Dtsch Med Wochenschr 2017; 142(14): 1017
DOI: 10.1055/s-0043-110015
Editorial
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Multimorbidität – klug entscheiden trotz fehlender Daten

Multimorbidity – choosing wisely inspite of lacking data
Georg Ertl
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Publication Date:
20 July 2017 (online)

Die Lebenserwartung in den westlichen Industrienationen wächst stetig. In Deutschland werden Frauen derzeit im Schnitt 83, Männern 78 Jahre alt, manche gesund bis ins hohe Alter, also: Alter ist keine Krankheit. Die Mehrzahl sammelt aber über die Zeit chronische Gesundheitsstörungen oder Krankheiten an, die im Alter unter Umständen anders, vielleicht auch schwerer verlaufen. Dennoch kann man Alter nicht grundsätzlich als Komorbidität auffassen (s. S. 1030). Bei chronischen Krankheiten sind aber Begleiterkrankungen häufig und kumulieren im fortgeschrittenen Lebensalter. So sind Patienten, die wegen einer Herzinsuffizienz in die Klinik müssen, im Mittel 75 Jahre alt und haben 5 Komorbiditäten (s. S. 1054). Krankheiten beeinflussen sich gegenseitig in ihrem Verlauf und ihrer Symptomatik, und die Behandlung einer Erkrankung muss die der Komorbiditäten berücksichtigen. Polypharmazie wird im Alter und bei Multimorbidität ein gravierendes, tatsächlich nicht wirklich evidenzbasiert lösbares Problem, das noch dazu wesentlich zu Mangelernährung beitragen kann (s. S. 1038). Strategien, die dennoch die Arzneimitteltherapiesicherheit hochhalten, zeigt der Beitrag ab S. 1046.

In großen klinischen Arzneimittelstudien sind Komorbiditäten häufig ein Ausschlussgrund, sodass für die Behandlung multimorbider Patienten häufig keine Daten und damit auch keine Evidenz vorliegt. Es bleibt, wenn überhaupt, bei Expertenmeinungen, letztlich bei der Therapieentscheidung des behandelnden Arztes, der ausreichend Expertise für die einzelne Krankheit, aber auch für die Komorbiditäten und die gegenseitigen Abhängigkeiten haben muss. Die Standardbehandlung für Erkrankungen kann versagen, wenn diese als Komorbiditäten auftreten. So zeigte die SERVE-HF-Studie für die CPAP-Behandlung bei Patienten mit Herzinsuffizienz und zentraler Schlafapnoe im Vergleich mit einem Kontrollkollektiv ein negatives Ergebnis – sogar mit einer Übersterblichkeit bei den behandelten Patienten [1]. Ähnlich die MOOD-HF-Studie, die das Antidepressivum Escitalopram bei Patienten mit Herzinsuffizienz und Depression mit Placebo verglich. Escitalopram verbesserte die Depression nicht mehr als Placebo – wieder mit einem deutlichen Hinweis für negative Effekte auf weitere Endpunkte [2]. Es wird immer klarer, dass solche negativen Studien für die „kluge Entscheidung“ bei der Behandlung vieler Patienten von größter Bedeutung sind [3]. Es ist auch zu fragen, ob bei älteren multimorbiden Patienten, die Endpunkte der großen Zulassungsstudien – meist Mortalität oder wesentlich durch Mortalität bestimmt – nicht weniger entscheidend sind als Lebensqualität mit einer noch genügenden Leistungsfähigkeit. Megatrials können uns helfen, für eine Krankheit eine Therapie zu etablieren, im Alltag müssen wir diese auf den individuellen Patienten anpassen [4].

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Prof. Dr. med. Georg Ertl
 
  • Literatur

  • 1 Cowie MR, Woehrle H, Wegscheider K. et al. Adaptive Servo-Ventilation for Central Sleep Apnea in Systolic Heart Failure. N Engl J Med 2015; 373: 1095-1105
  • 2 Angermann CE, Gelbrich G, Störk S. et al. Effect of Escitalopram on All-Cause Mortality and Hospitalization in Patients With Heart Failure and Depression: The MOOD-HF Ran-domized Clinical Trial. JAMA 2016; 315: 2683-2693
  • 3 Ertl G, Ruschitzka F. The Year in Cardiology 2013: Heart failure. Eur Heart J 2014; 35: 470-473
  • 4 Ertl G, Jugdutt B. ACE inhibition after myocardial infarction: can megatrials provide answers?. Lancet 1994; 344: 1068-1069