Zusammenfassung
Durch die handlungstheoretische Anbindung konnte eine kritische Analyse ärztlichen Handelns formuliert werden. Ausgehend von der Analyse der ärztlichen Tätigkeit ist somit eine Kritik der makrostrukturellen Entwicklungstendenzen ableitbar, die die bekannten, im Rahmen der Darstellung der Kontextbedingungen ärztlichen Handelns aufgegriffenen Betrachtungen durch ihren direkten Bezug zur ärztlichen Tätigkeit erweitert. Hierbei zeigt sich beim Zusammenwirken der drei Makrotendenzen, dass die langfristig wirksamen Entwicklungen der Verwissenschaftlichung und Technisierung die Grundlage für eine Betrachtung der ärztlichen Tätigkeit als objektivierendes, demnach formalisierbares und standardisierbares Handeln liefern und mit der ökonomisch motivierten Umstrukturierung des ärztlichen Handlungsfelds nun Strukturen überhandnehmen, die eine faktische Gestaltung ärztlichen Handelns in diesem Sinne fordern. So ist z. B. die viel beklagte Entmenschlichung der Medizin keine beliebige oder durch die oberflächliche Ergänzung von interaktiven Elementen revidierbare Erscheinung, sondern das Resultat einer Dominanz von objektivierenden Strukturen, die die ärztliche Tätigkeit in ihrem Kern zunehmend überfrachten.
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Notes
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Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der berühmte ärztliche ‚Kunstfehler‘ im Anschluss an die Anbindung an Leitlinien durch den nun formal definierbaren „Behandlungsfehler“ beerbt wurde.
- 2.
Er fordert daher: „Mehr Transparenz, dass alles was Wissenschaft ist und nicht eine wissenschaftliche Arbeit, die von einer Pharmaindustrie bezahlt wird und ich genau weiß, was rauskommen muss, wenn das nicht rauskommt, dann wird das auch eingestampft.“ In Bezug auf die Durchdringung der ärztlichen Praxis mit wirtschaftlichen Interessen im Gewand der Wissenschaftlichkeit äußert der erfahrene Arzt den Wunsch nach einer neutralen Prüfinstanz für Pharmastudien: „Wenn ich weiß, das ist irgendwo eine kritische Institution und die empfiehlt das, weiß nicht wie die aussehen soll, staatlich oder sonst irgendwo oder Stiftung Warentest oder so, dann glaube ich denen mehr und das sollte also transparenter gemacht werden. Das wäre wichtig. Ich bin immer für kleine Schräubchen. Das könnte man machen, macht man aber nicht.“
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Der erfahrene Internist bindet diese persönliche Qualität an den Reifeprozess des Arztes an „Man muss mit der Zeit auch einen bestimmten Mut entwickeln zu sagen, das lasse ich jetzt (…). Da geht’s um diesen Mut auch für Entscheidungen.“ In diesem Sinne wird der Problematik der einzellfallorientierten Abweichung von Leitlinien („Ärztliches Handeln ist nur bedingt durch Leitlinien vorstrukturierbar“) mit Verweis auf die für das ärztliche Handeln bedeutsamen Konzepte „Mut“ und „Verantwortung“ begegnet, womit Hinweise auf notwendige „Subjektqualitäten“ gegeben sind.
- 4.
Der Themenkomplex ethischen Handelns stand nicht explizit im Fokus der empirischen Untersuchung. Es erscheint fraglich, ob dieses für das ärztliche Handeln (offenbar nach wie vor) bedeutsame Konzept im Paradigma der wahrscheinlichkeitsbasierten Entscheidungsfindung eine adäquate Berücksichtigung finden kann. Deutlich wird jedoch, dass die Komplexität der Erwartung an das ärztliche Handeln mit der vereinfachten wissenschaftlichen und ökonomischen Konzeption von Handeln kollidiert. Nur angedeutet sei hiermit, dass ein Verständnis ärztlichen Handelns im Paradigma einer ärztlichen Kunstlehre über wissens- und handlungstheoretische Überlegungen hinaus auch Aspekte ethisch-moralischen Handelns berührt, das vor den neuen Bewertungshorizonten der ärztlichen Tätigkeit sicherlich grundlegend neu diskutiert werden muss.
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So ist die Tendenz zur Standardisierung der Anamnese oder die mittlerweile übliche Praxis der Erhebung einer „Voranamnese“ durch nicht-ärztliches Personal kritisch zu betrachten. So kann in der Abfrage geschlossener Fragekomplexe und/ oder der Formalisierung von offenen Patientenantworten die Gefahr des Verlusts relevanter Informationen nicht ausgeschlossen werden bzw. ist diese relativ wahrscheinlich.
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Empirisch gezeigt werden konnte dies bereits für den Bereich der Pflege (vgl. Böhle 1999b).
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Lediglich die junge Ärztin im Praktischen Jahr steht der Ökonomisierung der ärztlichen Tätigkeit unkritisch gegenüber. Möglicherweise ist hiermit auf die Situation junger Ärzte im heutigen Gesundheitswesen verwiesen, die mit der Bewältigung der Anforderung ihres Arbeitsalltags zwar stark belastet sind, diese aber deutlich weniger problematisieren, da sie bereits in dieses Umfeld hineinsozialisiert wurden. Es ließe sich hierdurch erklären, dass Konflikte mit den Wertvorstellungen über die eigene Profession und den Rahmenbedingungen der eigenen Berufsausübung deutlich seltener sind.
„Der Arzt ist heute viel mehr Dienstleister als früher, aber ich kenne das nur aus Beschreibungen, dass früher nicht so gewesen sein soll. Angeblich. Ich kenne es nur so, dass man heute einen Dienstleisterberuf ausübt. (…) Es ist ein Service, den man dem Patienten bietet. Es ist ein Service, dass man ihre Gesundheit erhält oder wieder herstellt und mit der Erwartungshaltung kommen auch viele Patienten. Was ich persönlich auch nicht falsch finde, aber wo ich den Eindruck habe, dass viele ältere Kollegen das als falsch empfinden.“
Literatur
Behrens, J. (2003). Vertrauensbildende Entzauberung: Evidence- und Eminenz-basierte professionelle Praxis. Eine Entgegnung auf den Beitrag von Werner Vogd. Zeitschrift für Soziologie, 31(4), 294–315.
Böhle, F. (1999b). Nicht nur mehr Qualität, sondern auch höhere Effizienz ‒ Subjektivierendes Arbeitshandeln in der Altenpflege. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 3(53), 174–181.
Hoppe, J.-D. (2005). Statt Programm-Medizin: Mehr Vertrauen in die ärztliche Urteilskraft. Deutsches Ärzteblatt, 102(13), 748.
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Merl, T. (2021). Schlussbetrachtung: Ärztliche Kunst und aktuelle Problemfelder. In: Ärztliches Handeln zwischen Kunst und Wissenschaft. Gesundheit. Politik - Gesellschaft - Wirtschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21972-7_4
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