Seltene Krankheiten sind häufiger als erwartet

Die Pädiatrie ist die Schlüsseldisziplin bei der Versorgung seltener Krankheiten, denn mehr als die Hälfte manifestieren sich bereits im Kindes- und Jugendalter. Da es sich häufig um Multisystemerkrankungen von besonderer Komplexität handelt, bedarf es für Diagnostik und Therapie eines multidisziplinären und multiprofessio-nellen Netzwerks. Etwa drei Viertel der Ärzte schätzten in einer Umfrage ihr Wissen zur Epidemiologie seltener Krankheiten – sogenannter „Orphan Diseases“ - als schlecht oder sehr schlecht ein, zitierte Dr. Andreas Reimann, stellvertretender Vorsitzender der „Allianz Chronischer Seltener Krankheiten e.V.“ (ACHSE), auf der 108. DGKJ-Jahrestagung aus einer vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie. Unsichere Datenlage Als selten werden laut EU-Direktive Krankheiten eingestuft, an der weniger als einer von 2.000 Menschen leidet. Wie viele Krankheiten dieses Prävalenzkriterium erfüllen, weiß man nicht genau. Die Zahlen schwanken zwischen 5.000 und 7.000 und beinhalten auch „Ultraorphan-Diseases“ wie das AAA-Syndrom und Denys-Drash-Syndrom mit etwa 70 bzw. 150 bekannten Fällen weltweit oder die Spinale Muskelatrophie vom Typ 2 und Mukoviszidose mit etwa 1.200 bzw. 8.000 Fällen in Deutschland. Zusammengenommen gibt es hierzulande etwa 4 Millionen und in der EU 30 Millionen Betroffene. Die unsichere Datenlage ist zum Teil auch damit zu erklären, dass die Terminologie der seltenen Erkrankungen unzureichend ist. Die ICD-10 Verschlüsselung sei unvollständig und die Alternative „Orphacode“ ebenfalls lückenhaft [1] und zudem nicht kompatibel mit ICD-10, wies Reimann auf grundlegende Defizite hin. In der Regel fehlten Register bzw. deckten die wenigen vorhandenen selten die ganzen Populationen ab. Häufig unzureichend: vernetzte Versorgung Die optimale Versorgung von Kindern mit seltenen Erkrankungen ist nach Überzeugung von Reimann ärztlich interdisziplinär und multiprofessionell (Physio-/Ergotherapeuten, Psychologen) sowie sektorenübergreifend. Pädiatern komme dabei eine Schlüsselfunktion zu, denn sie blieben auch dann, wenn die Patienten das Erwachsenenalter erreichten, häufig die Ansprechpartner. In der Realität sieht es jedoch häufig so aus, dass es die Vernetzung zwischen Pädiater, Fachärzten, Heilmittelerbringer und den – zu wenigen – Kompetenzzentren nicht gibt und der Pädiater bei der schwierigen Diagnose und Versorgung dieser Patienten auf sich allein gestellt ist. Darüber hinaus oder als Folge der fehlenden Strukturen mangelt es vielfach an wissenschaftlicher Evidenz. Kompetenzbündelung wird nicht unterstützt Die einfache Gleichung „seltene Erkrankung = kein Interesse der Pharmaindustrie“, hält Reimann nicht mehr für richtig. Einen gewissen Anreiz bietet seit einigen Jahren die Möglichkeit der mit gewissen Marktvorteilen verbundenen „Orphan Drug“-Registrierung (in den USA seit 1985, in der EU seit 2000). Bisher sind etwa 200 Präparate nach diesem Modus zugelassen und eine Vielzahl weiterer in verschiedenen Stadien der klinischen Entwicklung. Highlights vom DGKJ-Kongress 2012 Interessantes von der 108. Jahrestagung der DGKJ finden Sie in diesem Dossier! Von der GKV werden bei Patienten mit seltenen Erkrankungen die zum Teil sehr hohen (bis zu 500.000 Euro pro Jahr) Arzneimittelkosten (noch) akzeptiert und erstattet. Nicht ausreichend vergütet wird niedergelassenem Arzt und stationären Einrichtungen dagegen der für die komplexe Koordination erforderliche erhöhte Zeitbedarf. Die Diskrepanz verdeutlichte Reimann am Beispiel der Mukoviszidose. Nach europäischem Konsensus bräuchte man sieben Personaläquivalente (ärztliche und nichtärztliche Therapeuten) pro 100 Patienten. In Deutschland stehen für die ambulante Versorgung am Krankenhaus etwa 2,5 zur Verfügung und vergütet aus dem GKV-System werden etwa 1,5 [2]. Die ambulante spezialärztliche Versorgung ist 2011 durch das Versorgungsstrukturgesetz reformiert worden, weil der Gesetzgeber zum ersten Mal erkannt hat, dass ein grundsätzliches und nicht nur ein graduelles Problem in der Vergütung besteht. Im Zuge dessen soll auch eine neue Gebührenordnung für die pädiatrischen Ambulanzen aufgestellt werden. Doch nach allem, was er in den vergangenen neun Monaten in Hinblick auf die Art und Weise der Umsetzung im Bereich des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) erlebt hat, zweifelt Reimann daran, dass sich die Selbstverwaltung den Problemen mit der ausreichenden Ernsthaftigkeit widmet. Initiativen zur Verbesserung der Versorgungssituation Um die Situation der Betroffenen zu verbessern, bedarf es mehr qualitätsmäßig gesicherter Informationen für Ärzte, Patienten und Angehörige sowie einer Vernetzung von Versorgung und Forschung. Neben der Schaffung von zusätzlichen Kompetenzzentren wünscht sich Reimann vor allem eine Verbesserung der Schnittstellen zwischen ambulant und stationär, zwischen primär- und spezialärztlicher Versorgung, aber auch – Stichwort „Transition“ – zwischen Pädiatrie und Erwachsenenmedizin. „Wir wollen, dass die Kinder erwachsen werden und eine Chance haben, als Erwachsene mit ihrer Krankheit zu leben – da muss es natürlich auch eine entsprechende medizinische Versorgung geben.“ Vielversprechende Ansätze sind vorhanden. Um den Betroffenen eine gemeinsame Stimme zu geben, haben sich in der ACHSE (Allianz Chronischer Seltener Krankheiten) über 90 Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen. Als übergeordnetes Netzwerk will die Organisation Ressourcen und Know-how bündeln und Lösungen vorantreiben [3]. Unter anderem wurde eine Hotline installiert, bei der Ärzte zu diagnostischen Fragen anrufen können [4]. Seit 2010 besteht das NAMSE (Nationales Aktionsbündnis für Men-chen mit seltenen Erkrankungen). Der Zusammenschluss zwischen BMG (Bundesministerium für Gesundheit), BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) und ACHSE mit 24 Spitzen- und Dachverbänden der wesentlichen Akteure im Gesundheitswesen auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen hat unter anderem das Ziel, Vorschläge für einen nationalen Aktionsplan für seltene Erkrankungen erarbeiten [5]. Grundlage sind bereits bestehende Strukturen und europäische Erfahrungen [6]. Quellen [1] www.orpha.net Informationsportal für seltene Krankheiten [2] Eidt-Koch D et al. Pediatr Pulmonol 2010 [Epub ahead of print] [3] www.achse-online.de [4] ACHSE-Lotze für Ärzte 030/450-56 65 67 [5] www.namse.de [6] www.eucerd.eu European Union Committee of Experts on Rare Diseases

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