Zusammenfassung
Circa ein Viertel der über 65-Jährigen leidet unter psychischen Erkrankungen. Bei gleichzeitigem Vorliegen somatischer Erkrankungen steigt deren Prävalenz. Erkrankungen, Verluste wichtiger Bezugspersonen und Lebenskrisen im Alter reaktivieren oft traumatische Erfahrungen aus früheren Lebensphasen. Differenzialdiagnostisch kann die Abgrenzung psychischer Störungen von den psychischen Begleitsymptomen somatischer Erkrankungen schwierig sein. Die biografische Anamnese und die Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten mithilfe eines geriatrischen Basisassessments gehören deshalb zum Standard der geriatrischen Diagnostik. Psychische Störungen alter Menschen werden häufig übersehen oder inadäquat behandelt. Bei der Therapie mit psychotropen Substanzen müssen Auswirkungen auf somatische Erkrankungen und Arzneimittelinteraktionen bedacht werden. In der Psychotherapie sind ressourcenorientierte und die soziale Unterstützung fördernde gruppentherapeutische Verfahren besonders hilfreich.
Abstract
Approximately 25% of people over 65 years old suffer from psychiatric disorders but in cases of simultaneously occurring somatic diseases the prevalence is increased. Sickness, loss of important reference persons and life crises in older age often reactivate traumatic experiences from earlier life stages. It can be difficult to differentiate between psychological disorders and the psychological symptoms accompanying somatic illness. The biographic medical history and estimation of cognitive skills within a geriatric basis assessment should be standard in geriatric diagnostics. Psychological disorders are often overlooked or inadequately treated in older people. In the case of psychopharmacological treatment, effects on somatic sickness as well as drug-drug interactions have to be kept in mind. Psychotherapeutic approaches focusing on resources and social support particularly in group therapy seem to be very helpful.
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Corresponding author
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Interessenkonflikt
W. Söllner, C. Wunner, E. Wentzlaff, C. Reichhart und B. Stein geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Additional information
Redaktion
M. Gosch, Nürnberg
H.-J. Heppner, Schwelm
W. Hofmann, Neumünster
Weitere Literaturhinweise, insbesondere zu Einzelstudien, sind beim Erstautor erhältlich.
CME-Fragebogen
CME-Fragebogen
Welcher Faktor beeinflusst das Erleben im Alter am nachdrücklichsten?
Das Alter in Jahren
Die Veränderung des Körpers
Die finanzielle Situation
Die Beziehung zu Kindern
Der soziale Status
Welche Antwort ist falsch? Selbstwertkrisen (narzisstische Krisen) führen nicht selten zu …
Depressionen.
somatoformen Störungen.
Suizidgedanken.
PTBS.
Anpassungsstörungen.
Welche Antwort ist falsch? Risikofaktoren für Depressionen im Alter sind …
körperliche Erkrankungen.
Depressionen in jüngerem Lebensalter.
Alter in Jahren.
weibliches Geschlecht.
Einsamkeit.
Frau A., eine 75-jährige verwitwete berentete Bankangestellte muss wegen eines Darmverschlusses operiert werden. Postoperativ treten Komplikationen auf, und Frau A. muss intensivmedizinisch behandelt werden. Sie erholt sich in der Folge von der Erkrankung. Einige Wochen nach der Entlassung treten jedoch Angstzustände, innere Unruhe und Albträume auf (sie träumt wiederholt, auf der Intensivstation zu liegen und zu ersticken). Sie nimmt den fachärztlichen Kontrolltermin im Krankenhaus nicht wahr. An welche psychische Störung ist hier primär zu denken?
Hypoaktives Delir
Depressive Episode
Generalisierte Angststörungen
PTBS
Akute Belastungsreaktion
Welche Aussage ist falsch? Somatoforme Störungen …
treten häufiger bei Frauen als bei Männern auf.
gehen mit funktionellen Einschränkungen einher.
treten häufig gemeinsam mit depressiven Störungen und Angststörungen auf.
können Folge traumatischer Erlebnisse sein.
treten bei alten Menschen häufiger auf als bei Jüngeren.
Wann sollte bei älteren Patienten eine neuropsychologische Diagnostik initiiert werden?
Sobald ein Patient über Symptome wie Vergesslichkeit klagt
Sobald ein Patient älter als 65 Jahre ist
Bei deutlichen Einschränkungen der Alltagskompetenz
Bei Vorliegen einer Depression
Bei Vorliegen einer Pseudodemenz
Wie häufig sind psychische Erkrankungen bei über 65-Jährigen?
Circa 10 %
Circa 25 %
Circa 40 %
Circa 55 %
Circa 70 %
Herr B., ein 81-jähriger berenteter Lehrer, leidet an M. Parkinson, der medikamentös so weit eingestellt ist, dass er mobil ist. Er wird nach dem Tod seiner Ehefrau, mit der er 60 Jahre verheiratet war, auf Anraten seiner Tochter, die mit ihrer Familie 500 km entfernt lebt, in ein Altersheim aufgenommen. Der Sohn ist durch Suizid im Alter von 48 Jahren gestorben. Herr B. wird im Altersheim zunehmend depressiv, zieht sich von anderen Heimbewohnern zurück und beklagt, im Leben alles falsch gemacht zu haben. Worauf ist bei der psychotherapeutischen Behandlung besonders zu achten?
Durchführen von Entspannungsübungen
Klärung überdauernder Konflikte aus der Kindheit
Angstbewältigung durch Exposition
Ressourcenorientierter Lebensrückblick
Einzeltherapie sollte der Gruppentherapie vorgezogen werden
Welche psychotrop wirkenden Medikamente beeinträchtigen die kognitive Leistungsfähigkeit am wenigsten?
Benzodiazepine
Trizyklische Antidepressiva
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
Niederpotente Neuroleptika
Sedativa
Wann ist eine integrierte psychosomatische Versorgung in der Geriatrie der Behandlung in einer psychosomatischen Abteilung vorzuziehen?
Bei psychiatrischen Erkrankungen wie z. B. Psychosen
Bei mangelnder Krankheitseinsicht und geringer Therapiemotivation
Bei Suizidgedanken bzw. Suizidalität
Bei hochaltrigen Patienten über 80 Jahren
Bei somatischer Multimorbidität und psychosomatischen Beschwerden
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Söllner, W., Wunner, C., Wentzlaff, E. et al. Psychosomatik im Alter. Z Gerontol Geriat 50, 713–725 (2017). https://doi.org/10.1007/s00391-017-1337-9
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