Jedem Patienten ein gutes Wort: Mit der Landärztin auf Visite

Martina Lommler-Thamer genießt es, Landärztin in dem kleinen Dorf Schönbach im Lahn-Dill-Kreis zu sein. Sie weiß, wie die Menschen auf dem Land ticken, und sie findet es toll, ihr eigener Chef zu sein. Ihre Praxis hat sie straff organisiert. Wir begleiten Sie bei ihren Hausbesuchen im Westerwald. "Ich bin oben im Wald, falls etwas ist“, sagt Martina Lommler-Thamer zu ihrer Mitarbeiterin, bevor sie sich zu den Hausbesuchen aufmacht. Sie hat zwar ihr Mobiltelefon dabei, aber im Westerwald gibt es Funklöcher. Und der 85 Jahre alte Patient, den sie auf ihrer Tour als erstes besucht, wohnt abgelegen. Die Menschen aus dem Westerwald, erzählt sie während der Autofahrt, sind ein ganz spezieller Schlag. „Sie sind total lieb und manchmal ruppig“. Damit kann sie gut umgehen. Sie ist im Nachbarort von Schönbach, wo sie ihre Praxis hat, aufgewachsen. Als Kind war sie mit ihrem Vater, der Schiedsrichter war, auf den Fußballplätzen der Gegend unterwegs. Sie kennt Land und Leute – und spricht ihren Dialekt. Die Menschen mögen sie und zeigen ihr das auch: Sie deutet auf eine Zucchini auf dem Rücksitz, die ihr ein Patient aus seinem Garten mitgebracht hat. Andere versorgen sie mit Obst oder selbstgemachten Marmeladen. „Das ist ganz ähnlich wie bei den Landärzten in den Fernsehserien“, sagt sie und lacht. Nach einem kurzen Stück durch den Wald fährt sie vor einem Haus vor. Der ältere Herr freut sich, als er ihr die Tür aufmacht. Lommler-Thamer fragt nach seinen Söhnen, misst den Blutdruck, schaut sich den entzündeten Fuß an und will wissen, was es zu essen gibt. Sie ist zufrieden, als sie hört, dass die Schwiegertochter ihm etwas vorbeigebracht hat. „Ich bin manchmal nicht nur Ärztin, sondern auch Sozialarbeiterin“, erklärt sie auf der Fahrt zur nächsten Patientin. Ihre Lebenserfahrung hilft ihr, den richtigen Ton zu treffen. „Die Patienten nehmen mich ernst.“ Sie hat Krankenschwester gelernt, das Abitur nachgeholt und eine Familie gegründet. Erst vor anderthalb Jahren hat sie ihren Facharzt gemacht und sich in Schönbach niedergelassen, einem Stadtteil von Herborn mit 1 500 Einwohnern. Sie fühlt sich dort wohl – in der Praxis, die sie von ihrem Vorgänger übernommen hat, gibt sie den Takt vor. „Ich wollte schon immer eine Praxis haben und eigenständig arbeiten.“ Klinik war nicht das Richtige Mit der Hierarchie in Kliniken hat sie keine guten Erfahrungen gemacht. „Ich sage, was ich denke.“ Es gab Chefärzte, denen das überhaupt nicht gefallen hat. Derzeit schreibt sie an ihrer Doktorarbeit. Ihre Sprechzeiten sind kompakt, ohne Leerläufe: Montag und Freitag von 9 bis 15 Uhr, Dienstag und Donnerstag von 12 bis 19 Uhr, mittwochs von 9 bis 14 Uhr. Etwa 950 Patienten hat sie im Quartal, sie ist die einzige Ärztin im Ort, im Schnitt macht sie drei bis fünf Hausbesuche täglich. Sie betreut eine Wohngruppe mit 13 geistig Behinderten in Herborn und Patienten in zwei Altenheimen. Sie beschäftigt eine Vollzeit- und eine Halbtagskraft und zwei Helferinnen auf 400-Euro-Basis. Ihr Wochenarbeitspensum liegt bei 50 Stunden. Mit dem Praxiswagen fährt Martina Lommler-Thamer über die Dörfer. Sabine Schiner × Lommler-Thamer fährt vor einem Pflegeheim vor und nimmt den Parkplatz, der für Arztbesuche reserviert ist. Ihre Patientin hat sich hingelegt, die Ärztin hilft ihr auf, setzt sich neben sie aufs Bett, fragt, wie es geht. Sie hört sich alles an, untersucht sie auf Druckstellen, kontrolliert den Puls. Die Patientin beginnt zu erzählen, die beiden kennen sich gut. Der Mann der Patientin war Krankenpfleger – und Lommler-Thamer hat bei ihm gelernt. „Hier kennt man sich eben“, sagt sie. Der Frau rät sie, die lästigen Fliegen – das Pflegeheim ist von Kuhweiden umgeben – mit der Klatsche zu erledigen. „Das ist ein gutes Training für die Koordination.“ Als sie hört, dass die Patientin regelmäßig kleinere Spaziergänge macht, lobt sie sie. Anschließend dokumentiert sie alles auf dem Notebook und bespricht mit der Altenpflegerin die weitere Behandlung. „Manche Patienten hätten gerne, dass ich mir für ein Kaffeekränzchen Zeit nehme, aber das geht nicht.“ Die Uhren mögen im Westerwald einen Tick langsamer gehen als in der Großstadt, Zeit zum Herumtrödeln hat die Landärztin nicht. Lommler-Thamer klagt, wie viele ihrer Kollegen, über bürokratische Vorgaben, die einen großen Teil ihrer Arbeit bestimmen. Doch sie ist keine, die unangenehme Dinge vor sich herschiebt. Den Schreibkram erledigt sie frühmorgens. Samstags bearbeitet sie in aller Ruhe Anträge und Gutachten. Um sich die Arbeit zu erleichtern, hat sie die Praxis komplett auf EDV umgestellt. Ein großes Ärgernis sind für die Ärztin die Rabattverträge. Vor allem ältere Patienten seien verunsichert: „Da haben uns die Politiker eine Menge Ärger eingehandelt.“ Begeisterung trotz Alltagsstress Dennoch: Ihre Begeisterung für den Beruf ist ansteckend. „Ich kann jungen Kollegen nur raten, sich auf dem Land niederzulassen.“ Die Tätigkeit als Hausärztin erfordere allerdings eine umfassende Ausbildung. „Man sollte die Basisgrundlagen beherrschen, von der Chirurgie, Neurologie, HNO über Pädiatrie bis zur Geriatrie, Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und mehr“, erläutert sie. Dank Weiterbildungsverbünden und Koordinierungsstellen sei die Organisation leichter geworden. Sie selbst habe leider zu spät davon erfahren. Froh ist sie über den Arztnotruf in Wetzlar. Ab 18 Uhr und an Wochenenden werden dort von der Zentrale alle Anrufe entgegengenommen. „Ich bin in den anderthalb Jahren, seitdem ich die Praxis habe, nur sechsmal abends zu einem Einsatz ausgerückt.“ Es sei auch ein Vorteil, dass sie mit ihrem Mann im 16 Kilometer entfernten Dillenburg wohnt. „Da ist die Schwelle, mich abends oder am Wochenende anzurufen, niedriger.“ Die letzte Patientin an diesem Tag ist 91 Jahre alt. Sie war sechs Monate im Pflegeheim, wollte dann aber unbedingt wieder zurück in ihr Haus. Die alte Dame lebt allein und ist nicht mehr gut zu Fuß. Die Ärztin macht sich Sorgen. Kommen denn der Pflegedienst und die Putzfrau regelmäßig vorbei? Ernährt sie sich richtig? Spätzle mit Salat gab es zu Mittag, selbst gekocht. Sie drückt den Arm der Ärztin, als sie sich zu ihr aufs Sofa setzt. Martina Lommler-Thamer sieht den Notfallknopf auf dem Wohnzimmertisch liegen. „Na, da liegt er gut“, sagt sie. Die Patientin lächelt verschmitzt. Er stört bei der Hausarbeit. Die Ärztin sagt ihr, dass es ihr lieber wäre, wenn sie wieder im Pflegeheim wäre. „Da steht das Essen fertig auf dem Tisch.“ Und geselliger sei es dort auch. Die Frau nickt und fragt: „Aber was wird dann aus dem Haus?“ Sie lässt die Ärztin nur ungern gehen. Ob sie sich denn noch kurz das Schreiben der Krankenkasse ansehen könnte? Wann sie wiederkommt? „Wenn Sie zurück ins Pflegeheim gehen, sehen wir uns jede Woche.“ Lommler-Thamer rückt vor dem Haus der alten Dame noch schnell die Mülltonne an ihren Platz an der Hauswand. „Sonst macht sie das glatt selbst und dann passiert noch was.“ Auf dem Weg zurück in die Praxis erzählt sie, dass sie versucht, ihren Patienten eine positive Grundhaltung zu vermitteln. „Ich versuche herauszufinden, was sie noch können, um sie zu mobilisieren.“ Vom Gehweg winkt ein älterer Herr mit Stock. Die Ärztin hält an, es ist einer ihrer Patienten. „Was haben Sie denn gestern bloß mit mir gemacht, Frau Doktor?“ fragt er streng. Die Ärztin runzelt besorgt die Stirn. Dann sagt er lächelnd: „Heut‘ geht‘s mir so gut, ich will mich bei Ihnen dafür bedanken“.

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