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Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde 12/2015

01.12.2015 | Pädiatrische Infektiologie | Konsensuspapiere

Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit und des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte

verfasst von: Dr. J. Pfeil, PD Dr. R. Kobbe, Dr. S. Trapp, Dr. C. Kitz, PD Dr. M. Hufnagel

Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde | Ausgabe 12/2015

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Zusammenfassung

Minderjährige Flüchtlinge in Deutschland bilden eine besonders vulnerable Gruppe in unserer Gesellschaft. Dabei spielen Infektionskrankheiten eine wesentliche Rolle bei der medizinischen Versorgung. Aus infektiologischer Sicht sind Flüchtlinge keine gefährliche, sondern aufgrund der besonderen Lebensumstände eine gefährdete Gruppe. Auch in Krisensituationen erfordern ethische und ärztliche Verpflichtungen, ein Höchstmaß an medizinischer Versorgung zu erreichen. Die hier dargestellten Empfehlungen zur Infektionsdiagnostik und -prävention von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter dienen dazu, den Impfschutz zu optimieren und Infektionskrankheiten, auch vor dem Hintergrund von Sammelunterkünften, Sprachbarrieren und unterschiedlichen kulturellen Auffassungen, zu diagnostizieren, zu behandeln und deren Weiterverbreitung zu verhindern.
In den Erstaufnahmestellen sollen durch ein Kurzscreening (besser durch eine frühzeitige Basisuntersuchung) akute medizinische Probleme, potenziell übertragbare Infektionen (inkl. Tuberkulose), spezifische Impflücken, aber auch andere behandlungsbedürftige Erkrankungen erkannt und behandelt werden. Die Dokumentation aller Befunde ist essenziell, um Doppeluntersuchungen zu vermeiden und die weitere Behandlung zu optimieren. Hierfür ist eine funktionierende Kommunikationsstruktur zu schaffen.
Nach Verteilung der Flüchtlinge auf die Kommunen sollen im Rahmen der ambulanten und evtl. stationären Versorgung die von der STIKO empfohlenen Standardimpfungen vervollständigt und Flüchtlinge in allen medizinischen Bereichen mit dem gleichen medizinischen Niveau versorgt werden wie die einheimische Bevölkerung. Wegen einer höheren Prävalenz von multiresistenten Erregern (MRE) in den Herkunftsländern ist bei stationären Aufnahmen in vielen Fällen ein MRE-Screening empfohlen.
Fußnoten
1
Das Dokument kann unter www.bvkj.de/mitglieder/medien-und-materialien als pdf-Datei heruntergeladen werden.
 
2
Ein Screening auf posttraumatische Belastungsstörungen (engl. posttraumatic stress disorder, PTSD) ist prinzipiell sinnvoll, sollte jedoch nur dann angeboten werden, wenn auch eine psychologische Nachbetreuung im Fall eines positiven Ergebnisses gewährleistet ist. Andernfalls wird eine erneute Traumatisierung durch die Befragung, die nicht adäquat behandelt werden kann, riskiert.
 
3
Infos über ausländische Impfpläne: http://apps.who.int/immunization_monitoring/globalsummary/schedules
 
4
In einer aktuellen Stellungnahme des Robert Koch-Instituts vom 5.10.2015 [16] können bei Flüchtlingen ausnahmsweise mündliche Angaben zu erfolgten Impfungen auch ohne Impfdokumente Berücksichtigung finden, sofern sie als glaubwürdig eingeschätzt werden. Eine solche Ausnahme kann bei Flüchtlingen aus Syrien gemacht werden, die vor 2010 geimpft worden sind. Syrien hatte vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs ein effizientes Impfprogramm mit exzellenten Impfraten. Wenn die Eltern oder der/die Jugendliche glaubhaft versichern können, dass vor Ausbruch des Bürgerkriegs eine vollständige Immunisierung nach dem syrischen Impfplan erfolgte, kann auf die Durchführung von vielen Nachholimpfungen verzichtet werden (Ausnahmen: Varizellen und Meningokokken Gruppe C bzw. ACWY Konjugatimpfstoff, da diese in Syrien nicht im Impfprogramm enthalten sind). Bleiben Zweifel, gilt das empfohlene Vorgehen bei den Nachholimpfungen.
 
5
Um Ausbrüche ausreichend sicher vermeiden zu können, ist eine einmalige MMR+V-Impfung zunächst ausreichend. Die 1. Impfdosis sollte im Alter von 9 Monaten (bis zu einem Alter von 6 Jahren) aufgrund eines möglicherweise höheren Fieberkrampfrisikos als getrennte MMR+V-Impfung verabreicht werden [14], kann aber aus medizinischen oder organisatorischen Gründen auch als MMRV-Vierfachimpfung verabreicht werden [16]. Die 2. MMRV-Impfung (bevorzugt als Vierfachimpfstoff) soll zu Beginn des 2. Lebensjahres [14] nachgeholt werden. Hinweis: Der Vierfachimpfstoff Priorix Tetra® ist nur bis zu einem Alter von 12 Jahren zugelassen.
 
6
Um Ausbrüche ausreichend sicher vermeiden zu können, ist eine einmalige MMRV-Impfung zunächst ausreichend. Die 2. MMRV-Impfung kann zu einem späteren Zeitpunkt (d. h. zu Beginn des 2. Lebensjahres [14]) nachgeholt werden.
 
7
Statt der in Deutschland empfohlenen Standardimpfung gegen Meningokokken der Serogruppe C ist bei Flüchtlingen aus den derzeitigen Regionen die Impfung mit einem tetravalenten MenACWY-Konjugatimpfstoff alternativ zu erwägen, da die Flüchtlinge aus Ländern mit höherer Prävalenz von Meningokokken der Serogruppen A, W, Y kommen, deshalb mit diesen Erregern besiedelt sein können (was zu Ausbrüchen führen kann) und möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt Reisen in ihre Heimatländer (als sogenannte „Visiting Friends and Relatives“ (VFR)) unternehmen. Aufgrund des vergleichbaren Preises der MenACWY-Konjugatimpfstoffe mit den MenC-Impfstoffen fallen bei Verwendung von MenACWY keine wesentlichen Zusatzkosten an.
 
8
Als Hochprävalenzländer gelten Länder mit einer Erkrankungsprävalenz von ≥ 1 % für HIV (d. h. derzeit nur in Ländern in Sub-Sahara Afrika; nicht Naher und Mittlerer Osten, z. B. Syrien) [23] bzw. ≥ 8 % für Hepatitis B (d. h. derzeit nur in Ländern in Sub-Sahara Afrika; nicht Naher und Mittlerer Osten, z. B. Syrien) [22].
 
9
Ein informiertes Einverständnis wird benötigt
 
10
Der IGRA hat den Vorteil gegenüber dem THT, dass keine zweite Vorstellung zum Ablesen des Testergebnisses notwendig ist und keine falsch-positiven Screening-Ergebnisse bei Z. n. BCG-Impfung erfasst werden. Dafür ist der Test teurer als der THT und die Test-Performance bei Kindern unter 5 Jahren ist nicht ausreichend evaluiert.
 
11
Ein Muster für ein Ersatzformular zur Dokumentation durchgeführter Impfungen (bei fehlendem Impfpass) findet sich in der STIKO-Publikation [16].
 
12
Abzurufen unter http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2012/Ausgaben/30_12.pdf?__blob=publicationFile.
 
13
Die Grenze von 3 Monaten ist arbiträr gewählt, da es keine Daten zur MRE-Besiedelung bei Flüchtlingen gibt. Bei neuen Erkenntnissen muss die Zeitangabe ggf. revidiert werden.
 
14
Aus kulturellen Gründen sollte eine Vorstellung bei einer Frauenärztin bevorzugt werden
 
15
Der Stand zur Einführung von Gesundheitskarten für Flüchtlinge in den einzelnen Bundesländern kann hier nachgelesen werden: www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gp_specials/fluechtlinge/default.aspx?sid=896098&cm_mmc=Newsletter-_-Newsletter-C-_-20151013-_-Flüchtling.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit und des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte
verfasst von
Dr. J. Pfeil
PD Dr. R. Kobbe
Dr. S. Trapp
Dr. C. Kitz
PD Dr. M. Hufnagel
Publikationsdatum
01.12.2015
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Monatsschrift Kinderheilkunde / Ausgabe 12/2015
Print ISSN: 0026-9298
Elektronische ISSN: 1433-0474
DOI
https://doi.org/10.1007/s00112-015-0003-9

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