Laryngorhinootologie 2003; 82(11): 750-751
DOI: 10.1055/s-2003-44544
Rundtischgespräch
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kognitive Therapie bei chronischem Tinnitus - heute anerkannte Therapie der Wahl

Cognitive Therapy for Chronic Tinnitus - Current Gold StandardH.  P.  Zenner1
  • 1Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Tübingen
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Publication Date:
21 November 2003 (online)

Bei einem Rundtischgespräch zur Behandlung des chronischen Tinnitus wurde eine Bestandsaufnahme der Behandlung in verschiedenen Versorgungssektoren durchgeführt. Nach einem brillanten historischen Rückblick von Harald Feldmann, Münster, stellte Hans Peter Zenner, Tübingen, in der notwendigen Kürze wesentliche Elemente der Pathophysiologie des chronischen Tinnitus dar. Bei der Mehrzahl der Betroffenen kann, ausgehend von einem ursprünglich peripher ausgelösten Tinnitus, von einer sekundären Zentralisierung und dadurch induzierter zentraler Verstärkung der Tinnituswahrnehmung ausgegangen werden. Als grundlegendes neurophysiologisches Modell wies er auf die zentrale Sensitivierung hin, die das Ergebnis spezifischer zentral-nervöser neurophysiologischer Lernvorgänge gegenüber der Noxe Tinnitus auf dem Boden der Plastizität des zentral-auditorischen Systems ist. Das Gegenteil einer Sensitivierung, die Habituation, ist in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie seit langem als Therapieinhalt für die Behandlung des chronischen Tinnitus vorgesehen. Eine zweckmäßige und in der Regel ausreichende Therapie entsprechend der Leitlinien führt daher von der Sensitivierung zur Habituation und kann daher als Desensitivierung bezeichnet werden.

Bei der Besprechung der Therapiemodalitäten der Versorgungssektoren ambulante Therapie, Reha-Klinik, Kur und Psychotherapeutische Klinik ergab sich ein Habituations-Therapieansatz als fundamentale Gemeinsamkeit aller vortragenden Therapeuten. Alle wendeten kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren an, um eine Tinnitusdesensitivierung mit dem Ziel einer Tinnitushabituation zu erreichen. Kognitive therapeutische Interventionen ermöglichen es in der überwiegenden Zahl der Fälle, die Wahrnehmung des quälenden Tinnitus durch eine andere Wahrnehmung zu ersetzen. Die verwendeten kognitiven Prozeduren waren dabei aus der Psychologie, der Psychosomatik sowie (außer in der Psychotherapeutischen Klinik) zu einem hohen Anteil aus der Neurootologie übernommen, so dass man von einer neurootologisch-kognitiven Tinnitusdesensitivierungstherapie sprechen konnte. Als niedergelassener Arzt schilderte Eberhard Biesinger die Realisation der 3 - 15 Stunden umfassenden Behandlung durch ein Tandem von Hals-Nasen-Ohren-ärztlichem Praxisinhaber und speziell für diese Therapie ausgebildetem Psychologen. Ein gemeinsames Therapiezentrum bildend, entfällt ein wesentlicher Teil der Prozeduren auf den Hals-Nasen-Ohren-Arzt, während weitere Anteile der Therapie durch einen Psychologen durchgeführt werden. Zwar spielte die klassische Retrainingtherapie mit der chronisch applizierten akustischen Stimulation unverändert eine Rolle, dem Vortrag ließ sich jedoch entnehmen, dass die kognitiven Prozeduren, die definitionsgemäß nicht zur Retrainingtherapie gehören, mittlerweile das Fundament seines Therapiekonzeptes bilden. Dem entsprechen Ergebnisse von Gruppenstudien, nach denen kognitive Behandlungen mit und ohne akustischen Retraininganteil zu demselben Ergebnis führen.

Als sehr effiziente Möglichkeit der Therapierealisation gibt es im wohnortbezogenen, ambulanten Sektor darüber hinaus erste (HNO-) ärztlich geleitete Therapiezentren in Deutschland, in denen spezifisch neurootologisch und psychosomatisch weitergebildete Ärzte bei der Mehrzahl der Patienten die neurootologisch-kognitive Therapie vollständig durchführen. Der Psychologe/Psychotherapeut des Zentrums behandelt die Minderzahl der Betroffenen mit einer psychischen Komorbidität.

Im Versorgungssektor stationäre Rehabilitationsklinik, so Gerhard Hesse, Bad Arolsen, ist die kognitive Therapie ebenfalls wesentliche Grundlage der Behandlung. Auch hier ist der einzelne Arzt im Einzelfall durchaus in der Lage und weitergebildet, die Therapie komplett seinen Patienten aus einer Hand anzubieten. Allerdings ist der durchschnittliche Erkrankungsgrad bei Patienten in einer Reha-Klinik naturgemäß höher als im ambulanten Bereich, welches in vielen Fällen dazu führt, dass die kognitive Therapie berufsgruppenübergreifend durchgeführt wird.

Eine vergleichbare Situation ergibt sich für einen Kuraufenthalt. Manfred Pilgram, Bad Meinberg, legte dabei noch einmal dar, dass eine Kur formal eine ambulante Behandlung ist, bei der der Patient am Kurort in einem Hotel untergebracht ist und die Kurleistungen nach ärztlicher Verordnung in Anspruch nimmt. Für den Fall des Tinnitus stehen die ein- und dreiwöchige Tinnitus-Kompaktkur zur Verfügung, die inhaltlich ganz wesentlich einer neurootologisch-kognitiven Tinnitusdesensitivierung entspricht. Organisatorisch wird sie in Bad Meinberg berufsgruppenübergreifend unter Beteiligung des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, des Audiologen sowie von Psychologen durchgeführt.

In einer Akut-Klinik für Psychotherapie, so Hans-Martin Rothe, Görlitz, stehen ebenfalls spezifisch ausgebildete Ärzte zur Verfügung, die durchaus in der Lage sind, das kognitive Therapieangebot einem Patienten aus einer Hand zu gewähren. Dies schließt eine berufsgruppenübergreifende Behandlung im Einzelfall nicht aus.

Anschließend wies Zenner noch einmal darauf hin, dass für die neurootologisch-kognitive Tinnitusdesensitivierungstherapie heute strukturierte Therapieprogramme für den spezifisch weitergebildeten, neurootologisch tätigen Arzt, wie auch für den spezifisch weitergebildeten Psychologen/Psychotherapeuten zur Verfügung stehen. Da die Kognition Endpunkt des Sinnessystems ist, ist sie notwendigerweise fachspezifischer Teil der Neurootologie. Durch die heute zur Verfügung stehende Strukturierung der kognitiven Therapieprozeduren stehen diese zumindest für den Grad III nach Biesinger preiswert aus der Hand des Neurootologen ambulant zur Verfügung.

So wie wir in der HNO-Chirurgie zahlreiche indikationsspezifische Operationsprozeduren nutzen, stellt auch die strukturierte kognitive Tinnitusdesensitivierung rund 30 spezifisch zu indizierende, verhaltensmedizinische Therapieprozeduren zur Verfügung. Sie reichen von der kognitiven-emotionalen Verarbeitung über die Aufmerksamkeitsumlenkung im Hörlabor und die mentale Aufmerksamkeitsumlenkung bis zur strukturierten Schulung des REM-Schlafes.

Die moderne sinnesphysiologische Hirnforschung, etwa um Nils Birbaumer hat gezeigt, dass das Hörgehirn zeitgleich nur einen Reiz wahrnehmen kann. Wird die negative Tinnituswahrnehmung durch eine andere Reizwahrnehmung ersetzt, wird die negative Tinnituswahrnehmung im auditorischen Kortex verdrängt. In Analogie zu einem Medikament kann man auch von einer kompetitiven Hemmung der Tinnituswahrnehmung sprechen. Als kompetitive Hemmer oder Antagonisten der negativen Tinnituswahrnehmung dienen dabei entweder eine kognitive Modifikation des Tinnitus (der Tinnitus wird z. B. positiv besetzt) und/oder ein sog. kognitiver Antagonist. Ein typischer kognitiver Antagonist ist beispielsweise eine exogene Reizsituation (z. B. ein äußeres Schallereignis). Ziel der kognitiven Therapie ist es jedoch, von einem äußeren Ereignis und damit von einem Apparat unabhängig zu werden und eine Tinnitus ersetzende, also im Gehirn erzeugte, endogene Reizsituation zu schaffen. Ein solcher typischer kognitiver Antagonist ist die positive Imagination. Sie kann im 5- bis 15-stündigen Verlauf der Behandlung verhaltenstherapeutisch aktiv erarbeitet werden und es gelingt in der weit überwiegenden Zahl der Betroffenen bei einem Grad III auf diese Weise die Tinnituswahrnehmung nachhaltig zu ersetzen.

Eine Besonderheit, darauf wiesen sowohl Hesse, als auch Rothe hin, ist naturgemäß der Grad IV: Während Grad-III-Patienten typischerweise nicht psychisch krank sind (sondern es handelt sich um eine Fehlwahrnehmung im auditorischen System) sind Patienten mit Grad IV in der Regel mit erheblichen psychischen Komorbiditäten belastet. In diesen Fällen ist eine neurootologisch-kognitive Therapie nicht ausreichend, sondern eine psychotherapeutische Behandlung ist zweckmäßig. Diese kann so angelegt sein, dass sie als alleinige Therapie das Ziel der Tinnitushabituation hat. Ein anderer Ansatz ist es, mit psychotherapeutischen Maßnahmen die psychische Komorbidität soweit zu bessern, dass anschließend eine neurootologisch-kognitive Therapie möglich wird.

Insgesamt, so das Fazit des Rundtischgespräches und seiner Diskussion, wurden in den einzelnen Vorträgen zwar unterschiedliche Nomenklaturen verwendet, es kristallisierte sich jedoch heraus, dass kognitive Therapieprozeduren mit dem Ziel der Tinnitushabituation die Grundlage der Therapie aller aus den unterschiedlichen Versorgungssektoren Vortragenden waren. Sie können unter der Bezeichnung neurootologisch-kognitive Tinnitusdesensitivierung begrifflich zusammengefasst werden. Dabei handelt es sich um verhaltenstherapeutische Prozeduren entweder aus der Hand des psychosomatisch weitergebildeten Neurootologen oder aus der Hand des neurootologisch weitergebildeten Psychologen/Psychotherapeuten.

Literatur

  • 1 Tinnitusportal. Internet www.tinnitusportal.de. 
  • 2 Zenner H P. Evidenzbasierte und leitliniengerechte Habituationstherapie bei chronischer Tinnitusdesensitivierung.  HNO. 2003;  51 687-689

Prof. Dr. H. P. Zenner

Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik

Elfriede-Aulhorn-Straße 5 · 72076 Tübingen

Email: zenner@uni-tuebingen.de

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