nutzten die Unterstützung der Psychoonkologie, um mit den psychischen und emotionalen Herausforderungen besser umgehen zu können.
Nichtinanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung
Nicht alle Betroffenen nahmen das Angebot der Psychoonkologie wahr. Einerseits äußerten sie in den Interviews, dass sie keinen Bedarf an Unterstützung hatten. Andererseits wurde bei Betroffenen eine ablehnende Haltung gegenüber psychologischer Hilfe sichtbar.
Diskussion
Die Ergebnisse unserer qualitativen Interviewstudie geben Aufschluss darüber, aus welchen Gründen Lungenkrebsbetroffene das Angebot psychoonkologischer Unterstützung in Anspruch nehmen oder ablehnen. Insgesamt betrachtet spiegelt unsere Untersuchung ähnliche Gründe für die (Nicht‑)Inanspruchnahme von psychoonkologischer Hilfe wider wie eine Mixed-methods-Studie aus der Schweiz von Tondorf et al. (2018; [
23]): Psychoonkolog*innen werden als Expert*innen angesehen, die Ratschläge geben können und Unterstützung bei der Selbsthilfe sowie Information und Beratung anbieten. Als Gründe für die Nichtinanspruchnahme wird neben dem Vorhandensein von psychischem Wohlbefinden und Selbstmanagement vor allem die soziale Unterstützung durch das persönliche Umfeld genannt. Dies deckt sich auch mit einer Studie von Weis et al. (2018), in der 63,7 % der Befragten angaben, ausreichend durch Familie und Freunde versorgt zu sein [
26].
Unsere Interviews zeigen, dass einige Betroffene für sich keinen subjektiven Bedarf sehen, weil sie z. B. auf eigene Ressourcen zurückgreifen können und daher psychoonkologische Unterstützung aus ihrer Sicht nicht brauchen. Diese Erklärung für die Nichtinanspruchnahme steht in Einklang mit Ergebnissen aus einer qualitativen Studie, in der Interviews mit psychisch belasteten männlichen Krebspatienten und Angehörigen zu Barrieren der Inanspruchnahme ambulanter Krebsberatungsstellen durchgeführt wurden [
1]. In Bezug auf die Nichtinanspruchnahme zeigt sich in unseren Interviews noch eine weitere Erklärung: Es werden Vorbehalte gegenüber psychologischer Hilfe bei einigen Betroffenen sichtbar. In einer Untersuchung aus Deutschland von Steven et al. (2019) berichteten auch Ärzt*innen, dass sie, wenn sie Unterstützung durch Psychoonkolog*innen empfehlen, oftmals mit einer ablehnenden Haltung seitens der Patient*innen konfrontiert sind [
22]. Dass eine positive Einstellung gegenüber psychologischer Unterstützung einen signifikanten Effekt auf die Inanspruchnahme hat, konnte eine Studie von Faller et al. (2017) zeigen [
6]. Dementsprechend wäre es in der Versorgungspraxis wichtig, Vorbehalte bei den Patient*innen abzubauen, z. B. durch Schulung nichtpsychologischen Personals, welches psychoonkologische Angebote vermittelt, oder durch entsprechende schriftliche Materialien zur Aufklärung über dieses Versorgungsangebot. In unserer qualitativen Studie zeigte sich eine große Zufriedenheit unter denjenigen Befragten, die das Angebot der Psychoonkologie in Anspruch genommen haben. Insbesondere die Möglichkeit des freien Sprechens über die Belastungen und der Erhalt konkreter Ratschläge wurden als besonders hilfreich wahrgenommen.
Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass Lungenkrebsbetroffene vielfältige emotionale Herausforderungen erleben. Insbesondere die genannten Unsicherheiten und Zukunftsängste sowie auch der Erhalt schlechter Nachrichten und die allmähliche Verschlechterung des Gesundheitszustands stehen dabei in Einklang mit anderen Studienergebnissen [
2,
7,
12,
19,
21]. Es wird aber auch noch eine weitere Facette des erlebten Stresses in den Interviews deutlich, die bisher wenig in der Literatur diskutiert wurde: Der Behandlungs(zeit)druck, d. h., möglichst schnell mit der Behandlung zu beginnen nach Diagnosestellung oder schnell von einer Therapie in die nächste gehen zu müssen, löst bei den Betroffenen ein Gefühl von Druck aus und wird als psychisch belastend empfunden. Zusätzlich haben die Befragten eine Vielzahl notwendiger Therapien und Untersuchungen zu absolvieren, was sie ebenfalls als körperlich und psychisch anstrengend wahrnehmen. Insgesamt betrachtet könnte dies einen Hinweis darauf geben, warum speziell bei Lungenkrebsbetroffenen die Inanspruchnahme von psychoonkologischer Unterstützung geringer ausfällt als bei Betroffenen mit anderen Krebsarten, obwohl die psychische Belastung besonders hoch ist. Unsere Interviews zeigen, dass bei einigen Betroffenen schlichtweg keine Kapazitäten vorhanden zu sein scheinen, um Unterstützung (zusätzlich zur rein medizinischen Behandlung der Erkrankung und Nebenwirkungen) wahrnehmen zu können. Für die Versorgungspraxis ergibt sich daraus die Frage, wie es dennoch gelingen könnte, dass Betroffene mit Bedarf die Möglichkeit bekommen, das Angebot psychoonkologischer Unterstützung in Anspruch nehmen zu können.
Fazit für die Praxis
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Neben vielfältigen Zukunftsängsten und Unsicherheiten in Bezug auf den Verlauf der Erkrankung erleben die Betroffenen auch Behandlungs(zeit)druck als psychische Belastung.
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Dieser Behandlungs(zeit)druck kann dazu führen, dass Betroffene aus ihrer Sicht keine Kapazitäten für das Angebot psychoonkologischer Unterstützung haben.
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Als weitere Gründe für die Nichtinanspruchnahme werden soziale Unterstützung durch das persönliche Umfeld und das subjektiv eingeschätzte Vorhandensein von psychischem Wohlbefinden genannt sowie die Absicht, es allein schaffen zu wollen.
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Es wurden Vorbehalte gegenüber psychoonkologischer Hilfe in den Interviews sichtbar, die in der Versorgungspraxis abgebaut werden sollten.
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Nutzer*innen von psychoonkologischer Unterstützung schätzen vor allem die Möglichkeit, dort offen über Ängste und Sorgen sprechen zu können, ohne das private Umfeld belasten zu müssen, sowie konkrete Hilfestellungen zu erhalten.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autorinnen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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