Ich meine, dass ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Kunst auch die Fähigkeit ist, über schriftliche Aufzeichnungen richtig urteilen zu können. Denn wer sie richtig beurteilt und anwendet, kann, so scheint mir, keine großen Fehler in der Kunst begehen.

Dieses Zitat aus dem Corpus Hippocraticum (Epidemien Band III, 16) zeigt, dass bereits vor 2000 Jahren die Bedeutung der medizinischen Dokumentation erkannt wurde. Sie stellte die Basis für den Wandel in der Medizin von der Magie hin zur Empirik dar [9]. Dass wir heute noch Kenntnis über das Schaffen von Hippokrates von Kos haben, zeigt die wichtigste Funktion der Dokumentation: Sie bewahrt Daten, Informationen und Wissen vor dem zeitlichen Verfall.

Doch im Wandel der Zeit haben sich die Anforderungen an die Dokumentation weiterentwickelt: Neben der Aufzeichnung für die eigene Erinnerung (Persistenz) dient sie in der heutigen arbeitsteiligen Patientenversorgung auch der Weitergabe (Kommunikation) relevanter Informationen zwischen Berufsgruppen (Arzt ⇔ Pflege), Fachrichtungen (Notaufnahme → OP → Intensivstation) oder Einrichtungen (Rettungsdienst → Klinik → Hausarzt). Sie bildet die Grundlage der Leistungserfassung und damit der Entgeltberechnung, aber auch der Ressourcensteuerung. Die Dokumentation dient der internen und externen Qualitätssicherung (Benchmarking). Bei Vorwürfen zu Behandlungsfehlern ist durch die Beweislastumkehr die Dokumentation häufig als das wichtigste Beweismittel bzw. eine fehlende Dokumentation prozessentscheidend. Mit dem Patientenrechtegesetz wurden 2013 durch die Einführung der §§ 630 c, f g in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) die Informationspflicht, die Dokumentation der Behandlung und die Einsichtnahme in die Patientenakte als Teil der Behandlungsvertrags gesetzlich geregelt und damit die Bedeutung der Medizinischen Dokumentation noch einmal herausgestellt.

Damit ist die Dokumentation ein Diener vieler Herren. Dies führt zu einer gefühlten und realen Bürokratisierung der Medizin, in der das medizinische Personal eine Vielzahl von Formularen ausfüllen und dabei mehr als die Hälfte der Daten doppelt oder mehrfach erfassen muss [8]. Dabei erhöht die Vielzahl unterschiedlicher Formulare nicht nur den Dokumentationsaufwand, sondern auch den Aufwand bei der Suche nach Informationen und stellt ggf. eine Fehlerquelle durch nicht wahrgenommene oder falsch Interpretierte Informationen dar.

Strukturierte (digitale) Dokumentation

Um die Qualität der Dokumentation zu verbessern, ist es daher unerlässlich, diese zu standardisieren. Vorreiter im Bereich der Notfallmedizin war das DIVI-Rettungsdienstprotokoll bzw. das DIVI-Notarztprotokoll und der Minimale Notfalldatensatz (MIND; [2, 5, 6, 7]). Daher war es nur konsequent, einen standardisierten Datensatz und ein Protokoll für die Notaufnahme zu entwickeln.

Bei der Standardisierung muss immer zwischen der Definition des Datensatzes (Inhalte), der Implementierung, also dem Medium und den Methoden der Erfassung einschließlich der optischen und technischen Umsetzung (Layout, Funktionalität) sowie dem Kommunikationsstandard unterschieden werden. Hierfür bedarf es neben der medizinischen Expertise auch Kompetenzen aus dem Bereich der Medizinischen Informatik (Softwareergonomie/Formulargestaltung, syntaktische und semantische Standards/Terminologien).

Diese Aufgabe wurde von dem interdisziplinären und interprofessionellen Team der DIVI-Sektion Notaufnahmeprotokoll übernommen und 2010 der DIVI-Datensatz Notaufnahme mit dem DIVI-Notaufnahmeprotokoll Version 1.0 konsentiert und publiziert [4, 10]. Kulla et al. beschreiben den Prozess und die Struktur des DIVI-Datensatzes „Notaufnahme“ und geben einen Ausblick auf die geplante Weiterentwicklung. International konnte gezeigt werden, dass durch eine strukturierte elektronische Dokumentation relevante Prozesszeiten und Inhalte besser erfasst und übergeben werden [1, 3]. Ein Nachweis, der in den nächsten Jahren auch in Deutschland erbracht werden sollte.

Datenschutz

Als zu Hippokrates Zeiten die relevanten Krankengeschichten in Stein gemeißelt wurden, hatte die „Festplatte“ zwar eine höhere „Haltbarkeit“ als die heutigen Datenträger, Speicherkapazität und Verfügbarkeit der Daten waren jedoch begrenzt. Trotzdem galt schon im Eid des Hippokrates

Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgange mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.

Dies verdeutlicht, dass das Grundrecht der Informationellen Selbstbestimmung und die ärztliche Schweigepflicht ein hohes Gut darstellen, das im Zeitalter der „Sozialen Medien“ nicht vergessen werden darf. Daher sollte der Datenschutz nicht als „Behinderung“ wahrgenommen werden, vielmehr gilt es, Kompetenzen aufzubauen, um die Möglichkeiten einer digitalen Infrastruktur verantwortungsvoll und unter Achtung der Grundrechte nutzen zu können. Brammen beschreibt die aktuelle Gesetzeslage und zeigt auf, wie IT-Syteme im Rettungsdienst Datenschutzkonform betrieben werden können.

Versorgungsforschung

Die Qualität der Patientenversorgung in der Notfallmedizin hängt nicht nur von der medizinischen Entwicklung, sondern in einem erheblichen Maß von der Organisationsstruktur und von den Prozessen ab. Die Etablierung von zentralen Notaufnahmen, eine strukturierte Ersteinschätzung und die ärztliche Spezialisierung sind Entwicklungen, die nicht einfach von internationalen Vorreitern übernommen werden sollten, sondern stellen einen Prozess dar, der im Kontext des deutschen Gesundheitswesens kritisch mit wissenschaftlichen Methoden der Versorgungsforschung begleitet werden sollte. Hierzu liefert die Statuserhebung der DGINA wichtige Informationen. Sie zeigt Kennzahlen zur personellen Ausstattung, Patientenverteilungen sowie der Verbreitung der verschiedenen Ersteinschätzungssysteme. Es gilt nun, diese Kennzahlsysteme in einer Balance zwischen internationalen Vorarbeiten [11] und nationalen Anpassungen weiterzuentwickeln. Hier ist eine enge Zusammenarbeit der DGINA mit der DIVI-Sektion Notaufnahmeprotokoll wünschenswert, um Parallelentwicklungen und damit eine Doppeldokumentation zu vermeiden.

Fazit

Hippokrates von Kos steht in der Geschichte als einer der wichtigsten Begründer der Wissenschaft in der Medizin auf der Grundlage der Medizinischen Dokumentation und damit für einen Paradigmenwechsel. Einen ähnlichen Paradigmenwechsel kann es durch das Informationszeitalter in der Medizin geben. So wie das Corpus Hippocraticum über einen Zeitraum von 400 Jahren entstanden ist und von einer Vielzahl von Medizinern entwickelt wurde, sind auch die aktuellen Veränderungen ein Prozess, der von vielen vorangetrieben und getragen werden muss. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Dokumentation nicht das Ziel, sondern ein Weg ist, das eigentliche Ziel einer guten Patientenversorgung zu erreichen.

Allerdings stellt die Dokumentation nicht nur eine Notwendigkeit dar, sie ist auch einen Visitenkarte der eigenen Arbeit.

Rainer Röhrig

Felix Walcher