Erschienen in:
01.05.2014 | Übersichten
Psychopathologie im sozialen Kontext
verfasst von:
Prof. Dr. H. Helmchen
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 5/2014
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Zusammenfassung
Karl Jaspers wandte sich in seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913) gegen die Verabsolutierung von Partialerkenntnissen und setzte die heute Interdisziplinarität genannte Vermeidung methodischer Einäugigkeit dagegen. Dabei hatte er vorzugsweise die gemeinsame Berücksichtigung der mit naturwissenschaftlichen (und epidemiologischen) Methoden zu erklärenden psychopathologischen Phänomene des „Naturwesens“ Mensch sowie die mit geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Methoden dem Verstehen zu öffnende individuelle Fallgeschichte des „Kulturwesens“, das der Mensch eben auch ist, im Sinn. Da er aber ihren sozialen Kontext nur kurz behandelte, werden hier 1. soziale Einflüsse auf Inhalte und Formen des Erscheinungsbildes psychopathologischer Phänomene sowie auf ihre Definitionen, die pathologische gegen abnorme psychische Phänomene abgrenzen, 2. soziale Bedingungen, Prägungen von Dispositionen als Risikofaktoren und die soziale Situagenie psychopathologischer Phänomene, 3. ihre sozialen Folgen mit konkreten Beispielen illustriert. Zusammengenommen sind dies Argumente für ein biopsychosoziales Modell, das allerdings bisher hinsichtlich kausaler Erklärungen als willkürlich angesehen wird, das vage bleibt und das keine Regeln zur Gewichtung der Relevanz einzelner Determinanten kennt. Aber der edukativ-didaktische Wert des Modells, den Patienten in seiner Gesamtheit systematisch zu erfassen, ist unbestritten, und es sollte Psychiater ermutigen, die komplexen Bedingungskonstellationen psychischer Störungen auf der Mikroebene vertiefend zu erfassen.