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Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien

Verfasst von: Christian Bachmann, Judith Bürzle und Jörg M. Fegert
In Deutschland leben etwa 90.000 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien; am häufigsten aufgrund sog. Unversorgtheit, Kindeswohlgefährdung oder eingeschränkter elterlicher erzieherischer Kompetenz. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weisen Pflegekinder mehr psychische und somatische Störungen auf und haben häufiger einen IQ im Bereich einer Lernbehinderung; aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht stellen sie eine Hochrisikogruppe dar. Die angemessene Förderung und Erziehung von Pflegekindern ist eine herausfordernde Aufgabe, für die Pflegeeltern optimale Vorbereitung und Unterstützung benötigen, z. B. durch Elterntrainings. Auch eine sorgfältige kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und gegebenenfalls Therapie ist unabdingbar für den erfolgreichen Verlauf einer Platzierung. Nachgewiesene Effekte einer Platzierung in einer Pflegefamilie sind die Reduktion kindlicher Psychopathologie und die Zunahme sicherer Bindungsmuster. Bislang noch unzureichend beforscht sind die sog. Care Leaver.

Einleitung

Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte hat es Kinder gegeben, deren Eltern nicht willens oder in der Lage waren, sie angemessen zu versorgen und/oder zu erziehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und umfassen schwere körperliche oder psychische Erkrankung eines Elternteils, Tod der Eltern, Trennung von Eltern und Kind durch Kriegshandlungen und Flucht, extreme Armut, Vernachlässigung oder Misshandlung in der Herkunftsfamilie, unerwünschtes Geschlecht des Kindes, sowie – eher historisch – Stigmatisierung aufgrund unehelicher Geburt (Van IJzendoorn et al. 2015; Sarkar et al. 2003). Während in vergangenen Jahrhunderten die Fürsorge für solche Kinder häufig innerhalb der weiteren Familie geregelt wurde oder insbesondere im Commonwealth und in den USA zeitweise in großem Stil von mildtätigen Organisationen wahrgenommen wurde („Home Children“, „Big Brother Movement“, „Orphan Train Movement“), wurde etwa ab Beginn des 20. Jahrhunderts die Fürsorge für Pflegekinder zunehmend als eine dem Staat obliegende Aufgabe aufgefasst. So wurde beispielsweise aufgrund der hohen Sterblichkeit von Säuglingen in Pflegefamilien (> 300/1000) 1902 in Stockholm ein Gesetz verabschiedet, das regelmäßige Inspektionen von Pflegefamilien mit Beratung zu Säuglingspflege und Ernährung vorsah und in den folgenden zehn Jahren zu einer Angleichung der Mortalität an die der Normalbevölkerung führte (Burström et al. 2012). Ein wichtiger Meilenstein im deutschen Kontext war das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, in dem neben der Fürsorgepflicht des Staates für Pflegekinder auch ein Verständnis für deren besondere Schutzbedürftigkeit zum Ausdruck kam (Blandow 2004). Konkret wurde durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, das Kinder in familiärer und institutioneller Pflege umfasste, mit dem „Recht auf Erziehung“ für Pflegekinder ein pädagogischer Leitgedanke etabliert, die Errichtung kommunaler Jugendämter und entsprechender Aufsichtsbehörden sowie rechtlicher Überprüfungsmechanismen verankert sowie das Instrument der Amtsvormundschaft eingeführt. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich das Pflegekinderwesen kontinuierlich im gesellschaftlichen Kontext weiter. So erfuhr im Gefolge des zweiten Weltkrieges – nicht zuletzt aufgrund begrenzter Heimkapazitäten – das Institut der Pflegefamilie („Landpflege“) eine Stärkung, zudem trat der Jugendhilfegedanke zunehmend in den Vordergrund. Im 1962 in Kraft getretenen Gesetz für Jugendwohlfahrt wurden erstmals die Elemente der Erziehungsbeistandschaft und freiwilligen Erziehungshilfe eingeführt, außerdem wurde die Altersgrenze für Pflegekinder von 14 auf 16 Jahren erhöht. Im Zuge der emanzipatorischen gesellschaftlichen Diskurse der späten 1960er-Jahre erfuhr die Unterbringung von Pflegekindern in Familien eine deutliche Aufwertung gegenüber der Heimerziehung, ebenso kam eine stärkere Orientierung am Kindeswohl zum Tragen. Weitere Entwicklungen in den folgenden Jahren waren eine Weiterentwicklung der fachlichen Begleitung von Pflegeverhältnissen durch Jugendämter und Jugendhilfeträger sowie die stärkere Wahrnehmung und Einbeziehung der Herkunftsfamilien. Im Jahr 1980 wurden Pflegekinder erstmalig explizit im BGB erwähnt, mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/91 wurde das Verhältnis zwischen Staat und hilfesuchenden Kindern und Jugendlichen und Eltern reformiert und auf eine kooperativ-partizipative, leistungsrechtlich ausgeformte Grundlage gestellt.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Seit 2011 befassten sich die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) und die Justizministerkonferenz (JuMiKo) immer wieder mit der Frage der Stärkung von Pflegekindern und ihren Familien. So mahnte die JFMK in ihrem Beschluss 2011 einen Handlungsbedarf in Bezug auf die Stärkung der Bindungen zwischen Pflegeeltern und Pflegekind im Interesse des Kindeswohls an und betonte gleichzeitig die Notwendigkeit der Arbeit mit der Herkunftsfamilie und insgesamt die Notwendigkeit einer verlässlichen und qualitativ hochwertigen Beratung und Unterstützung von Pflegefamilien. 2013 beschloss die JuMiKo einen Prüfauftrag mit Blick auf die Verbesserung der rechtlichen Position von Pflegefamilien in lang dauernden Pflegeverhältnissen im Interesse der Beziehungskonstanz und des Kindeswohls. Ein weiterer Prüfauftrag diesmal von der JFMK 2014 betraf die bestmöglichen Rahmenbedingungen für das Wohl des Pflegekindes in Dauerpflegeverhältnissen. Nachdem in der 17. Legislaturperiode ein Gesetzentwurf, der insbesondere die Stärken der Position von Pflegekindern zum Ziel hatte, scheiterte, gelang in der 18. Wahlperiode im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes schließlich die stärkere zivilrechtliche Absicherung von Pflegeverhältnissen durch die Stärkung der Rechte von Pflegeeltern. So ist es gemäß § 1632 Abs. 4 BGB möglich, dass das Familiengericht anordnet, dass das Pflegekind in seiner Pflegefamilie verbleibt. Den Antrag hierzu kann die Pflegeperson stellen. Das Gericht kann den Verbleib aber auch von Amts wegen anordnen oder das Jugendamt, die leiblichen Eltern oder andere Personen können beim Familiengericht eine solche Entscheidung anregen. Der Anlass ist häufig ein Streitfall, wo ein Elternteil oder leibliche Eltern, die über das Aufenthaltsbestimmungsrecht verfügen und ursprünglich einmal einer Inpflegegabe zugestimmt hatten, nun überraschend beabsichtigen, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen. Voraussetzung ist, dass das Kind längere Zeit in der Pflegefamilie lebt. Dabei muss vom kindlichen Zeitverständnis und vom Entwicklungsstand ausgegangen werden. Also je jünger ein Kind ist, desto kürzer ist jener Zeitraum, nach dem man Bindungen des Pflegekinds an die Pflegeeltern wahrnehmen kann, die ohne ein Risiko, das Kind zu schädigen, nicht mehr aufzuheben sind. Für Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeuten ist häufig die Darlegung wichtig, warum das Kind bei der Herausnahme aus der Pflegefamilie einen seelischen oder körperlichen Schaden erleiden würde. Geht es nicht um die Rückkehr zu den leiblichen Eltern, sondern allein um den Wechsel der Unterbringungsform, z. B. den Wechsel in ein Heim z. B. auf Wunsch der leiblichen Eltern, dann steht die Pflegefamilie unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz, der generell die Abwehrrechte der Familie gegen Angriffe des Staates ausformuliert. Eine Herausnahme des Kindes ist dann nur zulässig, wenn seelische und körperliche Schäden ausgeschlossen werden können. Diese Schwelle ist deutlich höher. Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die sog. Dauerverbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 2 Satz 2 BGB. Dabei kommt es nicht primär auf eine möglicherweise nach einer Suchttherapie z. B. wiedergewonnene Erziehungsgeeignetheit der leiblichen Eltern an, sondern es geht nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts darum, ob durch den Wechsel aus der Pflegefamilie heraus eine schwere und nachhaltige Schädigung des Kindeswohls zu erwarten ist (BVerfG, Beschluss vom 17.10.1984, 1 BvR 284/84). All dies muss insgesamt im Sinne einer notwendigen Stabilität und Berechenbarkeit des Lebensortes und Lebensfeldes für Kinder bewertet werden. Der neue § 37 im SGB VIII regelt einen Rechtsanspruch leiblichen Eltern auf Beratung und Unterstützung sowie Förderung der Beziehung zu ihrem Kind. Damit soll es sowohl den leiblichen Eltern wie den Pflegeeltern ermöglicht werden, bei der Aushandlung einer für das Kind förderlichen Lebensperspektive sich stärker an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten. § 37 a SGB VIII regelt Beratung und Unterstützung der Pflegepersonen. § 37 b SGB VIII überträgt die Schutzkonzepte-Debatte, die früher primär institutionelle Situationen betroffen hatte – in bereichsspezifischer Form auch auf die Familienpflege (vgl. Fegert et al. 2022, Schutzkonzepte in der Pflegefamilie). Nach § 37 b SGB VIII hat das Jugendamt sicherzustellen, dass während der Dauer des Pflegeverhältnisses ein nach fachlichen Handlungsleitlinien gemäß § 79 a Satz 2 entwickeltes Schutzkonzept Anwendung findet und das Jugendamt muss Möglichkeiten der Beschwerde für Kinder und Jugendliche in Familienpflege schaffen und Kinder und Jugendliche über diese Beschwerdemöglichkeiten informieren. Insgesamt geht die rechtliche Entwicklung dahin, „Elternstreit durch Beratung und Konzentration auf das Kindeswohl zu reduzieren und den Schutz dieser besonders vulnerablen oft vorbelasteten Kinder und Jugendlichen zu stärken.“

Epidemiologie

In Deutschland waren im Jahr 2021 ca. 210.000 Kinder und Jugendliche außerhäuslich untergebracht, davon knapp 90.000 in Pflegefamilien (in der Regel nach § 33 SGB VIII). Wie aus Abb. 1 ersichtlich, ist die Zahl der Unterbringungen in Pflegefamilien über die vergangenen zehn Jahre leicht angestiegen. Die Unterbringungsquoten schwanken hierbei zwischen 20–400 Unterbringungen pro 10.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Im Durchschnitt sind in einer deutschen Stadt/Landkreis mit 250.000 Einwohnern etwa 750–1100 Kinder und Jugendliche außerhäuslich untergebracht, in ärmeren Regionen Deutschlands liegt diese Zahl bis zu doppelt so hoch.
Der Großteil der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien ist minderjährig (Abb. 2), bei in etwa ausgeglichenem Geschlechterverhältnis. Etwa 10 % sind junge Erwachsene, bei denen es sich ganz überwiegend um Care Leaver (Abschn. 5.4) handelt.
In den Herkunftsfamilien von jungen Menschen in Vollzeitpflege ist etwa die Hälfte der Eltern alleinerziehend und etwa 2/3 der Herkunftsfamilien leben teilweise oder vollständig von Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe (Statistisches Bundesamt 2023). Zu den häufigsten Gründen für die Unterbringung in einer Pflegefamilie gehört die sog. Unversorgtheit des jungen Menschen (z. B. Eltern nicht verfügbar wegen Erkrankung), gefolgt von Kindeswohlgefährdung und eingeschränkter Erziehungskompetenz der Eltern.
Die durchschnittliche Dauer der Unterbringung in einer Pflegefamilie lag im Jahr 2021 bei 49 Monaten, also etwas über vier Jahren (Statistisches Bundesamt 2023). Nicht jede Platzierung in einer Pflegefamilie ist auch dauerhaft erfolgreich: In auf Dauer angelegten Verwandschaftspflegeverhältnissen erreichten 47 % und in Fremdpflegeverhältnissen 41 % der Pflegekinder die Grenze der Volljährigkeit in der ursprünglichen Pflegefamilie (Van Santen et al. 2019). Nach dem Ende der Unterbringung in der Pflegefamilie kehrt etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen wieder in die Herkunftsfamilie zurück (ein Teil dieser Rückführungen scheitert allerdings), ein Fünftel wechselt in eine stationäre Einrichtung und 10 % ziehen in eine eigene Wohnung.

Psychische und somatische Gesundheit von Pflegekindern

Betrachtet man allein die Reihe möglicher Gründe für eine Platzierung eines Kindes in einer Pflegefamilie, wird bereits deutlich, dass Pflegekinder einem höheren Risiko für das Vorhandensein oder die Entwicklung einer psychischen Störung unterliegen. Häufig finden sich bei den leiblichen Eltern vermehrt psychische Störungen wie Erkrankungen aus dem schizophrene Spektrum, depressive Störungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Persönlichkeitsstörungen, die die Erziehungsfähigkeit beeinträchtigen können; auch liegt häufiger eine elterliche Intelligenzminderung vor. Die betroffenen Kinder haben somit sowohl durch ihre genetische Ausstattung als auch durch Umweltfaktoren (z. B. harscher elterlicher Erziehungsstil, wechselnde Platzierungen) und durch Gen-Umwelt-Interaktionseffekte ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten sowie eine unterdurchschnittliche Intelligenz.
In der internationalen Literatur variieren die Angaben zur Prävalenz psychischer Störungen bei Pflegekindern erheblich: Eine aktuelle Übersichtsarbeit, die 25 Studien zu Pflegekindern im Alter von 0–18 Jahren aus westlichen Ländern aus den Jahren 2000–2021 auswertete, fand eine Häufigkeit psychischer Störungen von 32–80 % (Engler et al. 2022). Die psychiatrische Morbidität im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung lag damit etwa 3- bis 4-mal höher. Auch für Suizidalität sowie nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten fand sich eine erhöhte Prävalenz. Am häufigsten wurden bei Pflegekindern Störungen des Sozialverhaltens, depressive Störungen posttraumatische Belastungsstörungen sowie reaktive Bindungsstörungen diagnostiziert, zudem lagen häufig mehrere komorbide psychiatrische Störungen gleichzeitig vor (Lehmann et al. 2013).
Bindungsstörungen kommen bei Pflegekindern zwar häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung, sind aber insgesamt eher selten. Unsichere Bindungsmuster hingegen sind häufig anzutreffen: In einer Studie an Pflegekindern, deren Herausnahme aus der Herkunftsfamilie im Alter von etwa sieben Jahren erfolgt war, hatte keines eine sichere Bindung zu seinem leiblichen Vater und nur 10 % zu seiner leiblichen Mutter (Joseph et al. 2014).
Auch für spezielle Gruppen von Pflegekindern liegen Daten zur Prävalenz psychischer Störungen vor: In einer Meta-Analyse von 25 Studien an Pflegekindern im Vorschulalter mit einer Vorgeschichte von Misshandlung und/oder Vernachlässigung zeigte sich eine Prävalenz von etwa 40 % für psychische Störungen, Entwicklungsstörungen oder unsichere Bindung sowie eine Prävalenz von 22 % für einen desorganisierten Bindungsstil (Vasileva und Petermann 2018a).
Unter Nutzung der neueren PTBS-Kriterien für Kinder fanden Hitchcock et al. in einer Stichprobe 5- bis 6-jähriger Pflegekinder aus UK eine Prävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung von 14 %; hatte anamnestisch ein Trauma-Ereignis vorgelegen, erhöhte sich die Häufigkeit auf 57 % (Hitchcock et al. 2021). Je nach kulturellem Kontext und Ursache der Unterbringung kann das psychopathologische Profil von Pflegekindern auch anders nuanciert sein: So zeigte sich in einer Untersuchung von 681 Pflegekindern im Alter von 10 bis 17 Jahren aus dem ländlichen Ruanda, wo insbesondere der Tod der Eltern an AIDS oft ein Pflegeverhältnis begründet, im Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung eine höhere Prävalenz von Depression, Angst und Irritabilität (Nduwimana et al. 2017).
Die hohe psychische Belastung von Pflegekindern zeigt sich selbst im Vergleichshorizont des stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Settings: In einer spanischen Untersuchung stationär behandelter Pflegekinder im Zeitraum 2014–2017 lagen bei etwa 80 % eine Störung des Sozialverhaltens und bei etwa 50 % ein Substanzmissbrauch vor. Diese Häufigkeiten lagen – ebenso wie die Zahl notfallmäßiger Vorstellungen – im Vergleich zur Kontrollgruppe anderer stationärer Patienten signifikant höher (Solerdelcoll et al. 2022). Die hohe Zahl notfallmäßiger Vorstellungen ist möglicherweise zumindest teilweise durch eine zu seltene Inanspruchnahme kinder- und jugendpsychiatrischer Dienste zu erklären: In einer norwegischen Studie waren 57 % der Pflegekinder mit psychischen Problemen (noch) nicht kinder- und jugendpsychiatrisch gesehen worden (Larsen et al. 2018).
Auch die somatische Gesundheit von Pflegekindern ist insgesamt schlechter als die der Allgemeinbevölkerung: Die klassische Arbeit von Chernoff et al. (1994) wies bei über 90 % der zu Beginn eines Pflegeverhältnisses untersuchten Kinder mindestens einen auffälligen somatischen Befund nach. Neben genetischen Syndromen wie z. B. einer fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) kann nicht selten auch – zumindest zu Beginn des Pflegeverhältnisses – eine Malnutrition, Adipositas oder Unterernährung vorliegen. Deutsche Daten zur psychischen und somatischen Gesundheit von Pflegekindern fehlen bislang.

Langfristige Entwicklung von Pflegekindern

Natürlicher Verlauf

Die English and Romanian Adoptees Study (ERA-Studie) stellt eine experimentelle, natürliche Längsschnittuntersuchung von Pflegekindern dar. Kinder, die während der Ceaușescu-Diktatur in Kinderheimen in Rumänien entweder bis zum Alter von sechs Monaten oder mehr als sechs Monate (bis hin zu 43 Monaten) aufgewachsen und anschließend in Großbritannien adoptiert wurden, wurden mit britischen Adoptivkindern verglichen. Das Aufwachsen in den rumänischen Heimen war gekennzeichnet von einem Mangel an Hygiene, Ernährung, Einzelzuwendung sowie kognitiver Förderung. Die Kinder wurden im Alter von sechs, 11 und 15 Jahren sowie im jungen Erwachsenenalter (22 bis 25 Jahre) nachuntersucht. Trotz früher Mangelernährung konnten die rumänischen Adoptivkinder in Größe und Gewicht bis zum Alter von sechs Jahren zu den britischen Peers aufholen; ein geringerer Kopfumfang als Indikator der Gehirngröße verblieb allerdings bis zum 11. Lebensjahr (Rutter et al. 2007). Kognitive Defizite konnten aber bis ins junge Erwachsenenalter ausgeglichen werden. Jedoch zeigten Kinder, die länger als sechs Monate unter den deprivierenden Umständen der rumänischen Heime gelebt hatten, im Vergleich bis ins junge Erwachsenenalter mehr autistische Verhaltensweisen, Auffälligkeiten im Bereich der Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und eher enthemmte soziale Verhaltensweisen (Sonuga-Barke et al. 2017). Ebenso nahmen emotionale Belastungen im fordernden Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter bei dieser Gruppe zu. Im jungen Erwachsenenalter wiesen die ehemaligen rumänischen Adoptivkinder mit mehr als sechs Monaten Heimerfahrung einen niedrigeren Bildungsstand auf, waren öfter arbeitslos und hatten häufiger Angebote für psychisch Erkrankte wahrgenommen. Somit kann eine frühere und länger andauernde Erfahrung von Vernachlässigung zu Beeinträchtigungen im psychosozialen Funktionsniveau bis ins junge Erwachsenenalter führen, auch wenn kognitive Parameter im Sinne der Neuroplastizität nachreifen können.

Pflegekinder im schulischen Kontext

Die langfristigen Verläufe von Pflegekindern im schulischen Kontext sind ungünstig: Während 56 % der englischen Allgemeinbevölkerung einen GSCE-Abschluss (General Certificate of Secondary Education, entspricht dem deutschen Realschulabschluss) mit guten Noten in fünf oder mehr Fächern erzielen, ist dies nur bei 12 % der Jugendlichen aus Heimen oder Pflegefamilien der Fall (Ford et al. 2007). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Meta-Analyse von Scherr (2007), die 31 Studien (vorwiegend aus den USA) zu Kindern in Pflegefamilien oder Verwandtschaftspflege aufgriff. 31 % aller Pflegekinder wurden auf einer Förderschule beschult bzw. wiesen die Voraussetzungen hierfür auf. Bei Pflegekindern war es 5-mal wahrscheinlicher, dass sie als Förderschüler identifiziert wurden als in ihrer Herkunftsfamilie lebende Kinder. 32 % der Pflegekinder waren bereits einmal von der Schule suspendiert oder ausgeschlossen worden, im Vergleich zu 13 % der Peers. Deutsche Daten zu dieser Thematik fehlen leider bislang.
Die vorgenannten Daten zeigen deutlich den Bedarf schulischer Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen für Pflegekinder auf. Eine US-amerikanische Langzeitstudie, die die Wirksamkeit des vorschulischen Förderprogramms Head Start für 3- bis 4-jährige Kinder untersuchte, wies nach, dass Pflegekinder mit Head-Start-Teilnahme gegenüber solchen ohne Teilnahme anschließend signifikant bessere Ergebnisse in kognitiver, sozio-emotionaler und gesundheitlicher Hinsicht aufwiesen. Interessanterweise zeigten sich diese Effekte am deutlichsten im Alter von acht bis neun Jahren, also mit deutlichem zeitlichen Abstand zur Intervention (Lee 2020).

Effekte einer Platzierung

Trotz dieser im gesamtgesellschaftlichen Vergleich ungünstigen Outcomes für ehemalige Pflegekinder erzielt die Platzierung in einer Pflegefamilie für das einzelne Kind sowohl im Längsschnitt als auch im Vergleich zur Heimunterbringung positive Wirkungen. Das Bucharest Early Intervention Project verglich rumänische Kinder, die nach 22 Monaten Heimunterbringung in einer Pflegefamilie platziert wurden, mit Kindern, die in den Einrichtungen verblieben. Die Zuteilung erfolgte randomisiert. Als Vergleichsgruppe dienten rumänische Kinder ohne vorangegangene Fremdplatzierungen. Kinder, die im Heim verblieben, hatten im Alter von 16 Jahren mehr als doppelt so häufig psychische Störungen wie Kinder, die in Pflegefamilien untergekommen waren (Humphreys et al. 2020). Waren die Platzierungen in der Pflegefamilie stabil, unterschieden sich diese Kinder mit Blick auf psychische Erkrankungen nicht von Kindern ohne Vorerfahrungen einer vollstationären Jugendhilfe.
Zudem konnten Linares et al. (2010) bei Kindern mit Platzierung in einer Pflegefamilie Hinweise auf eine Besserung von ADHS-Symptomen und Turner et al. (2022) je nach Engagement der Pflegeeltern eine Besserung reaktiver Bindungsstörungen nachweisen. Auch können sichere Bindungsmuster zu den Pflegeeltern entstehen, selbst wenn die Pflegekinder gegenüber den leiblichen Eltern unsicher gebunden sind (Joseph et al. 2014).

Care Leaver

Als Care Leaver werden junge Menschen bezeichnet, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend fremduntergebracht waren (Erzberger et al. 2019). Auf den deutschen Kontext bezogen können hierunter erwachsene Personen gefasst werden, die im Verlauf ihrer Lebensgeschichte basierend auf einer Hilfeplanung entsprechend nach § 33 oder § 34 SGB VIII in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe oder Pflegefamilien platziert waren.
Die Platzierung in einer Pflegefamilie endet in Deutschland regelhaft mit dem Erreichen der Volljährigkeit oder bei weiterer Hilfe für junge Volljährige spätestens im Alter von 21 Jahren. So stehen Care Leaver in der Regel deutlich früher als ihre in der Herkunftsfamilie aufwachsenden Altersgenossen vor dem Übergang in ein eigenständiges Leben (Durchschnittsalter beim Verlassen des Elternhauses (EU): 25,2 Jahre (junge Frauen) bzw. 27,1 Jahre (junge Männer); Eurostat 2023). Auch mit dem offiziellen Ende der Pflegekindschaft hängt die externe Unterstützung von Care Leavers zunächst oft noch von den ehemaligen Pflegeeltern ab – sei es in finanzieller Hinsicht, beim Finden einer Ausbildungsstelle, als Unterstützung bei Behördengängen oder in Form eines weiteren Wohnangebotes im Haushalt der Pflegeeltern. Hinzu kommt, dass es aufgrund der bisher bestehenden Praxis der Kostenheranziehung der öffentlichen Jugendhilfe Pflegekindern nur schwer möglich war, durch Nebenjobs oder eine Ausbildung finanzielle Reserven als Grundlage für ein eigenständiges Leben aufzubauen. Zudem entfallen mit dem offiziellen Ende der Pflegekindschaft häufig nicht nur die Pflegeeltern als supportive Akteure, sondern ebenso die Mitarbeiter des Pflegekinderdienstes. Diese waren möglicherweise bisher wichtige Berater und ermöglichten den Zugang zu Informationen über die Herkunftsfamilie und somit die eigene Biografie. Gerade solche Informationen können in der Phase der Adoleszenz und der damit einhergehenden intensiveren Identitätsfindung von großer Relevanz sein, zumal Pflegekinder diesbezüglich in einem doppelten Ablöseprozess stehen – sowohl mit Blick auf die Pflege- als auch auf die Herkunftsfamilie.
Jedoch bestehen für ehemalige Pflegekinder nicht nur besondere Anforderungen und Themen im Transitionsprozess von der Pflegefamilie in ein eigenständiges Leben, sondern es zeigen sich durchweg auch deutlich schlechtere Chancen und Outcomes für diese Gruppe im Vergleich zu Peers, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen konnten. Berlin et al. (2011) verglichen mit Hilfe von Daten aus dem schwedischen Nationalregister 5224 ehemalige Care Leaver aus der Langzeitpflege (überwiegend Pflegefamilien) mit 900.322 Personen, die keine Fremdunterbringung in ihrer Vorgeschichte aufwiesen. Care Leaver wiesen unabhängig von Alter und Geschlecht ein 3-mal höheres Risiko auf, niedrigere schulische Leistungen zu erzielen. Zugleich erwiesen sich schlechte schulische Leistungen in der schwedischen Primarschule als größter Risikofaktor für eine ungünstige Entwicklung in weiteren Lebensbereichen (z. B. Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder Kriminalität). Auch konnten Vinnerljung et al. (2006) ein 4- bis 5-mal höheres Risiko für eine Krankenhausbehandlung aufgrund eines Suizidversuchs bei ehemaligen Jugendhilfeempfängern zeigen. Darüber hinaus bestand ein 5- bis 7-mal höheres Risiko für eine psychiatrische Behandlung während der Teenagerzeit und 4- bis 5-mal höheres Risiko hierfür im jungen Erwachsenenalter (≥ 19 Jahre).
In einer weiteren Arbeit untersuchten Vinnerljung und Sallnäs (2008) zusätzlich Care Leaver im Alter von 25 Jahren, die nach dem 13. Lebensjahr fremdplatziert worden waren. Von 1110 Care Leavers hatten 60 % ehemals in einer Pflegefamilie gelebt. Hierbei erwiesen sich Störungen des Sozialverhaltens als bedeutsamer Faktor: Care Leaver, die aufgrund dieser Symptomatik fremdplatziert worden waren, wurden im Vergleich zu Care Leavers, die aus anderen Gründen fremdplatziert worden waren, öfter bereits als Teenager Eltern, waren eher in kriminelle Handlungen verstrickt und verstarben häufiger vor einem Alter von 25 Jahren.
In einer Übersichtsarbeit von Havlicek et al. (2013) zeigte sich bei Care Leavers im Alter von 17 oder 18 Jahren im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung eine doppelt so hohe Lebenszeitprävalenz, bei Störungen des Sozialverhaltens lag die Prävalenz mehr als 4-mal höher. Zugleich zeigte sich mit dem Übergang ins Erwachsenenalter eine Abnahme der Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Angebote.
Ähnlich ungünstige längerfristige Outcomes hinsichtlich schulischer Bildung, Erwerbstätigkeit und subjektiven Gesundheitszustand fanden sich in einer Analyse von Daten des Sozioökonomischen Panels auch für Care Leaver aus Deutschland (Cameron et al. 2018). Interessanterweise fallen im internationalen Vergleich Problemlagen und Herausforderungen im Übergang aus der Pflegefamilie in die Eigenständigkeit (Häggman-Laitila et al. 2018) sowie auch quantitative Outcomes trotz unterschiedlicher Gesundheits- und Sozialsysteme recht ähnlich aus. Differenzierte longitudinale Daten einer größeren Stichprobe von Care Leavers fehlen für Deutschland bislang, die derzeit laufende CLS-Studie soll diesbezüglich Abhilfe schaffen.

Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik, Beratung und Begutachtung

Pflegekinder sind häufig prä-, peri- und postnatal multiplen Risikofaktoren ausgesetzt gewesen, die ihre weitere somatische und psychische Entwicklung ungünstig beeinflussen (z. B. mütterlicher Nikotin-, Alkohol- oder anderweitiger Substanzkonsum während der Schwangerschaft; Oswald und Goldbeck 2009). Entsprechend gilt es vor der Installation möglicher Hilfen eine sorgfältige und ausführliche medizinisch-psychologische Diagnostik durchzuführen, um im Anschluss passend zum ermittelten Bedarf Interventionen zu initiieren. Bevor ein solcher Prozess angestoßen wird, gilt es die Sorgerechtssituation des betroffenen Kindes oder Jugendlichen zu prüfen, da oftmals das Sorgerecht oder Teile hiervon bei beiden oder einem leiblichen Elternteil, bei Vormündern oder Ergänzungspflegern liegen.
Für den diagnostischen Prozess empfiehlt sich, aufgrund der oft komplexen Störungsbilder sämtliche Achsen des Multiaxialen Klassifikationsschemas (Remschmidt et al. 2017) zu berücksichtigen. Informationen zum Kind sollten aus verschiedenen Quellen eingeholt werden. Es sollte immer versucht werden, alle existierenden Arztberichte des Kindes sowie sämtliche verfügbaren Informationen über die leiblichen Eltern zu erhalten, einschließlich möglicher psychiatrischer Erkrankungen, Delinquenz sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern sowie deren intellektueller Begabung, Schulabschluss und Berufsausbildung.
Oft sind aufgrund häufiger Wechsel der Platzierungen, häufig wechselnder Bezugspersonen in der Herkunftsfamilie oder kurzfristiger Herausnahme aus der Herkunftsfamilie Dokumente zu Vorbefunden, Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen etc. nur lückenhaft verfügbar, sodass es sinnvoll sein kann, manche Untersuchungen selbst erneut durchzuführen bzw. zu organisieren.

Diagnostik

Empfehlungen zur Diagnostik bei Pflegekindern
1.
Kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik (diese ist ggf. um eine kinder- und jugendärztliche Diagnostik zu erweitern)
  • Erhebung einer ausführlichen Anamnese, inklusive der aktuellen und frühkindlichen Betreuungssituation
  • Ausführliche Exploration mit Erhebung eines psychopathologischen Befundes, nach Möglichkeit im Einzelsetting
  • Gründliche körperliche und neurologische Untersuchung, einschließlich
    • Überprüfung des Hör- und Sehvermögens
    • Untersuchung auf Dysmorphiezeichen (z. B. FASD)
    • Sichtung des U-Heftes
    • Sichtung ärztlicher Vorbefunde, gegebenenfalls telefonischer Austausch mit Vorbehandlern
 
2.
Psychologische Diagnostik
  • Ausführliche Intelligenzdiagnostik mit Breitbandverfahren unter Berücksichtigung möglicher, vorbekannter Einschränkungen (z. B. K-ABC-II, altersentsprechender SON-R oder altersentsprechende Version von WPPSI-IV, WISC-V oder WAIS-IV), gegebenenfalls Wiederholung der Intelligenzdiagnostik nach Interventionen (z. B. unter Stimulanzientherapie bei ADHS)
  • Sichtung von Berichten aus Kindergartenzeit und schulischen Zeugnissen
  • Gegebenenfalls fächerspezifische Betrachtung von schulischen Arbeitsmaterialien wie Heften oder Arbeitsblättern bei Hinweisen auf umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten und auf Verdachtsdiagnose abgestimmte psychologische Untersuchungen (z. B. SLRT-II, ELFE 1-6, HSP 1-10 oder DEMAT)
  • Screeningverfahren für psychische Erkrankungen (z. B. SDQ), gegebenenfalls gefolgt von einem umfassenden klinischen Interview (z. B. Kinder-DIPS)
  • Exploration der leiblichen Eltern zu frühen Bindungserfahrungen des Pflegekindes, Diagnostik zur Bindungs- und Beziehungsqualität zwischen Pflegeeltern und -kind (z. B. Inventar zur Erfassung des kindlichen Beziehungsverhaltens)
  • Auf Verdachtsdiagnosen abgestimmte Fragebögen unter Einbindung von Pflegeeltern, Erziehern und Lehrkräften sowie des Pflegekindes (altersabhängig)
    • ADHS und/oder Störungen des Sozialverhaltens: Fragebögen für Pflegeeltern, Lehrkräfte und gegebenenfalls Pflegekind (z. B. DISYPS-III-ADHS oder -SSV)
    • PTBS: Fragebögen mit Traumachecklisten und klinische Interviews mit Pflegeeltern und -kind (z. B. CATS, ETI-KJ, UCLA PTSD RI oder CAPS-CA-5)
    • Bindungsstörungen: sorgfältige Anamneseerhebung unter Einbezug externer Dokumente (z. B. Jugendhilfe, Berichte aus dem Kindergarten)
 
3.
Sonstige Diagnostik:
  • Sichtung von ergotherapeutischen und/oder logopädischen Vorbefunden sowie gegebenenfalls erneute Diagnostik zur Überprüfung umschriebener Entwicklungsstörungen
  • Sichtung von Berichten zu Hilfeplangesprächen und früheren Jugendhilfemaßnahmen wie z. B. einer sozialpädagogischen Familienhilfe
 
Aufgrund der Komplexität des diagnostischen Prozesses unter Einbezug mehrerer Professionen kann es notwendig sein, diesen Prozess in den vollstationären Rahmen zu verlagern, insbesondere wenn wichtige Weichenstellungen wie eine erstmalige Fremdunterbringung oder ein Wechsel der Platzierung bevorstehen. Zu einem solchen Zeitpunkt besteht die Chance, aus kinder- und jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Sicht Empfehlungen für den zukünftigen Rahmen des Kindes auszusprechen, wie z. B. den pädagogischen oder schulischen Bedarf, um ein Scheitern von Platzierungen zu vermeiden. Wenn möglich, sollte der skizzierte diagnostische Prozess jedoch vorwiegend im ambulanten Rahmen erfolgen, sodass weitere Umfeld- und Bezugspersonenwechsel vermieden werden können.

Beratung und Begutachtung

Die beschriebenen diagnostischen Überlegungen und Empfehlungen können nicht nur als Grundlage für weitere Behandlungen und Empfehlungen von Relevanz sein, sondern ebenso die Grundlage für gutachterliche Fragestellungen darstellen, z. B. hinsichtlich Umgangskontakten, einer außerhäuslichen Unterbringung oder einer Rückführung zur Familie, oder für eine Stellungnahme zum § 35a SGB VIII, um dem Kind oder Jugendlichen weitere oder intensivere notwendige Hilfen zu ermöglichen.
Bei der Entscheidung, welche Art von außerhäusliche Unterbringung, ob nun eine Pflegefamilie oder eine vollstationäre Wohngruppe, passend sein könnten, sollten nach Friedrich und Schmid (2014) sowie nach Shuler (2013) folgende Punkte berücksichtigt werden:
  • Pflegefamilien können ein kontinuierliches Beziehungsangebot in einem familiären Rahmen unterbreiten. Pflegeeltern sind in der Regel 24 Stunden an 7 Tagen der Woche für ihr Pflegekind verfügbar. Sie nehmen es in ihrer Familie auf, fahren mit ihm in den Urlaub und können ihm eine Einbindung in soziale Strukturen am Wohnort ermöglichen. Das Kind erlebt sich infolge als weniger „anders“ als andere Kinder. Bringen Pflegekinder Auffälligkeiten in ihrem Bindungsverhalten mit, können Pflegeeltern aufgrund dieser Nähe und wenig Möglichkeiten zur Distanzierung an ihre Grenzen kommen. Sie bedürfen dann einer möglichst frühzeitigen und intensiven Beratung und Begleitung.
  • Pflegefamilien fällt es leichter als Wohngruppen, auf internalisierende Auffälligkeiten wie ängstliche Verhaltensweisen oder Rückzug einzugehen. Wenn Pflegekinder jedoch kontinuierlich grenztestende und/oder aggressive Verhaltensweisen zeigen, können sich Pflegeeltern jedoch persönlich angegriffen, infrage gestellt und ratlos fühlen. Sie verfügen nicht regelhaft über eine pädagogische Grundausbildung und betreuen das Pflegekind “allein” in ihrem Zuhause, sodass sie kaum Möglichkeit zum Austausch oder zum Wechsel in schwierigen Situationen wie bei einem mehrköpfigen Team im Schichtdienst haben.
  • Suchterkrankungen oder schwere Verhaltensauffälligkeiten des Kindes oder Jugendlichen bis hin zu Delinquenz stellen hohe Anforderungen an das aufnehmende System, was eine intensive Schulung und multiprofessionelle Begleitung von Pflegefamilien erfordert.
  • Pflegeeltern sind Pflegeeltern und nicht die leiblichen Eltern der Pflegekinder. Zugleich wohnt das Pflegekind bei ihnen zuhause, sie verbringen ihren Alltag mit ihm und übernehmen elterliche Aufgaben. Somit bedarf es einer hohen Reflexionsfähigkeit der Pflegeeltern, ihre eigene Rolle betreffend, um eine Konkurrenzsituation zwischen den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern zu vermeiden.
Insbesondere Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einem Versorgungsauftrag können durch diagnostische Mitwirkung sowie Beratung und Begleitung von Pflegeeltern und -kindern sowie den zuständigen Jugendämtern und Herkunftsfamilien profitieren, da durch eine präventive Arbeit Notfallaufnahmen reduziert werden können. Auch ambulante Gruppenangebote für Pflegeeltern, wie weiter unten beschrieben, können eine evidenzbasierte und ökonomische Unterstützung für Pflegefamilien darstellen. Durch solche Gruppenangebote können zudem neue Netzwerke der Pflegefamilien untereinander befördert werden, die sich gegenseitig auch außerhalb von strukturierten Angeboten mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Einzelne Kliniken in Deutschland haben bereits Spezialsprechstunden für Pflegekinder eingerichtet, um so fachliches Wissen und Erfahrungen zu möglichen Belastungen und Problemlagen von Pflegekindern und -eltern zu bündeln.

Rolle der Pflegeeltern

Tendenziell ist bei Pflegekindern die Prävalenz externalisierender Störungen höher als die internalisierender Störungen. Insbesondere externalisierende Auffälligkeiten können Bezugspersonen erheblich fordern. Es ist nachgewiesen, dass externalisierende Auffälligkeiten und Bindungsstörungen häufiger zu Abbrüchen in Pflegeverhältnissen und einer höheren Anzahl an Unterbringungen in der Lebensgeschichte des Kindes führen (Newton et al. 2000; Strijker et al. 2008). Dies ist angesichts der positiven Wirkung eines langfristigen Verbleibs in einer Pflegefamilie auf die Psychopathologie von Pflegekindern besonders ungünstig (Dubois-Comtois et al., 2021).
Für Pflegeeltern ist es möglich durch ihre erzieherische Praxis die kindliche Psychopathologie zu beeinflussen. So konnten Vasileva und Petermann (2018b) zeigen, dass ein dysfunktionaler Erziehungsstil, geprägt von Weitschweifigkeit und Nachsichtigkeit, externalisierende Auffälligkeiten bei Pflegekindern begünstigen kann. Wiesen Pflegekinder jedoch zusätzlich traumatische Vorerfahrungen auf, was bei etwa der Hälfte der Pflegekinder der Fall war, profitierten diese eher von Weitschweifigkeit und Nachsichtigkeit in der Erziehung und zeigten unter solchen Bedingungen weniger Verhaltensauffälligkeiten. Die Autoren erklärten sich diesen überraschenden Befund anhand der Vorerfahrung lebensbedrohlicher Situationen bei Pflegekindern, weswegen diese in Konfliktsituationen eine andere Art der Interaktion benötigen könnten sowie sichere, vorhersehbare Bezugspersonen, die auf ihre Bedürfnisse eingehen und ihnen ein sicheres Zuhause bieten. Anhand dieser Untersuchung wird die Bedeutung des Erziehungsstils von Pflegeeltern sowie auch die Herausforderung der Pflegeeltern hinsichtlich der Anpassung ihres erzieherischen Angebots an die Bedürfnislage des Kindes ersichtlich. Unter anderem hierdurch wird die Bedeutsamkeit des Konstrukts der elterlichen Feinfühligkeit ersichtlich. Feinfühligkeit kann verstanden werden als die Fähigkeit, kindliche Bedürfnisse wahrzunehmen, korrekt zu interpretieren und schnell sowie adäquat darauf zu reagieren. Gehen Pflegeeltern feinfühliger mit den ihnen anvertrauten Pflegekindern um, sind diese häufiger sicher an ihre Pflegeeltern gebunden (West et al. 2020). In Anbetracht einer höheren Rate an desorganisiert gebundenen Pflegekindern im Vergleich zu Normbevölkerung (Vasileva und Petermann 2018a) erscheint diese Fähigkeit bei Pflegeeltern besonders bedeutsam.
Darüber hinaus gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem individuellen Stresserleben von Pflegeeltern und den psychischen Auffälligkeiten von Pflegekindern, speziell mit Blick auf externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (Lohaus et al. 2017; Vasileva und Petermann 2018b). Insbesondere Pflegeeltern von Pflegekindern mit bekannten traumatischen Vorerfahrungen weisen ein höheres Stresserleben auf (Vasileva und Petermann 2018b).
Vor diesem Hintergrund erscheint es wünschenswert, dass Pflegeeltern optimal auf den Umgang mit Besonderheiten und möglichen Herausforderungen, die Pflegekinder mitbringen können, vorbereitet sind. Eine intensive Vorbereitung und Begleitung der Pflegeeltern während ihrer Tätigkeit erscheint unabdingbar – auch damit sich Pflegeeltern den besonderen Anforderungen an sie gewachsen fühlen und sich weniger gestresst und belastet fühlen. Pflegeeltern benötigen nicht allein eine Aufklärung über die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Pflegekindschaft. Vielmehr bedarf es auch einer psychoedukativen Vermittlung von Wissen zu Bindungstheorien und häufigen psychischen Erkrankungen bei Pflegekindern und von konkreten Erziehungs- und Kommunikationsstrategien im Kontext aktueller Befunde der Trauma- und Bindungsforschung, um ein korrigierendes, feinfühliges Beziehungsangebot unterbreiten zu können. In der Realität variieren jedoch Umfang und Inhalt der von den Jugendämtern angebotenen Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen für Pflegeeltern stark. Welche Angebote der öffentlichen Jugendhilfe in der Vorbereitung und während der Zeit der Pflegekindschaft für Pflegeeltern in Deutschland existieren, wurde bisher nicht systematisch erfasst.

Interventionen für Pflegeeltern und Pflegekinder

Elterntrainings für Pflegeeltern

Eine wirksame Möglichkeit zur Qualifizierung von Pflegeeltern für ihre herausfordernde Aufgabe sind spezielle Trainingsprogramme. Nach der Metaanalyse von Van Schoemaker et al. (2020), die auf 53 Studien zu Interventionen für Pflege- und Adoptiveltern basiert, können solche Interventionen elterliche Feinfühligkeit, erzieherisches Wissen und eine positive Einstellung zum Kind verbessern und dysfunktionale disziplinarische Maßnahmen und elterlichen Stress sowie Verhaltensauffälligkeiten von Adoptiv- und Pflegekindern reduzieren. Allerdings weisen bislang nur drei verbreitete Interventionen (Attachment Biobehavioral Catch-Up, ABC; Incredible Years und Take Charge) eine zumindest ausreichende Robustheit („limited“ bis „moderate“ nach den GRADE-Leitlinien) der für die jeweiligen Outcomes berichteten Effektstärken auf (Bergström et al. 2020). Zudem wurde die Mehrzahl der aufgegriffenen Studien in den USA durchgeführt, sodass die Generalisierbarkeit auf andere Gesundheits- und Sozialsysteme unklar bleibt.
Wenngleich aufgrund mangelnder Daten für Follow-up-Zeiträume von ≥ 2Jahren nicht in der vorgenannten Übersicht von Bergström et al. enthalten, ist auch „Fostering Changes“ ein vielversprechendes Elterntraining. Das Programm wurde von der Spezialambulanz für Adoptiv- und Pflegekinder am Maudsley Hospital in London entwickelt (Bachmann et al. 2011), Zielgruppe sind Pflegeeltern mit Pflegekindern im Alter von zwei bis 11 Jahren. Das manualisierte Training enthält Inhalte aus sozialkognitiver Lerntheorie, Bindungstheorie, kognitiver Verhaltenstherapie und Traumaforschung. Konkrete Themen sind unter anderem Verhaltensanalysen, wirksames Lob, Feinfühligkeit sowie angemessene Regeln und Konsequenzen. Übungsaufgaben für zuhause sollen den Lernerfolg und den Alltagstransfer fördern. Daneben werden den Pflegeeltern Informationen zu Bindung, altersentsprechenden Entwicklungsschritten und möglichen Ursachen für kindliche Verhaltensauffälligkeiten vermittelt. Auch die Förderung des schulischen Werdegangs wird thematisiert. Die Pflegeeltern erhalten im Rahmen des Trainings (Gruppensetting, 12 Einheiten à drei Stunden) auch die Möglichkeit, eigene biografische Lernerfahrungen und Einstellungen zu reflektieren. Bislang wurde die Wirksamkeit von Fostering Changes in vier Studien, davon 2 RCTs, untersucht. In drei Studien (Briskman et al. 2012; Pallett et al. 2002; Warman et al. 2006) ergaben sich große Effekte für die Reduktion kindlicher Verhaltensauffälligkeiten, dieser Effekt blieb bis zu drei Monate nach Trainingsende stabil (Briskman et al. 2012). Im Rahmen einer Pilotstudie wird derzeit die deutsche Version von Fostering Changes (Bürzle und Bachmann 2024) auf Machbarkeit und Wirksamkeit untersucht.
Abgesehen hiervon wurden in Deutschland bisher lediglich zwei Interventionsstudien zu Trainings für Pflegeeltern durchgeführt. Zum einen wurde das Programm Triple P for Carers in einer aufwendigen, randomisiert-kontrollierten Studie auf seine Wirksamkeit im Vergleich zu Treatment as usual überprüft (Job et al. 2022). Insgesamt nahmen 81 Pflegefamilien mit 87 Pflegekindern im Alter von zwei bis sieben Jahren an der Studie teil. Das Programm bestand aus fünf Gruppensitzungen, zwei individuellen telefonischen Beratungen und einer Abschlusssitzung. Es konnte für keine der untersuchten Messgrößen (unter anderem Erziehungsstil, Eltern-Kind-Beziehung, kindliche Verhaltensauffälligkeiten) ein positiver Effekt der Intervention nachgewiesen werden. Die Autoren führten diese überraschenden Ergebnisse unter anderem auf die geringe Stichprobengröße zurück. Ebenso wurde kritisch die Frage diskutiert, ob ein allein kognitiv-behavioraler Ansatz für die Zielgruppe der multipel belasteten Pflegekinder ausreichend ist.
Zum anderen wurde das ABC-Programm an 34 Pflegefamilien mit Pflegekindern im Alter von sechs bis 24 Monaten im Rahmen einer nicht kontrollierten Studie untersucht (Zimmermann et al. 2021). 15 % der Kinder hatten bereits drei oder mehr Unterbringungen durchlaufen. Das ABC-Programm wurde im Rahmen von zehn einstündigen Terminen als aufsuchende Kurzzeitberatung angeboten. Das Pflegekind war stets anwesend, sodass die Pflegeeltern eine verhaltensnahe Rückmeldung und Anleitung im Umgang mit dem Kind erhielten, um einen feinfühligen Umgang mit dem Kind zu erlernen. Nach Abschluss des Trainings verhielten sich die Pflegeeltern signifikant feinfühliger und zeigten mehr emotionale Wärme im Rahmen einer teilstrukturierten Spielsituation mit ihrem Pflegekind, wobei große Effektstärken erzielt werden konnten. Keine Prä-/Post-Effekte ließen sich für das elterliche Stresserleben finden. Die zu Trainingsende erhobene Verteilung von Bindungsstilen in der untersuchten Stichprobe, ermittelt mit dem Fremde-Situationen-Test, glich hinsichtlich der Verteilung von als sicher bzw. desorganisiert klassifizierten Bindungsstile dem Verteilungsmuster in Stichproben unbelasteter Kinder.

Multisystemische Ansätze

Über die vorstehend beschriebenen Interventionen hinaus existieren Ansätze, die nicht allein auf die Pflegeeltern oder die Pflegeeltern-Pflegekind-Dyade abzielen, sondern mehrere Systeme gleichzeitig, die mit den Kindern oder Jugendlichen in Zusammenhang stehen, anvisieren. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Multidimensional Treatment Foster Care (MTFC; auch bekannt als Treatment Foster Care Oregon), ein äußerst intensiver Ansatz, bei dem die Pflegefamilien und deren Unterstützung nur eine Kompetente von mehreren darstellt (Ladner-Graham 2019). Bei diesem Ansatz findet eine zeitlich befristete Fremdplatzierung des Kindes oder Jugendlichen, meist aufgrund massiver Auffälligkeiten im Sozialverhalten, in einer geschulten Pflegefamilie statt. Pflegekind und Pflegeeltern, aber auch die Herkunftsfamilie erhalten auf ihre Problemlagen abgestimmte Unterstützungen wie beispielsweise eine Familientherapie für die Herkunftsfamilie, eine Einzeltherapie für das Kind oder den Jugendlichen, Unterstützung bei schulischen Belangen oder Optimierung einer medikamentösen Unterstützung.
MTFC wurde in den 1980er-Jahren in Oregon, USA, für wiederholt straffällige Jugendliche entwickelt. Der Ansatz basiert auf der sozialen Lerntheorie. Die Pflegeeltern erhalten ein 20- bis 30-stündiges Vorbereitungstraining. Es werden Grundlagen der Lerntheorie vermittelt, zusätzlich werden die Pflegeeltern in Problemlösefertigkeiten und effektiven Kommunikationsstrategien geschult. Die Pflegeeltern können außerdem auf einen 24-stündigen telefonischen Krisendienst zurückgreifen und werden täglich telefonisch kontaktiert, um Informationen zum Verhalten des Pflegekindes innerhalb der letzten 24 Stunden zu erhalten sowie gegebenenfalls weitere Interventionen abzustimmen. Die Pflegeeltern melden täglich dem Pflegekind ihre Wahrnehmungen zu seinem Verhalten rück. Pflegekinder können sich Punkte für alters- und entwicklungsentsprechende Aufgaben verdienen und sich hierdurch zunehmend mehr Privilegien und Freiheiten erarbeiten.
Die ursprüngliche Fokussierung des Ansatzes auf chronisch straffällige Jugendliche wurde inzwischen aufgegeben – mittlerweile existieren Programmformate für Kinder und Jugendliche zwischen drei und 17 Jahren sowie für Kinder und Jugendliche mit Substanzmissbrauch. In einer Übersichtsarbeit zu MTFC von Ladner-Graham (2019), basierend auf 12 Studien, zeigten sich niedrigere Raten an Inhaftierungen, eine Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten sowie selteneres Entweichen aus einer Unterbringung. Außerdem konnte eine höhere Stabilität der Unterbringungen bzw. ein häufiger positives Ende der Pflegekindschaft im Sinne der Möglichkeit der Rückführung zur Herkunftsfamilie oder für eine Adaption durch MTFC erreicht werden. In manchen Studien erwiesen sich diese Ergebnisse auch in Follow-up-Untersuchungen über bis zu zwei Jahre als stabil.
Da MTFC ein sehr intensives Programm, ausgerichtet auf Hochrisikogruppen darstellt, wurde ein Modifikationsversuch unternommen, um Komponenten von MTFC auch „regulären“ Pflegeeltern anbieten zu können. So wurde das 16-wöchige Programm Keeping Foster and Kin Parents Trained and Supported (KEEP) für Pflegeeltern von Pflegekindern im Alter von fünf bis 11 Jahren entwickelt. In Abgrenzung zu MTFC liegt der Fokus des Angebots allein auf den Pflegeeltern. Analog zu MTFC sollen die teilnehmenden Pflegeeltern lernen, positive Verstärkung sowie disziplinarische Maßnahmen wie Konsequenzen oder kurze Auszeiten konsistent einzusetzen. Bisherige RCTs konnten eine signifikante Reduktion von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe finden (Price et al. 2009). Bei Pflegekindern, deren Pflegeeltern am Training teilnahmen, bestand eine doppelt so große Chance für ein gelungenes Ende der Pflegekindschaft, z. B. im Sinne einer Rückführung zur Herkunftsfamilie.

Interventionen für spezifische Belastungen von Pflegekindern

Für die häufig vorkommende Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) liegen erfreulicherweise verschiedene gut evaluierte und den aktuellen Leitlinien entsprechende Behandlungsverfahren vor. Besonders hervorzuheben ist hier die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie für Kinder und Jugendliche nach Cohen, Mannarino und Deblinger. Diese erzielt nach einer aktuellen Meta-Analyse von Thielemann et al. (2022) unter Einschluss von 28 RCTs und 33 unkontrollierten Studien große Effekte auf posttraumatische Stresssymptome. Ebenso liegen Hinweise auf eine gleichzeitige Reduktion von kindlichen Ängsten und Sozialverhaltensauffälligkeiten vor. Dieses traumafokussierte Verfahren bietet sich nicht nur aufgrund seiner guten Evidenz für die Behandlung einer PTBS bei Pflegekindern an, sondern insbesondere wegen des intensiven Einbezugs von Bezugspersonen.

Fazit

Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weisen Pflegekinder mehr psychische und somatische Störungen auf und haben häufiger einen IQ im Bereich einer Lernbehinderung; aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht stellen sie eine Hochrisikogruppe dar. Die angemessene Förderung und Erziehung von Pflegekindern ist eine herausfordernde Aufgabe, für die Pflegeeltern optimale Vorbereitung und Unterstützung benötigen, z. B. in Form evidenzbasierter Elterntrainings. Auch eine sorgfältige kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik sowie Therapie vorliegender kinder- und jugendpsychiatrischer Störungsbilder ist für den erfolgreichen Verlauf einer Platzierung unabdingbar. Nachgewiesene Effekte einer Platzierung in einer Pflegefamilie sind die Reduktion der kindlichen Psychopathologie sowie die Zunahme sicherer Bindungsmuster.
Insbesondere hinsichtlich der psychischen und somatischen Gesundheit von Pflegekindern sowie ihrer schulischen Laufbahn besteht für den deutschen Kontext noch ein erheblicher Forschungsbedarf, gleiches gilt für das Themenfeld der Care Leaver.
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