Angesichts dramatisch steigender Unterbringungszahlen bei unverändert hoher Abbruchquote besteht weitgehend Einigkeit über den Reformbedarf im § 64 StGB. Aus psychiatrischer Sicht muss eine Neuregelung die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit der Patienten zur Voraussetzung der Unterbringung machen. Die DGPPN legt hierfür einen konkreten Formulierungsvorschlag vor, der auch die dringend notwendige Entlastung des Maßregelvollzugs verspricht.

Vorbemerkung

Bei einer Einwohnerzahl von etwas über 83 Mio. summiert sich in Deutschland die Anzahl der Menschen mit Störungen durch Alkohol- oder Drogenkonsum auf etwa 4 Mio. Menschen. Die Mehrheit nimmt fachgerechte therapeutische Hilfe kaum in Anspruch. Viele Straftaten werden unter dem Einfluss berauschender Mittel begangen. Etwa jedes zweite Körperverletzungsdelikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt geschehen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Unbehandelte Substanzkonsumstörungen sind ein Risikofaktor für weitere Straftaten.

Zur Behandlung stehen in Deutschland zur Verfügung: die freiwilligen ambulanten und stationären Angebote, die von den Gesundheitskassen getragen werden, die Rehabilitationsangebote der Rentenversicherungsträger, das ebenfalls von den Rentenversicherungsträgern finanzierte Angebot Zurückstellung der Strafe zur Therapie bei betäubungsmittelbedingten Straftaten (§ 35 BtMG), die von den Justizministerien getragenen Behandlungsangebote innerhalb der Justizvollzugsanstalten sowie die zumeist von den Sozialministerien getragene Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB für Straftäter mit einem Hang zur Einnahme berauschender Substanzen im Übermaß.

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt steht in der Kritik, insbesondere weil zu viele Patienten zugewiesen würden, weil das Angebot oft die Falschen bekämen, weil die Behandlung häufig nicht erfolgreich beendet werde, weil das Angebot zu viele Ressourcen verbrauche. Gegenwärtig steht der § 64 erneut vor der Reformierung. Mit 132 Wörtern regelt er die Zugangskriterien der Unterbringung. Je nachdem, welche Kriterien man verändert, präzisiert, einengt oder erweitert, erhalten Betroffene Zugang zu diesem aufwendigen Behandlungsangebot oder werden davon ausgeschlossen. Schaffte man diese Form der Unterbringung ab, wären die gegenwärtig beinahe 4500 Patienten unversorgt oder müssten in den Justizvollzugsanstalten (JVAs) betreut werden. Weitete man die Eingangskriterien deutlich aus, kämen noch mehr Betroffene aus den JVAs in die Klinken zur Behandlung.

Der folgende Vorschlag der DGPPN engt die Unterbringung auf die Behandlung von selbstbestimmungsfähigen und zur Behandlung motivierten Menschen mit einer mindestens mittelgradigen Substanzkonsumstörung oder einer Abhängigkeit ein, die aufgrund ihrer Störung straffällig geworden sind und deren Behandlung ihre weitere Gefährlichkeit mindert. Andere Straftäter mit Substanzkonsum erhalten dieses Angebot dagegen nicht. Für diejenigen aus dieser Gruppe, die zu einer Behandlung motiviert sind, müssen differenzierte Behandlungsangebote in den JVAs geschaffen werden. Für Geeignete, für die gegebenenfalls weitere rechtliche Voraussetzungen erfüllt sind, könnten die Betreuungsangebote des Gesundheitssystems oder der Rentenversicherungsträger (Aussetzung bzw. Zurückstellung der Strafe zur Bewährung bzw. mit der Auflage der Behandlung) geöffnet werden.

Aktuelle Situation und Reformbedarf

Das Maßregelrecht dient dem Schutz der Öffentlichkeit durch Behandlung der Täter. Das System stationärer Maßregeln kennt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB. Das deutsche Maßregelrecht steht seit Jahren aus unterschiedlichen Gründen in kritischer Diskussion. Während die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB in Folge von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR ab 2011 und die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik nach § 63 StGB auch in Folge des Falles Mollath im Sommer 2016 grundlegend reformiert wurden, wird nun auch eine Überarbeitung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gefordert.

Seit Jahren werden beträchtliche und kontinuierlich steigende Ressourcen verausgabt (siehe Hintergrundinformationen), die den immer weiter steigenden Bedarf dennoch nicht decken. Hinzu kommt, dass im Bundesdurchschnitt etwa jede zweite Behandlung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht abgebrochen wird.

Zudem sieht die aktuelle Diskussion um die Stärkung der Patientenautonomie und um die Zwangsbehandlung selbstbestimmungsfähiger Menschen die Übernahme rein ordnungspolitischer Aufgaben durch die Psychiatrie kritisch. Die Unterbringung nach § 64 StGB betrifft aber überwiegend verantwortliche und autonome Menschen, denen eine Unterbringung und Behandlung zur präventiven Reduzierung des Rückfallrisikos in der Psychiatrie auferlegt werden. In der aktuellen Situation können die Betroffenen im Idealfall in einer persönlichen Kosten-Nutzen-Rechnung das Strafmaß reduzieren, Therapie statt Strafe auferlegt bekommen und eine frühzeitigere Entlassung in die Freiheit erreichen. Die Betroffenen werden insofern bessergestellt als andere Straftäter, sodass sie häufig die Unterbringung in der Entziehungsanstalt anstreben. Andererseits kann der Freiheitsentzug bis zum Therapieabschluss länger dauern als die bloße Verbüßung der vollständigen Strafe.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt werden sehr weitgehend ausgelegt: weder ist die psychiatrische Diagnose einer Abhängigkeit erforderlich noch ein stringenter Nachweis eines engen, kausalen Zusammenhangs von Straftaten und Substanzmittelwirkung; auch die geforderte Feststellung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht lässt sich in foro nicht empirisch belastbar erzielen. Insofern verwundert es nicht, dass zunehmend eine Behandlung auf Grundlage des § 64 StGB nachgesucht und angeordnet wird. Dies überfordert die psychiatrischen Behandlungseinrichtungen qualitativ sowie quantitativ und wird der Herausforderung der erfolgreichen Behandlung dieser zugewiesenen Patienten nur unzureichend gerecht.

Bisherige Reformvorschläge zielen auf die effizientere Ressourcennutzung durch Einengung der Anordnungsvoraussetzungen auf relevante psychiatrische Störungen, auf engeren Kausalitätsnachweis und auf die Gleichstellung von Behandlungs- und Haftdauer. Aus psychiatrischer Perspektive müssen die Reformüberlegungen indes weiterreichen und durch die medizinethischen Prinzipien des Respekts vor der Autonomie, des Wohltuns, des Nichtschadens und der Verteilungsgerechtigkeit geleitet sein. Zudem müssen sie mit den Bestimmungen der ärztlichen Berufsordnung (MBO‑Ä; [1]) vereinbar sein. Dies berücksichtigend stellt die DGPPN einen eigenen Reformvorschlag für die Unterbringung in einer „Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen“ zur Diskussion, der für die Behandlungsindikation deutlicher als der bisherige § 64 StGB auf die (psychiatrische) Diagnose einer Substanzkonsumstörung (DSM-5) bzw. einer psychischen und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeitssyndrom (ICD-10/11; [2]) sowie eine unter Beweis gestellte Behandlungsbereitschaft und -motivation abstellt.

Das vorliegende Positionspapier der DGPPN beschränkt sich auf die Unterbringung in einer Klinik des Maßregelvollzugs in dem Bewusstsein, dass entsprechende Therapieangebote insbesondere in den Justizvollzugsanstalten deutlich ausgebaut werden müssen.

Reformüberlegungen und Zielsetzung

Aus Sicht der DGPPN sollte die Unterbringung nach § 64 StGB auf die Behandlung von Menschen mit einer relevanten Störung durch psychotrope Substanzen nach dem jeweils gültigen psychiatrischen Klassifikationssystem (d. h. mindestens eine mittelgradige Substanzkonsumstörung [DSM-5] bzw. eine psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeit [ICD-10/11]; [3]) beschränkt und das überholte Konzept des „Hanges“ [4] aufgegeben werden. Entscheidend für die psychiatrische Suchtbehandlung ist nicht allein der Zustand zu einem zurückliegenden Tatzeitpunkt, sondern die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit bei der Behandlung. Bei Aufnahme in die Klinik soll bereits so viel Strafe verbüßt worden sein, dass die Unterbringung nur dem Behandlungs- und Resozialisierungszweck und dem Ziel dient, das Risiko weiterer substanzmittelbedingter Straftaten zu senken. Der Begriff „Entziehungsanstalt“ sollte ersetzt werden durch „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen“.

Schuldunfähige Täter

Täter dieser Gruppe (die Strafverfolgungsstatistik für 2019 weist 91 Maßregelanordnungen gemäß § 64 StGB gegen Täter aus, die bei Begehung der Tat schuldunfähig waren; [5]) haben im Zustand aufgehobener Schuldfähigkeit gehandelt. Dieser Zustand zum Tatzeitpunkt wurde durch eine Intoxikation/Delir/Halluzinose ausgelöst. Handelt ein Täter ohne Schuld, wird eine Strafe nicht verhängt. Allerdings kann seine Unterbringung angeordnet werden.

Die Unterbringung erfolgt zur Verhinderung weiterer Straftaten. Verfassungsrechtlich ist die präventive Freiheitsentziehung in den Fällen des § 64 StGB dabei nur zu rechtfertigen, wenn die Prävention durch eine Behandlung erfolgt. Das setzt voraus, dass eine Behandlung möglich ist. An der Indikation für eine Behandlung im Maßregelvollzug kann es dabei auch fehlen, wenn die Behandlung in der psychiatrischen und suchtmedizinischen Regelversorgung stattfinden kann und die Notwendigkeit der Delinquenzbearbeitung nicht die Behandlung in einer forensisch-psychiatrischen Klinik erfordert.

Auch Täter, die eine rechtswidrige Tat im Zustand aufgehobener Schuldfähigkeit begangen haben, dürfen nur unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt werden. Ihre Unterbringung zur Behandlung kommt deshalb nur in Betracht, wenn sie dieser Maßnahme zustimmen. Der Zeitpunkt, in dem sie ihre Zustimmung erteilen müssen, ist die gerichtliche Hauptverhandlung, an deren Ende entweder die Anordnung der Unterbringung oder ein Freispruch steht. Ist ein angeklagter Täter in der Hauptverhandlung nicht selbstbestimmungsfähig, kommt die Anordnung seiner Unterbringung allenfalls dann in Betracht, wenn konkrete Umstände dafürsprechen, dass er sich nach Wiedererlangung der Selbstbestimmungsfähigkeit zu einer Behandlung der Substanzkonsumstörung bzw. der Abhängigkeit in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen entscheiden wird. Die Suchtbehandlung muss angezeigt sein.

Stimmt ein Betroffener der Behandlung zu oder gelingt es, ihn zu motivieren, sodass er sich für eine Behandlung entscheidet, kann er von dem Behandlungsangebot profitieren und wird bei der Behandlung der Substanzkonsumstörung und der Resozialisierung fachgerecht unterstützt. Stimmt er der Behandlung nicht zu und ist auch nicht zu erwarten, dass er seine Zustimmung nach Wiederherstellung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit erteilen wird, kann ihm keine Strafe auferlegt werden. Es kann erforderlich sein, Führungsaufsicht anzuordnen. Gelingt es nach Beginn der Unterbringung nicht mehr, den Betroffenen zu einer weiteren selbstbestimmten Teilnahme an der Behandlung zu motivieren oder entscheidet er sich nach Beginn der Behandlung dagegen, ist er zu entlassen; die Unterbringung muss dann für erledigt erklärt werden.

Dieser Vorschlag entspricht weitgehend der gegenwärtigen Praxis: Schuldunfähige Täter sind in dem Kontext des § 64 StGB selten. Sie dürfen nicht bestraft werden, eine Behandlung ist an eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht gebunden. Besteht diese nicht, ist der Betroffene auch gegenwärtig zu entlassen. Die Anordnung einer Unterbringung selbstbestimmungsfähiger Menschen gegen ihren erklärten Willen, um die Motivation zu wecken, wäre aus psychiatrischer Sicht kritisch zu werten.

Schuldfähige Täter

Werden Täter mit einer mindestens mittelgradigen Substanzkonsumstörung bzw. Abhängigkeit und einer substanzkonsumbedingten erheblichen Gefährlichkeit wegen einer rechtswidrigen Tat verurteilt, muss nicht schon mit dem Urteil auch abschließend über eine Unterbringung zur Behandlung ihrer Substanzkonsumstörung entschieden werden; die Anordnung der Unterbringung kann zunächst vorbehalten werden. Zu Freiheitsstrafe verurteilte Betroffene können dann schon während der Verbüßung ihrer Strafe Suchtberatungs- und -behandlungsangebote zur Motivation und Therapievorbereitung wahrnehmen und anschließend eine Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen beantragen. Nach Prüfung und Bewertung des Behandlungsantrags durch die Justizvollzugsanstalt und einen forensisch-psychiatrisch und in der Suchtbehandlung erfahrenen Sachverständigen wird der Betroffene in die Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen aufgenommen mit dem Ziel, die Motivation des Patienten weiter zu fördern und ihm die Teilnahme an den therapeutischen Angeboten zu ermöglichen. Bei der Entscheidung über die Aufnahme in die Klinik durch die Strafvollstreckungskammer werden die JVA, der Sachverständige und der Betroffene gehört. Die Erforderlichkeit der Unterbringung, ihre Erfolgsaussicht und die Belastbarkeit der Behandlungsbereitschaft des Betroffenen werden in der Folge halbjährlich gerichtlich überprüft. Bei positivem Verlauf wird die Fortführung der Unterbringung zur Weiterbehandlung der Substanzkonsumstörung und zur Förderung der Resozialisierung angeordnet. Sollten Therapiebereitschaft oder Erfolgsaussicht nicht mehr vorliegen, wird der Betroffene in die Strafverbüßung zurückgeführt. Bei der Entscheidung über die Fortdauer oder Beendigung der Unterbringung werden die Klinik und der Betroffene erneut gehört.

Diagnose einer Psychischen oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen gemäß ICD bzw. DSM

Die gegenwärtig gültige Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 wird bald durch ICD-11 ersetzt. ICD-11 wird die diagnostischen Konzepte des ICD-10 weitgehend übernehmen. Das Vorliegen einer entsprechenden Störung ist Voraussetzung für eine Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen. Diese ist die Grundlage der Gefährlichkeit des Probanden. Das Fortbestehen einer unbehandelten Abhängigkeit (ICD-10) oder erheblichen Substanzkonsumstörung (s. DSM-5) wird mit Wahrscheinlichkeit weitere Einbußen der Leistungsfähigkeit und Teilhabe bedingen, die auch weitere Straftaten befürchten lassen, ohne dass durch die Diagnose alleine bereits konkret Konnexität und Kausalität zwischen Diagnose und Straftat zu bejahen sind. Eine Vielzahl der Straftaten geschieht unter Alkohol- und Drogeneinfluss (s. unten). Die erfolgreiche Behandlung dieser Substanzkonsumstörungen ist geeignet, das Risiko weiterer erheblicher rechtswidriger Taten zu vermindern. Eine deutliche Ausweitung der Betroffenengruppe im Sinne des gegenwärtigen rechtlichen Konzepts des Hangs zur Einnahme psychotroper Substanzen im Übermaß verlässt den Boden evidenzbasierter medizinischer Diagnose- und Behandlungskonzepte.

Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt

Zu Recht wird bereits gegenwärtig die Unterbringung in eine Entziehungsanstalt nicht an eine zum Tatzeitpunkt angenommene, erheblich verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit gebunden. Nach Auskunft der Stichtagserhebung 2018 sind nur etwas mehr als ein Drittel der Untergebrachten bei der Straftat in ihrer Schuldfähigkeit erheblich vermindert gewesen, beinahe zwei Drittel waren voll schuldfähig. Die Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes weist für 2019 sogar einen Anteil von 70 % voll schuldfähiger Täter bei den Neuanordnungsfällen einer Unterbringung nach § 64 StGB aus. Patienten mit aufgehobener Schuldfähigkeit waren selten (2019: 91 von insgesamt 3138 Anordnungsfällen). Die Behandlung einer Alkohol- bzw. Drogenkonsumstörung/Abhängigkeit und deren Erfolgsaussicht korreliert nur lose mit der Schuldfähigkeit, denn diese hängt wesentlich vom Zustand des Täters zum Tatzeitpunkt und der zum Tatzeitpunkt bestehenden Substanzeinnahme ab. Aus psychiatrischer Perspektive sind dagegen Behandlungsmotivation und „informed consent“ zum Zeitpunkt der Behandlung entscheidend. Darüber hinaus sind für die Beurteilung der Indikation und Erfolgsaussicht einer Behandlung nicht der konkrete, häufig eng begrenzte Zeitraum der Schuldfähigkeit bei Begehung der konkreten und spezifischen Tat bzw. der Gerichtsverhandlung entscheidend, sondern die Selbstbestimmungsfähigkeit und Behandlungsmotivation bei Therapieantritt bzw. während der Behandlung in einer konkreten Klinik.

Klarer Zusammenhang zwischen Substanzkonsumstörung. Straftat und Gefährlichkeit

Die Behandlung der Störung zielt auf die Abstinenz bzw. Linderung der Substanzkonsumstörung mit dem Ziel, das Risiko von im Substanzmittelkonsum begründeten Straftaten durch Wegfall der suchtbedingten Motive zu minimieren. Die Art des Zusammenhangs ist inzwischen in der Rechtsprechung sehr weit gefasst. So wird es als hinreichend erachtet, dass der Wunsch, sich beispielsweise von dem Erlös aus einer Straftat auch Bier bzw. Drogen zu kaufen, diesen Zusammenhang begründen kann. Auch deswegen stieg die Zahl der Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB in den letzten Jahren stark an. Diese rechtliche Konzeptualisierung überschreitet bei weitem die psychiatrische Perspektive, der zu Folge in der Suchterkrankung begründete Taten ihre wesentliche Motivation im Craving, also im Drogenhunger, oder in der Notwendigkeit, Drogen zu erwerben, um als gravierend erlebte Entzugssymptome zu vermeiden oder zu lindern, oder in der konkreten Substanzmittelwirkung hat. Die so gefasste Konnexität grenzt die Behandlungsindikation sehr stark ein und stellt auf einen psychischen Zustand zu einem konkreten, zurückliegenden Tatzeitpunkt ab und nicht auf den Zustand bei Antritt der Behandlung. Diese Bedingung einer engen kausalen Verknüpfung der Straftat mit der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Substanzkonsumstörung wird von einem Teil der Betroffenen mit Substanzkonsumstörungen nicht erfüllt, selbst wenn Behandlungsbereitschaft, -motivation und auch Behandelbarkeit vorliegen. Für sie kommt die Maßregelanordnung nicht infrage.

Achtung des Selbstbestimmungsrechts

Ärztliche Behandlung wird legitimiert durch das informierte Einverständnis des selbstbestimmungsfähigen Betroffenen und seine Bereitschaft, an der Behandlung mitzuwirken. Behandlung gegen den freien Willen eines Betroffenen ist nicht zulässig. Nur unter eng definierten rechtlichen Bedingungen kann bei nicht selbstbestimmungsfähigen Menschen der Versuch unternommen werden, mit einer befristeten Behandlung gegen ihren natürlichen Willen die Selbstbestimmungsfähigkeit wieder herzustellen. Vor der Anordnung der Behandlung einer Substanzmittelabhängigkeit muss der Betroffene deshalb zustimmen. Zustände, die zum Tatzeitpunkt Schuldunfähigkeit bedingt haben können, sind in der Hauptverhandlung in der Regel abgeklungen, sodass die meisten Betroffenen sich zu diesem oder einem späteren Zeitpunkt selbstbestimmt für eine Behandlung entscheiden können. Besteht in seltenen Fällen die Selbstbestimmungsfähigkeit noch nicht, so kann allenfalls im vermuteten Interesse des nicht selbstbestimmungsfähigen Betroffenen eine Unterbringung angeordnet werden. Stimmt der Betroffene bei der nächsten Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung der Behandlung nicht zu, wird die Behandlung abgebrochen und der Betroffene aus der Unterbringung entlassen. Dies gilt auch, wenn es nicht gelungen ist und keine Aussicht besteht, seine Selbstbestimmungsfähigkeit wieder herzustellen.

Reformvorschläge

Der vorliegende Entwurf engt die Voraussetzungen für die Aufnahme in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen auf selbstbestimmungsfähige, zu einer Behandlung motivierte Straftäter mit einer zumindest mittelgradigen Substanzkonsumstörung bzw. einer psychischen oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeit ein. Der Begriff „Entziehungsanstalt“ wird ersetzt durch den Begriff „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen“. Regelmäßige Überprüfungen der Motivation und Behandlungsbereitschaft ersetzen die Beurteilung der hinreichend konkreten Erfolgsaussicht während der Hauptverhandlung. Therapiefremde Anreize entfallen. Bei einer engen kausalen Verknüpfung von Substanzkonsumstörung bzw. Abhängigkeit und Straftat wird nur bei einem kleinen Teil der Straftäter mit Substanzkonsumstörung die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen angeordnet. Der größere Teil wird den Justizvollzugsanstalten überstellt. Aus Gründen der Gerechtigkeit muss das dortige Behandlungsangebot verbessert werden. Dies kann auch implizieren, weitere Behandlungsangebote für die Betroffenen zu öffnen.

Forschung

Die Umstrukturierung des Betreuungsangebots muss wissenschaftlich begleitet und die Konsequenzen evaluiert werden.

Formulierungsvorschlag Strafgesetzbuch

Auf der Grundlage dieser Prämissen ergibt sich aus Sicht der Psychiatrie ein Behandlungsangebot für Straftäter in Folge einer Substanzkonsumstörung mit dem Ziel, weitere substanzkonsumbedingte Straftaten zu verhindern, das wie folgt formuliert werden könnte:

§ 64 StGB Unterbringung zur Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen

  1. 1.

    1 Leidet eine Person an einer Substanzmittelabhängigkeit oder einer sonstigen zumindest mittelschweren Alkohol- oder Drogenkonsumstörung (Substanzkonsumstörung) und hat sie eine erhebliche rechtswidrige Tat im Zustand der in ihrer Substanzkonsumstörung begründeten erwiesenen oder nicht auszuschließenden Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) begangen, soll das Gericht die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, und eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet erscheint, dieser Gefahr entgegen zu wirken. 2 Das Gericht trifft die Anordnung nach Satz 1 nur, wenn die Person der Suchtbehandlung zustimmt oder wenn zu erwarten ist, dass sie nach Wiederherstellung der Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung ihre Zustimmung erteilen wird. 3 Das Gericht ordnet Führungsaufsicht an, wenn die Unterbringung nur deshalb nicht möglich ist, weil die Voraussetzungen des Satzes 2 nicht vorliegen.

  2. 2.

    Leidet eine Person an einer Substanzmittelabhängigkeit oder einer sonstigen zumindest mittelschweren Alkohol- oder Drogenkonsumstörung (Substanzkonsumstörung) und wird sie wegen einer erheblichen rechtswidrigen Tat, die in der Substanzkonsumstörung begründet ist, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, soll das Gericht die Anordnung der Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen vorbehalten, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, und eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet erscheint, dieser Gefahr entgegen zu wirken.

  3. 3.

    1 Das Gericht ordnet die nach Absatz 2 vorbehaltene Unterbringung an, wenn

    1. a)

      die verurteilte Person dies beantragt,

    2. b)

      sie während des Strafvollzugs oder einer anderen der Anordnung unmittelbar vorangehenden Freiheitsentziehung oder Bewährungszeit für die Dauer von mindestens sechs Monaten regelmäßig an Suchtberatungsangeboten teilgenommen hat,

    3. c)

      eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet ist, um weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten entgegenzuwirken, und

    4. d)

      im Zeitpunkt des voraussichtlichen Beginns der Unterbringung mindestens ein Drittel der zeitigen Freiheitsstrafe oder zehn Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe vollstreckt oder durch Anrechnungszeiten erledigt sind.

§ 67d StGB Dauer der Unterbringung

  1. 5.

    1 Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen für erledigt,

    1. 1.

      wenn die untergebrachte Person der weiteren Behandlung widerspricht und nicht aufgrund konkreter Umstände zu erwarten ist, dass sie sich alsbald umentscheiden wird, oder

    2. 2.

      wenn nach Beginn der Unterbringung Umstände erkennbar werden, die gegen eine Indikation zur Suchtbehandlung oder gegen die Eignung dieser Behandlung sprechen, der Gefahr entgegenzuwirken, dass die untergebrachte Person infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, oder

    3. 3.

      wenn es nicht gelingt, die untergebrachte Person zur Mitwirkung an der Behandlung zu motivieren oder die Motivation aufrechtzuerhalten, oder

    4. 4.

      wenn sich nach Beginn der Unterbringung ergibt, dass keine hinreichend konkrete Aussicht mehr besteht, die Persönlichkeit der untergebrachten Person und ihre Umweltbedingungen so zu stabilisieren und zu beeinflussen, dass sie im Stadium der Entwöhnung beharrt und deshalb keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr von ihr zu erwarten sind.

2 Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.