Prof. Dr. Jörg Rüdiger Siewert war und bleibt eine Lichtgestalt der Chirurgie. Dieser Nachruf ist ein Versuch die vielen Facetten seiner charismatischen Persönlichkeit zu würdigen. Von seinen Errungenschaften können nur die wichtigsten Eckdaten im Werdegang skizziert werden.
Siewert wurde am 08.02.1940 in Berlin geboren und studierte Medizin mit Staatsexamen 1964 und Promotion 1965 in Berlin und Basel. Letzteres förderte später die enge Verbindung zu Martin Allgöwer und Rudolf Nissen [
2]. Nach der Facharztausbildung am Städtischen Rudolf Virchow Krankenhaus Berlin bei Wilhelm Heim, wechselte Siewert zu Hans-Jürgen Peiper, der frisch aus Köln-Lindenthal an die Chirurgische Universitätsklinik Göttingen berufen worden war. Bereits 1972 habilitierte sich Siewert zum Thema ‚Klinische und experimentelle Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus und zur Rekonstruktion des unteren Ösophagussphincters‘. Im Jahr 1977 wurde Siewert leitender Oberarzt und erhielt 1981 Rufe auf die Lehrstühle der Universität des Saarlandes in Homburg und an die Technische Universität (TU) München, nachdem Rudolf Pichlmayr sich im Oktober 1981 von dieser Berufung zurückgezogen hatte.
Am 1. Juli 1982 trat Siewert seine Stelle als Direktor der Chirurgischen Klinik der TU München am Klinikum rechts der Isar an, eine der größten Chirurgischen Kliniken Deutschlands mit über 300 Betten. Dazu zählten initial noch neben der Allgemein- Viszeral‑, Thorax- und Unfallchirurgie auch die Abteilungen für Gefäß‑, Neuro- und Plastische Chirurgie. Dem viszeralchirurgischen Siewert-Team (n = 4) aus dem südniedersächsischen Göttingen mit nur einer unfallchirurgischen Verstärkung durch Prof. Claudi standen beim Auftakt in der bayrischen Landeshauptstadt 70 Chirurgen gegenüber!
An Selbstbewusstsein mangelte es Siewert angesichts dieser großen Aufgabe jedoch keineswegs. Eines Mittags im Sommer 1982 gingen wir mit unserem Chef zum Strategiegespräch in das China-Restaurant in der Villa Stuck gegenüber dem Klinikum Rechts der Isar. Dort saß an einem besonderen Tisch Franz Josef Strauß, der dort öfters speiste. Siewert sagte, ‚Setzt Euch hin, ich komme gleich‘ und ging schnurstracks weiter zum Ministerpräsidenten: ‚Ich bin der neue Ordinarius für Chirurgie im Rechts der Isar und wollte mich einmal vorstellen.‘
‚Bitte nehmen Sie Platz‘ war die Antwort und so begannen Siewerts ausgezeichnete politische Verbindungen in die bayerische Landesregierung.
20 Jahre war Siewert Ärztlicher Direktor des Klinikums rechts der Isar, das er zu einem der führenden Universitätskliniken Deutschlands entwickelte. Berufungspolitik war ihm sehr wichtig und Planen und Bauen im Klinikum war eines seiner liebsten Beschäftigungen. Das Label MRI wurde zu einem nationalen und internationalen Brand.
Aufgrund seiner profunden Erfahrung im Klinik-Management folgten nach seiner Emeritierung 2007 noch 11 Jahre als Leitender Ärztlicher Direktor der Universitätskliniken Heidelberg (2007–2011) und Freiburg (2010–2018).
Siewert war Präsident/Kongresspräsi dent der Vereinigung Bayerischer Chirurgen, Deutschen Gesellschaft für Viszeralchirurgie (jetzt DGAV), Deutschen Gesellschaft für Senologie, Deutschen Krebsgesellschaft, International Society for Diseases of the Esophagus (ISDE), International Gastrosurgical Club, International Gastric Cancer Association (IGCA), Société Internationale de Chirurgie (SIC), Vorsitzender des Ordinarienkonvents und Mitglied der Leopoldina. Ein besonderes Highlight war der Weltkongress für Speiseröhrenerkrankungen (ISDE) mit fast 800 Teilnehmern aus 40 Ländern, den wir bereits 1986 im Hörsaalgebäude des Klinikums rechts der Isar ausgerichtet haben. Siewert erreichte dabei die Fusion der beiden amerikanisch bzw. japanisch dominierten Gesellschaften zu einem Weltverband.
Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Jahr 2002 setzte er weit vorausschauend das Kongressthema ‚Digitale Revolution in der Chirurgie‘. Mit dem Ziel einer ‚Chirurgischen Woche‘ integrierte er die einzelnen chirurgischen Fachgesellschaften unter das Dach der Muttergesellschaft, um die Gemeinschaft der Chirurgen zu stärken.
Siewert war langjähriger federführender Schriftleiter der Zeitschrift Der Chirurg und Mitglied vieler Editorial Boards renommierter Journale.
Ein bedeutendes Vermächtnis ist seine Initiierung des AGC-Kurses (Arbeitsgemeinschaft für Gastroenterologische Chirurgie) in Davos in Kooperation mit Martin Allgöwer und führenden Schweizer und deutschen Chirurgen. In diesem weiter sehr erfolgreichen Kurs sind viele europäische Chirurgengenerationen in praktischer Nahttechnik und chirurgischer Strategie ausgebildet worden.
Die jährliche Fortbildungswoche mit Live-Übertragung von Operationen und mit renommierten Gastrednern im Rechts der Isar war legendär und von Siewerts sprühendem Geist und seiner hohen Diskussionsfreudigkeit geprägt, genauso wie die Münchner/Tegernseer Januartagungen ‚Quo vadis chirurgia‘ des Berufsverbandes zusammen mit Karl Hempel. Viele Jahre war Siewert hochschulpolitisch aktiv und hatte als 1. Vorsitzender des Verbandes der Universitätskliniken Deutschlands (VUD) maßgeblichen Einfluss.
Wissenschaftlich kam Siewert initial von der ösophagogastralen Pathophysiologie manifestiert mit den Frühwerken ‚Funktionsstörungen der Speiseröhre‘ [
1] und ‚Fundoplicatio und Gastropexie‘ als Mitautor von Rudolf Nissen und Mario Rossetti [
2].
Siewert erkannte früh die Wichtigkeit der interdisziplinären Diskussion mit Gastroenterologen und war ein Vorreiter der Viszeralmedizin. Mit André Blum brachte Siewert in der Reihe ‚Interdisciplinäre Gastroenterologie‘ 10 Bücher über Ulkustherapie, Refluxtherapie, gastroenterologische Diagnostik etc. heraus, die in Deutsch und z. T. in Englisch erschienen.
Später verlagerte Siewert seinen Fokus auf die onkologische Chirurgie mit dem Schwerpunkt Speiseröhren- und Magenkrebs. Die Deutsche Magenkarzinomstudie mit 1654 Patienten [
3] und die publizierten Serien über 1000 Ösophaguskarzinome [
4] und 1002 Adenokarzinome des ösophagogastralen Übergangs [
5] repräsentieren diese große Expertise. Die Chirurgische Klinik der TU München wurde das größte Zentrum für Ösophagus- und Magenchirurgie in Deutschland und später in Europa.
Siewert antizipierte den Stellenwert der neoadjuvanten Chemo- bzw. Radiochemotherapie, engagierte mit Prof. Ulrich Fink einen Onkologen nur für die Chirurgische Klinik und initiierte als einer der ersten ein interdisziplinäres Tumorboard. Neben dem onkologischen Schwerpunkt besonders des oberen Gastrointestinaltraktes wurde die Nieren- und die Lebertransplantation aufgebaut.
Siewerts Verdienste auf dem Gebiet der Chirurgischen Technik liegen in der Systematik und der Standardisierung niedergelegt in unserer ‚Bibel‘, der noch heute gültigen Breitnerschen Operationslehre [
6]. Innovativ waren dabei besonders die Ösophagojejunoplicatio nach Gastrektomie sog. Siewert-Peiper-Pouch [
7] und die Verfahrenswahl beim Cardiakarzinom. Die Siewert-Klassifikation der Adenokarzinome des ösophagogastralen Übergangs (AEG Typ I, II, III), die wir 1987 zusammen mit Karen Becker und Wolfgang Gössner aus der Pathologie beschrieben haben, ist zum internationalen Standard geworden [
8].
Siewerts wissenschaftliches Oeuvre umfasst neben vielen hundert Originalpublikationen und Buchkapiteln besonders ein Standardlehrbuch für Studierende [
9] und die vielen Auflagen der zuletzt dreibändigen Praxis der Viszeralchirurgie [
10].
Diese außerordentlichen Leistungen fanden Niederschlag in weltweiten Einladungen zu Gastvorlesungen, Ehrenmitgliedschaften nationaler und internationaler Gesellschaften und Wissenschaftspreisen wie dem deutschen Krebspreis 1994.
Vier Chirurgische Lehrstuhlinhaber und viele Chefärzte und Chefärztinnen gingen aus der Siewert-Schule hervor.
Jörg Rüdiger Siewert hat früh die kollegiale Verbindung zu den Chirurgen im Osten gesucht und die Charité schon in den 1980er-Jahren mehrfach besucht. Das brachte ihm große Anerkennung.
Diejenigen, die Gelegenheit hatten, Siewert operieren zu sehen – persönlich oder bei Live-Übertragungen – wissen, dass er ein sehr selbstsicherer Chirurg war, zielstrebig, schnell und bei großer Anatomiekenntnis immer sehr schichtengerecht präparierend.
Alles entsprechend seinem Kommentar
‚Chirurgie muss auch schön sein‘.
Gefürchtet war sein erster Blick auf den Sauger, wenn er in eine angelaufene Operation einstieg. Streng war er bei postoperativen Komplikationen wie Anastomoseninsuffizienzen, die man besser selber rasch erkannte und korrigierte.
Siewert vermittelte eine besondere Aura, wenn er in den OP kam oder den meist vollen Hörsaal betrat. Er besaß eine außergewöhnlich prägnante Rhetorik und war als Vortragender oder Diskutant unschlagbar.
Siewert liebte historische Vergleiche, mit denen er seine lebendigen Vorträge bereicherte. Bei seiner Antrittsvorlesung in München zitierte er, nicht ganz uneigennützig, König Maximilian II. von Bayern, der in Göttingen und Berlin studiert hatte, mit Marie Friederike von Preußen verheiratet war und berühmte Professoren sog. ‚Nordlichter‘ zur Verstärkung an die Universität München berufen hat.
Siewert hatte einen markanten Berliner Humor, in dem oft der landsmannschaftliche Dialekt durchbrach. Ein wahrer Preuße mit entsprechenden Tugenden, der sich jedoch im bajuwarischen, mehr barocken München sehr schnell wohl fühlte. Dabei war er kosmopolitisch, liebte das internationale Flair – besonders Italien und Japan – und pflegte kollegiale Freundschaften in vielen Ländern. Die überwältigende Anteilnahme, die uns nach Bekanntwerden seines Todes aus aller Welt erreichte, ist Ausdruck des großen Respekts und der hohen Anerkennung seiner Lebensleistung.
Siewert konnte seine Mitarbeiter mit seiner Tatkraft und seinem Ideenreichtum begeistern, aber auch bis über den Kopf mit Arbeit eindecken. Derjenige, der es schaffte, bekam noch mehr, aber auch Förderung gemäß seinem Dictum ‚Wenn Ihr von mir kommt, habt Ihr den Marschallstab im Tornister‘.
Siewert war hart in der Sache und treffsicher, dabei taktisch sehr klug und er wusste genau, wann er seinem Motto folgen musste. ‚If you can’t beat him join him‘ oder ‚Führe nur Kriege, die Du auch gewinnen kannst‘.
Jörg Rüdiger Siewert war in jungen Jahren Springreiter, aber durchaus auch fußballbegeistert. Dass er zwei Tage nach Franz Beckenbauer starb und seine Todesanzeigen in der Süddeutschen Zeitung am 13.01.2024 neben denen vom Franz standen, stellt eine besondere Wendung des Schicksals dar.
Professor Siewert war auch ein Kaiser, ein Kaiser der Chirurgie! Für viele Kolleginnen und Kollegen war es ein Erlebnis ihm zu begegnen; für seine Schüler und Schülerinnen war es ein hohes Privileg mit ihm zusammenzuarbeiten und an seinem Erfolg teilzuhaben.
Er hat sich um die Chirurgie verdient gemacht und wir sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Wir teilen die Trauer mit seiner Familie, aber rückblickend auch die Freude, ihn erlebt zu haben.
Unser Chef wird uns als Chirurg, Lehrer, Vortragender, Autor, Manager – eben als ein sehr, sehr eindrucksvoller Mensch – immer präsent sein.
Requiescat in Pace.
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