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Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 9/2010

01.09.2010 | Leitthema

Priorisierung in der medizinischen Versorgung

Unabweisbare Aufgabe, unnützer Luxus oder Spiel mit dem Feuer? Eine sozialmedizinische Position1

verfasst von: Prof. Dr. Dr.phil. H. Raspe

Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz | Ausgabe 9/2010

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Zusammenfassung

Während das Thema der Prioritätensetzung in der medizinischen Versorgung im Ausland seit Mitte der 1980er-Jahre diskutiert wird, gelingt es in Deutschland nicht, eine solche Diskussion auch nur zu beginnen. Im Gegenteil, sie wird aktiv unterdrückt. Dabei hilft eine bewusste oder fahrlässige Verwechselung von Priorisierung und Rationierung. Auch die gesundheitspolitische Debatte vernachlässigt immer wieder die Frage, wofür die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ihre im internationalen Vergleich umfangreichen Mittel einsetzen will; sie konzentriert sich auf die Einnahmeseite. Dies schützt das Postulat der deutschen Gesundheitspolitik, dass jedem GKV-Versicherten alles medizinisch Indizierte jederzeit rasch und uneingeschränkt zur Verfügung stehe. Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist es plausibel zu machen, dass Rationierung und Priorisierung zwei ganz unterschiedliche Reflexions- und Handlungsprogramme beinhalten. Dies wird am Beispiel der ersten Empfehlungen der STIKO zur Impfung gegen die pandemische Influenza (H1N1) ausgeführt – unter Rückgriff auf Priorisierungsmodelle in Schweden, England und Oregon/USA. Ausführlicher werden mögliche Gegenstände, Ebenen, Kriterien, ethische Prinzipien und normative Implikationen von Priorisierung dargestellt.
Fußnoten
1
Es darf nicht übersehen werden, dass sich deutsche Veröffentlichungen zur Priorisierung in der gesundheitlichen Versorgung bis in die 1990er-Jahre zurückverfolgen lassen. Die erste mir bekannte Publikation ist die von Fleischhauer aus dem Jahr 1997 (cf. auch Fleischhauer 2007 [2]).
 
2
Ein Kassenarzt hat sozialrechtlich gesehen keinen Anspruch auf die Vergütung jeder einzelnen Leistung, sondern „nur“ auf einen fairen Anteil an dem, was die Krankenkassen seiner Kassenärztlichen Vereinigung gesamthaft zur Verfügung stellen. Hierfür hat sich der Vertragsarzt verpflichtet, jeden Kassenpatienten nach den Vorgaben des Rechts und der ärztlichen Kunst zu behandeln.
 
3
http://www.oregon.gov/DHS/healthplan/priorlist/main.shtml (30.12.2009).
 
4
Diese Kompetition ist in staatlich finanzierten Gesundheitswesen von besonderer Bedeutung. In Deutschland spielte sie bisher eine kaum sichtbare Rolle. Mit wachsendem Zuschuss des Staates zum Gesundheitsfond gerät unser GKV-System nicht nur in eine zunehmende Abhängigkeit von der Bundespolitik, sondern auch in eine zunehmend direkte Konkurrenz mit anderen Politikzielen.
 
5
Damit sind alle für die medizinische Versorgung von Kranken notwendigen Professionen gemeint, also zum Beispiel auch die Pflege, Physio- und Ergotherapie, klinische Psychologie, Sozialpädagogik, Ökotrophologie etc.
 
6
Diese Leitlinie ist im Januar 2008 durch eine überarbeitete und erweiterte Version ersetzt worden. Sie ist nur noch in schwedischer Sprache verfügbar. Die erste auch in Englisch angebotene Fassung ist über die Internetseite http://www.socialstyrelsen.se nicht mehr erreichbar.
 
7
http://www.oxfordshire.nhs.uk/documents/SOUTHCENTRALETHICALFRAMEWORK.pdf (8.1.2010).
 
8
Dabei ist zu berücksichtigen, dass ethische Aspekte im sog. Pandemieplan abgehandelt werden. Die Impfempfehlung hat sich an diesem Pandemieplan orientiert sowie an anderen internationalen Empfehlungen (in denen Indikationsgruppe 1 fast immer auftaucht).
 
9
Zitiert aus dem „Ethical Framework to support priority setting and resources allocation within collaborative commissioning arrangements“ der Strategic Commissioning Group West Midlands (Version 1 – October 2009), das uns von D. Austin (Birmingham) zur Verfügung gestellt wurde (p. 3/9). Siehe dazu auch: The NHS Confederation (2007): Priority setting: an overview. http://www.nhsconfed.org/pctnetwork (17.1.2010).
 
10
Auch wenn sie auf Schwedisch verwirrender Weise „riktlinjer“ heißen, was aber von Socialstyrelsen selbst mit engl. „guidelines“ übersetzt wird.
 
11
Parallel zur kardiologischen Priorisierungsliste existiert in Schweden heute eine Liste von Qualitätsindikatoren zur Darlegung und Bewertung der Versorgungsqualität auf verschiedenen Ebenen.
 
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Hirsh J, Guyatt G (2009) Clinical experts or methodologists to write clinical guidelines? Lancet 374:273–275CrossRefPubMed Hirsh J, Guyatt G (2009) Clinical experts or methodologists to write clinical guidelines? Lancet 374:273–275CrossRefPubMed
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Zurück zum Zitat Fleischhauer K (1997) Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung – ein Blick über die Grenzen. In: Honnefelder L, Streffer C (Hrsg) Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 2. Berlin, De Gruyter, New York, S 137–156 Fleischhauer K (1997) Probleme der Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen durch Prioritätensetzung – ein Blick über die Grenzen. In: Honnefelder L, Streffer C (Hrsg) Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 2. Berlin, De Gruyter, New York, S 137–156
3.
Zurück zum Zitat Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2000) Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Dtsch Arztebl 97:786–792 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2000) Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Dtsch Arztebl 97:786–792
4.
Zurück zum Zitat Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2007) Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dtsch Arztebl 40(104):A 2750–A 2754 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2007) Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dtsch Arztebl 40(104):A 2750–A 2754
5.
Zurück zum Zitat Gerst T (2008) Für die Zukunft führt nichts an dieser Debatte vorbei. Dtsch Arztebl 105(48):C 2089–C 2091 Gerst T (2008) Für die Zukunft führt nichts an dieser Debatte vorbei. Dtsch Arztebl 105(48):C 2089–C 2091
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Zurück zum Zitat Meyer T, Raspe H (2009) Das schwedische Modell der Priorisierung medizinischer Leistungen: theoretische Rekonstruktion, europäischer Vergleich und Prüfung seiner Übertragbarkeit – Hintergrund und erste Ergebnisse. In: Wohlgemuth WA, Freitag MH (Hrsg) Priorisierung in der Medizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S 89–118 Meyer T, Raspe H (2009) Das schwedische Modell der Priorisierung medizinischer Leistungen: theoretische Rekonstruktion, europäischer Vergleich und Prüfung seiner Übertragbarkeit – Hintergrund und erste Ergebnisse. In: Wohlgemuth WA, Freitag MH (Hrsg) Priorisierung in der Medizin. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S 89–118
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Zurück zum Zitat Meyer T, Raspe H (2009) Wie können medizinische Leistungen priorisiert werden? Ein Modell aus Schweden. Gesundheitswesen 71:617–622CrossRefPubMed Meyer T, Raspe H (2009) Wie können medizinische Leistungen priorisiert werden? Ein Modell aus Schweden. Gesundheitswesen 71:617–622CrossRefPubMed
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Zurück zum Zitat Raspe H, Meyer T (2009) Priorisierung: Vom schwedischen Vorbild lernen? DÄB 106(21):1036–1039 Raspe H, Meyer T (2009) Priorisierung: Vom schwedischen Vorbild lernen? DÄB 106(21):1036–1039
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Zurück zum Zitat McIntyre D, Mooney G, Jan S (2009) Need: What is it and how do we measure it? In: Detels R, Beaglehole R, Lansang MA, Gulliford M (Hrsg) The Oxford textbook of public health, 5. Aufl. Oxford University, New York, S 1535–1548 McIntyre D, Mooney G, Jan S (2009) Need: What is it and how do we measure it? In: Detels R, Beaglehole R, Lansang MA, Gulliford M (Hrsg) The Oxford textbook of public health, 5. Aufl. Oxford University, New York, S 1535–1548
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Zurück zum Zitat GRADE Working Group (2004) Grading quality of evidence and strength of recommendations. BMJ 328(7454):1490–1494CrossRef GRADE Working Group (2004) Grading quality of evidence and strength of recommendations. BMJ 328(7454):1490–1494CrossRef
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Zurück zum Zitat Callahan D (2002) Ziele der Medizin: Welche neuen Prioritäten müssen gesetzt werden? In: Allert G (Hrsg) Ziele der Medizin. Schattauer, Stuttgart, S 22–81 Callahan D (2002) Ziele der Medizin: Welche neuen Prioritäten müssen gesetzt werden? In: Allert G (Hrsg) Ziele der Medizin. Schattauer, Stuttgart, S 22–81
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Zurück zum Zitat The Swedish Parliamentary Priorities Commission (1995) Priorities in health care. The Ministry of Health and Social Affairs, Stockholm Offsetcentral The Swedish Parliamentary Priorities Commission (1995) Priorities in health care. The Ministry of Health and Social Affairs, Stockholm Offsetcentral
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Zurück zum Zitat Norrvig B, Wester P, Stibrant Sunnerhagen K et al (2007) Beyond conventional stroke guidelines. Setting priorities. Stroke 38:2185–2190CrossRef Norrvig B, Wester P, Stibrant Sunnerhagen K et al (2007) Beyond conventional stroke guidelines. Setting priorities. Stroke 38:2185–2190CrossRef
Metadaten
Titel
Priorisierung in der medizinischen Versorgung
Unabweisbare Aufgabe, unnützer Luxus oder Spiel mit dem Feuer? Eine sozialmedizinische Position1
verfasst von
Prof. Dr. Dr.phil. H. Raspe
Publikationsdatum
01.09.2010
Verlag
Springer-Verlag
Erschienen in
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz / Ausgabe 9/2010
Print ISSN: 1436-9990
Elektronische ISSN: 1437-1588
DOI
https://doi.org/10.1007/s00103-010-1112-1

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