Zusammenfassung
In seinem abschließenden Aufsatz „Behinderung, soziale Reaktion und gesellschaftliche Erfahrung – zur Aktualität interaktionistischer und pragmatistischer Perspektiven“ greift Jörg Michael Kastl nochmals das Verhältnis (nach wie vor aktueller?) alter und (scheinbar?) neuer Fragen der Soziologie der Behinderung auf und versucht eine Standortbestimmung in der aktuellen Kontroverse über das soziologische Verständnis von Behinderung.
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Notes
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Die deutsche Übersetzung von „Mind, Self and Society“ beinhaltet hier wie an verschiedenen Stellen immer wieder fragwürdige Übertragungen, die zu Missverständnissen der Meadschen Theorie geführt haben. Etwa schwankt der Übersetzer hier zwischen „Bedeutung“ und „Sinn“ bei der Übersetzung von „Meaning“: „Die Beziehung zwischen einem gegebenen Reiz…und den späteren Phasen der gesellschaftlichen Handlung… ist der Bereich, in dem Sinn oder Bedeutung (!) entsteht und existiert. Sinn ist daher die Entwicklung einer objektiv gegebenen Beziehungen zwischen bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Handlung…“ (Mead 1973, S. 115). Das suggeriert, Mead mache einen Unterschied zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“ und lädt völlig unnötig zu (deutschem?) Tief-Sinn bei der Interpretation ein. Wie gesagt: es handelt sich hier um den Hinweis auf eine im Grunde sehr einfache, alltäglich auftretende Erfahrung.
- 2.
Ich selbst bin hier anderer Auffassung. Ich glaube, dass der Begriff der „Schädigung“ bzw. des „Schädigungsprozesses“ unentbehrlich ist – völlig unabhängig von jeder ontologischen Parteinahme (Konstruktivismus vs. Realismus) – für eine definitorische Abgrenzung des wissenschaftlichen wie des Alltagskonzepts „Behinderung“ von Krankheit nach der einen und von „bloßer“ sozialer Benachteiligung nach der anderen Seite. Das hindert mich allerdings nicht daran genau wie Waldschmidt anzunehmen, dass auch die Kategorisierung von etwas als Schädigung, und damit verbundene Schädigungstaxonomien und -Theorien selbstverständlich sozialen Definitions- und Konstruktionsprozessen unterliegen (Kastl 2010, S. 112 ff.).
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Das gilt auch dann, wenn ich alle hier verwendeten soziokulturellen Begriffe in Gedanken gleichsam konstruktivistisch „einklammere“ und immer hinzufüge, „was man in einem bestimmten soziokulturellen Bezugssystem ‚Nationalsozialisten‘, ‚bürgerliches Lager‘, ‚perinatale Probleme‘, ‚Entwicklungsländer‘ nennt.“ Ich benötige so oder so eine Referenz, muss anders gesagt angeben „worüber“ ich rede.
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Mir ist von daher nicht ganz verständlich, wieso mitunter die Bezeichnung „Disability-Studies“ von vielen als „angemessener“, „diskriminierungsfreier“ und „konstruktivistischer“ angesehen wird, als eine entsprechende deutsche Übersetzung unter Verwendung des Wortes „Behinderung“.
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Ein schönes Beispiel, wie Dewey an der Kontinuität des Materiell-Physischen auch im Übergang zu emergenten Wirklichkeitsebenen festhält, bietet folgende Formulierung: „Laute hören nicht auf Laute zu sein, wenn sie zu artikulierter Sprache werden; aber sie nehmen neue Unterscheidungen und Anordnungen an, genau wie Material, das für Werkzeuge und Maschinen gebraucht wird, ohne aufzuhören, das Material zu sein, das es früher war. Infolgedessen unterliegen äußerliche oder Umweltprozesse, die vordringlich in Lebensprozessen und später im Diskurs mit enthalten sind, Veränderungen, wenn sie Bedeutungen erwerben und zu Objekten des Geistes werden, und trotzdem sind sie genau so physisch, wie sie es immer waren.“ (Dewey 1995, S. 273).
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vgl. die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Schaffung eines „Europäischen Qualifikationsrahmens“ (EQR) und die damit in Zusammenhang stehenden Leistungspunktsysteme für die berufliche Bildung (European Credit System of Vocational Education and Training, ECVET) und die Hochschulbildung (European Credit Transfer System, ECTS).
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Kastl, J. (2014). Behinderung, soziale Reaktion und gesellschaftliche Erfahrung – zur Aktualität interaktionistischer und pragmatistischer Analyseperspektiven. In: Kastl, J., Felkendorff, K. (eds) Behinderung, Soziologie und gesellschaftliche Erfahrung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05018-4_5
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