Psychiatr Prax 2009; 36(7): 349
DOI: 10.1055/s-0029-1242048
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Mit dem Geräusch ins Gespräch kommen

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01 October 2009 (online)

 

Wenn es im Ohr ständig piept, muss es nicht am Ohr liegen. Die Volkskrankheit Tinnitus hat tiefere Ursachen, heißt es in einem neuen Ratgeber. Der Autor rät, das krankmachende Getöne als Symptom für innere Spannungen und Konflikte anzuerkennen - und die Botschaft zu entschlüsseln.

"Wer nicht fühlen will, muss hören." Einer Patientin sei diese Umkehrung des Sprichwortes eingefallen, schreibt Michael Tillmann gleich am Anfang seines Ratgebers für Tinnitus-Betroffene. Eine Formulierung, die er für treffend hält. Skizziert sie doch in aller Kürze, auf was der Bremer Psychoanalytiker hinaus will: Was allgemein als Tinnitus bezeichnet wird, ist zumeist eine psychosomatische Erkrankung. "Ein Schrei der Seele, die sich dem Körper ausdrückt." Ein Notsignal, ausgesendet, weil der Mensch überfordert ist und verlernt hat, sich einzufühlen.

Von einem chronischen subjektiven Tinnitus aurium geht man aus, wenn es im Ohr fortwährend pfeift, piept, saust oder rattert. Und wenn nach dem üblichen Gang durch die Praxen von Allgemeinmedizinern und HNO-Ärzten das Urteil gefällt worden ist: Ursache nicht erkennbar. Rund drei Millionen Menschen müssen in Deutschland mit dem chronischen Leiden leben. Die Deutsche Tinnitus-Liga spricht von einer Volkskrankheit, in ihrem Ausmaß längst mit Diabetes vergleichbar. Und Michael Tillmann fügt hinzu, auch in anderen Industrieländern - und nicht nur dort - seien seit gut 20 Jahren die Menschen "quer durch alle Generationen von der Tinnitus-Symptomatik in epidemischem Ausmaß betroffen". Doch von Unheilbarkeit könne nicht die Rede sein, davon ist er überzeugt: "Was gekommen ist, kann auch wieder gehen."

Medizinisch und pharmazeutisch wird ja auch so einiges aufgeboten. Und den meisten dieser Angebote, gängigen wie exotischen, misstraut der Autor des fachchinesisch-freien Taschenbuchs: "Die Liste der mehr oder weniger wirkungslosen Medikamente und Therapien ist lang." Wenn jemand vom Kampf gegen den Tinnitus profitiere, dann die Gesundheitsindustrie. Herzlich wenig hält er von der immer noch als Basisbehandlung angesehenen Infusionstherapie: "Zu teuer und zu nutzlos." Auch TRT (Tinnitus-Retraining-Therapie), bei der mit einem Gegenton zum Gegenangriff übergegangen wird, kommt bei ihm schlecht weg. Einen Alarm abschalten, ihn unhörbar machen, das sei ein Verhalten wie auf der Titanic. Wie der Versuch der Bordkapelle, das SOS der Schiffssirene zu übertönen.

Es ist nicht zu überlesen: Tillmann, Psychotherapeut und -analytiker, betrachtet das Ohrsausen aus seiner fachlichen Position. Sicher, "es gibt nicht DIE Lösung für den Tinnitus, die Wege sind so unterschiedlich wie die Menschen, die darunter leiden" - auch dieser Satz ist bei ihm zu finden. Doch grundsätzlich sieht er in den belastenden Geräuschen eine Form von Kommunikation. Klopfzeichen aus dem Unbewussten, die auf innere Spannungen, auf eingekapselte Konflikte hindeuten. Die Seele melde sich zu Wort. Indes in einer Art und Weise, die der genervte Mensch am liebsten überhören würde. Wie soll er auch auf das Gesprächsangebot eingehen, wenn er es als solches gar nicht wahrnimmt, vielmehr das Getöne als sinnlos und leidvoll erfährt? Tillmann plädiert dafür, die Signale nicht zu unterdrücken, sie vielmehr zu entschlüsseln und sich dabei eines professionellen Übersetzers zu bedienen. Kurz und gut: Er empfiehlt einen Psychotherapeuten. "Seine Aufgabe ist es, einfühlsam zu sein, ohne mitleiden zu müssen. Das ermöglicht einen gemeinsamen Denkprozess."

Die Fallbeispiele des Ratgebers lassen vermuten, dass in einer solchen Aufarbeitung immer wieder ähnliche Konfliktfelder zu beackern sind. Ablösung, Trennung, Entwicklung und Selbstständigwerden - der klassische Nährboden für vielerlei Krankheiten. Das sieht auf den ersten Blick nach Blessuren aus, die man sich ganz individuell, in persönlichen Beziehungen zuzieht. Doch Tillmann betont, "auch gesellschaftlich-kulturelle Prozesse können solche Entwicklungen hervorrufen". Was erklären würde, warum der Tinnitus gerade in den letzten 20 Jahren zu einem Massenphänomen geworden ist. Schließlich leben wir mittlerweile in einer Welt, die in rasantem Tempo neue Produkte, neue Werte und neue Gedanken produziert. In einer Welt, in der dauernd irgendjemand dazu auffordert, dies zu machen und jenes lieber zu lassen. Und damit in einem Milieu, das fürs eigene Fühlen und Denken nicht gerade förderlich zu sein scheint.

Michael Tillmanns Buch animiert zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Und dennoch hat er kein dickleibiges Theoriewerk vorgelegt, sondern einen ebenso flott wie einfühlsam geschriebenen Ratgeber. Sicherlich, einige dürften sich damit schwertun. Womöglich Schulmediziner, die ausschließlich somatisch orientiert sind. Vielleicht auch Patienten, für die das Problem im Ohr sitzt und nirgendwo sonst. Und die deshalb den Zusammenhang mit der Seele zunächst für abwegig halten. Ihnen macht Tillmann Mut, die wahren Ursachen zu erforschen. Und das durchaus auch mal mit einem saloppen Spruch: "Psychotherapie ist nicht für Verrückte."

Helmut Dachale, Bremen

Email: Dachale@medienbuero-dachale.de

Michael Tillmann: Ich, das Geräusch. Ein Ratgeber für Tinnitus-Betroffene Psychosozial-Verlag Gießen 2009, 12,90 €

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