Erschienen in:
01.02.2016 | Untergewicht | Schwerpunkt
Cannabinoide in der palliativen Versorgung
Systematische Übersicht und Metaanalyse der Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit
verfasst von:
Dr. M. Mücke, C. Carter, H. Cuhls, M. Prüß, L. Radbruch, W. Häuser
Erschienen in:
Der Schmerz
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Ausgabe 1/2016
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Zusammenfassung
Hintergrund
Cannabinoide werden in der Palliativversorgung bei verschiedenen Indikationen eingesetzt, u. a. zur Linderung von Schmerzen oder Übelkeit oder zur Steigerung des Appetits und zur Gewichtsstabilisierung. Der Stellenwert der Cannabinoide bei diesen Indikationen ist bei Palliativpatienten aber nicht ausreichend geklärt. Eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse der Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit in randomisierten, offenen Studien und randomisierten, kontrollierten Studien (RCT) wurde bisher nicht durchgeführt.
Material und Methoden
Bis April 2015 wurden die Datenbanken Cochrane Central Register of Controlled Trials (CENTRAL), MEDLINE, PubMed, Scopus und PsycINFO sowie Clinicaltrials.gov nach RCT zur Fragestellung durchsucht. Eingeschlossen wurden Studien mit einer Dauer von ≥ 2 Wochen und ≥ 10 Patienten pro Studienarm. Mithilfe eines Random-effects-Modells wurden für kategoriale Daten gepoolte Schätzungen von Ergebnisraten, für kontinuierliche Variablen standardisierte Mittelwertdifferenzen (SMD) und für dichotome Variablen Risikodifferenzen (RD) berechnet.
Ergebnisse
Von initial 108 Studien wurden 9 mit insgesamt 1561 Teilnehmern, die an fortgeschrittenen Erkrankungen litten, eingeschlossen. Die Dauer der Studien, die sich mit Tumorerkrankungen befassten, war im Median 8 Wochen (16 Tage bis 11 Wochen), bei HIV-Erkrankungen 6 Wochen (3–12 Wochen) und bei der Alzheimer-Studie 2-mal 6 Wochen. Bei Tumorpatienten waren Cannabinoide dem Placebo in der ≥ 30 %igen Schmerzreduktion [RD: 0,07; 95 %-Konfidenzintervall (KI): − 0,01; 0,16; p = 0,07], Kalorienaufnahme (SMD: 0,2; 95 %-KI: − 0,66–1,06; p = 0,65) und Reduktion von Schlafstörungen (SMD: − 0,09; 95 %-KI: − 0,62–0,43; p = 0,72) nicht signifikant überlegen. Bei der HIV-Therapie ergaben sich für Gewicht (SMD: 0,57; 95 %-KI: 0,22–0,92; p = 0,001) und Appetit (SMD: 0,57; 95 %-KI: 0,11–1,03; p = 0,02), nicht jedoch für Appetitsteigerung (SMD: 0,81; 95 %-KI: − 1,14–2,75; p = 0,42), Übelkeit/Erbrechen (SMD: 0,20; 95 %-KI: − 0,03–0,44; p = 0,09) und gesundheitsbedingte Lebensqualität (SMD: 0,00; 95 %-KI: − 0,19–0,18; p = 0,98) signifikante Unterschiede zur Placebotherapie. Bei den Endpunkten der Verträglichkeit wurde das Auftreten von Schwindel sowie psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Halluzinationen oder Psychosen) ausgewertet. Bei den Tumorpatienten bestand kein signifikanter Unterschied zwischen Cannabinoiden und Placebo (RD: 0,03; 95 %-KI: − 0,02–0,08; p = 0,23 bzw. RD: − 0,01; 95 %-KI: − 0,04–0,03; p = 0,69). Bei HIV–Patienten traten psychiatrische Erkrankungen signifikant häufiger unter Cannabinoiden als unter Placebo auf (RD: 0,05; 95 %-KI: 0,00–0,11; p = 0,05). Die Zahl der Studienabbrüche aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) als Maß der Verträglichkeit und die Häufigkeit von schwerwiegenden UAW als Maß der Sicherheit unterschieden sich weder bei Tumorerkrankungen noch bei HIV signifikant. Für Dronabinol vs. Megestrol bei tumorbedingter Anorexie wurde eine Überlegenheit der Megestroltherapie bezüglich der Appetitsteigerung (49 % zu 75 %; p = 0,0001), Gewichtszunahme (3 % zu 11 %; p = 0,02), gesundheitsbedingten Lebensqualität (p = 0,003) und Verträglichkeit (p = 0,03) berichtet. In der Therapie der HIV-bedingten Kachexie war Megestrol bezüglich der Gewichtszunahme (p = 0,0001) signifikant besser als Dronabinol. Unterschiede in der Verträglichkeit und Sicherheit bestanden nicht. In einer Alzheimer-Studie (n = 15) konnte eine Überlegenheit von Dronabinol gegenüber Placebo in Bezug auf die Gewichtszunahme ermittelt werden. Im Vergleich von pflanzlichem Cannabis mit synthetischen Cannabinoiden konnten in einer Studie (n = 62) keine Unterschiede festgestellt werden.
Schlussfolgerung
Cannabinoide führen bei Patienten mit HIV-bedingter Kachexie zu einer Appetitsteigerung, allerdings ist die Therapie mit Megestrol effektiver. Die Therapiedauer war bei den vorliegenden Studien nicht ausreichend, um Fragen zur Langzeitwirkung, -verträglichkeit und -sicherheit beantworten zu können. Aufgrund der geringen Datenmenge ist eine Empfehlung zum Einsatz von Cannabis oder Cannabinoiden derzeit nicht möglich.