Palliative Chemo: Aggressive Therapien am Lebensende?

Palliative Chemotherapie in den letzten Lebensmonaten korreliert mit aggressiver Therapie am Lebensende (Reanimation, Tod auf Intensivstation), mit späterem Hospiz-/Palliativkontakt und einer höheren Wahrscheinlichkeit für das Versterben an einem nichtgewünschten Ort. Dossier "Palliativmedizin" Chemotherapie in der Palliativsituation zielt auf eine Verlängerung der Lebenszeit und auf die Verbesserung oder den Erhalt der Lebensqualität. Die Arbeitsgruppe um Jennifer Temel aus Boston zeigte erstmals, dass bei Patienten mit metastasiertem nichtkleinzelligem Bronchialkarzinom die Durchführung einer Chemotherapie in den letzten Lebenswochen sowohl mit einer schlechteren Lebensqualität (mehr Angst und Depression) als auch mit kürzerem Überleben und einer schlechteren Versorgungsqualität (weniger bzw. kürzere Kontakte mit Hospizangeboten, weniger dokumentierte Patientenpräferenzen, höhere Rate an intensivmedizinischen Interventionen am Lebensende [1]) einhergeht. In der hier vorgestellten Studie überprüften Alexi Wright et al. in einer zweiten Analyse der Patientenakten aus der Studie „Coping with Cancer“, ob es einen Zusammenhang zwischen der Durchführung einer palliativen Chemotherapie in den letzten Lebensmonaten und der Qualität der medizinische Behandlung am Lebensende gibt [2]. Zusammenfassung der Studie Patienten und Methoden Die Studie „Coping with Cancer“ wurde 2008 publiziert. In 4 führenden US-amerikanischen Krebszentren waren 638 Patienten mit metastasierter Krebserkrankung mit Progress unter Chemotherapie und einer ärztlich eingeschätzten Lebenserwartung kleiner 6 Monaten eingeschlossen worden [3]. Bis zum Studienende (2/2008) waren 423 Patienten verstorben (66,3%). Von der erneuten Analyse wurden 37 Patienten ausgeschlossen, die wegen der Teilnahme an einer weiteren klinischen Studie evtl. Besonderheiten zeigten. Die Akten der übrigen 386 Patienten wurden bezüglich der medizinischen Behandlung am Lebensende und Sterbeort analysiert. Zusätzlich wurden die Hinterbliebenen zur Ermittlung der Patientenpräferenzen bezüglich des Sterbeorts befragt („Denken Sie, dass der Sterbeort derjenige war, an dem der Patient am liebsten versterben wollte?“). Ergebnisse Bei Studieneinschluss erhielten 56% der Patienten eine palliative Chemotherapie. Diese Patienten waren signifikant seltener der Meinung, ihre Erkrankung sei in einer terminalen Phase (Lebenserwartung von 6 Monaten oder kürzer, 35% vs. 49%, p=0,004). Sie wünschten explizit häufiger lebensverlängernde Therapien und hatten seltener ihre Präferenzen bezüglich Versorgung am Lebensende mit dem Arzt besprochen (37% vs. 48%, p=0,003). Sie hatten seltener eine Patientenverfügung (36% vs. 49%, p<0,005). Die Durchführung einer palliativen Chemotherapie bei Studieneinschluss hatte keinen signifikanten Einfluss auf das Überleben. Patienten mit palliativer Chemotherapie bei Studieneinschluss (im Median 4 Monate vor dem Tod, Spannweite 1,3–8,3 Monate) wurden in der letzten Lebenswoche signifikant häufiger intensivmedizinisch behandelt (Reanimation und/oder Beatmung (14% vs. 2%), hatten häufiger Sondenernährung (11% vs. 5%), hatten später Kontakt mit Hospiz-/Palliativangeboten und verstarben häufiger auf einer Intensivstation (11% vs. 2%). Aus Sicht der Hinterbliebenen verstarben die chemotherapierten Patienten signifikant seltener am dem von ihnen präferierten Ort (68% vs. 80%, Abb. 1). Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 × Fazit der Autoren Der Verzicht auf eine palliative Chemotherapie bei Patienten mit einer realistisch eingeschätzten Lebenserwartung von 6 Monaten oder kürzer und eine intensivere Diskussion der Präferenzen für die Versorgung am Lebensende könnten dazu beitragen, die Rate aggressiver Therapien am Lebensende zu senken und Hospiz-/Palliativangebote früher in Anspruch zu nehmen. Parallel zur Durchführung einer palliativen Chemotherapie sollte auch die Frage nach dem gewünschten Sterbeort thematisiert werden, damit die Versorgung am Lebensende an den Patientenpräferenzen ausgerichtet werden kann. Kommentar zur Studie Bereits in den 1990er Jahren wurden die Durchführung oder der Start einer neuen systemischen tumorspezifischen Therapie in den letzten 2–4 Lebenswochen als ein Indikator für eine schlechte Versorgungsqualität am Lebensende in einem Expertengremium unter Beteiligung von Patientenvertretern konsentiert („aggressive end-of-life care“ [4]). Ergänzende Indikatoren waren wenig bzw. sehr kurzer (<3 Tage) Hospizaufenthalt, eine hohe Inanspruchnahme medizinischer Ressourcen (Anzahl stationärer Notaufnahmen, Versterben auf Intensivstation) und wenig dokumentierte Vorausverfügungen (Patientenverfügungen oder Do-Not-Resuscitate-Verfügungen in der Akte). Bis zur sog. „Temel-Studie“ wurden über 15 Publikationen vorgelegt, in denen diese retrospektiv relativ unkompliziert aus Versicherungs- bzw. Krankenkassenunterlagen zu erhebenden Indikatoren für eine schlechte Versorgungsqualität erhoben und bewertet wurden. Die Studie von Wright et al. verweist erstmals auf einen Zusammenhang zwischen Chemotherapie in den letzten Lebensmonaten und patienten- bzw. hinterbliebenenseitig erhobenen Indikatoren für eine schlechte Versorgung am Lebensende (Versterben an einem anderen als dem vorab gewünschten Ort). Das zeichnet diese Studie im Vergleich mit den anderen Studien zur aggressiven Versorgung am Lebensende aus. Die Schlussfolgerungen der Autoren, dass Gespräche über Präferenzen bezüglich der Versorgung am Lebensende und des Sterbeorts bei der Besprechung tumorspezifischer Behandlungsoptionen nicht ausgeklammert werden sollten, sind auch für den deutschen Kontext belegt. Patienten, deren Angehörige um den gewünschten Sterbeort wussten, verstarben signifikant häufiger im häuslichen Bereich als Patienten, deren Angehörige keine Orientierung bezüglich der gewünschten Versorgung am Lebensende hatten [5]. Bis zu 87% aller Patienten möchten zu Hause versterben und nur wenige ändern am Lebensende ihre Meinung [6]. Allerdings bleibt in der vorgelegten Studie unklar, ob die Fehleinschätzung der eigenen Prognose und auch unterlassene Kommunikation über Präferenzen am Lebensende auf die behandelnden Ärzte zurückzuführen ist. Möglicherweise sind in der Gruppe der chemotherapierten Patienten diejenigen selektioniert, die eine tumorspezifische Therapie und die Optionen der modernen Medizin zur Lebensverlängerung maximal nutzen wollen und die sich eben nicht mit der Begrenztheit der eigenen Lebenszeit auseinandersetzen wollen [7]. Es kann keinen Zwang zum Gespräch über den gewünschten Sterbeort geben, auch wenn dies für die behandelnden Teams und v. a. für die Angehörigen sehr hilfreich sein kann. Die Möglichkeiten zum Gespräch sollten aber konsequent genutzt werden. Die Arbeitsgemeinschaft Palliativmedizin (APM) der Deutschen Krebsgesellschaft hat erste Schritte getan, um gemeinsam mit Patienten die Indikatoren für eine (zu) aggressive, überambitionierte Versorgung am Lebensende angesichts der erweiterten Optionen für tumorspezifische Therapien neu zu bewerten. Ebenso wichtig ist es, onkologisch tätige Ärzte in der Kommunikation über Bedürfnisse ihrer Patienten bezüglich der Versorgung am Lebensende zu schulen [8]. Fazit für die Praxis Die vorgelegte Studie verweist auf den Wert einer offenen Kommunikation mit Patienten, in der neben der Darstellung der tumorspezifischen Therapieoptionen das Gespräch über Wünsche und Vorstellungen bezüglich der Versorgung am Lebensende nicht vernachlässigt wird. Onkologisch tätige Ärzte sollte die Publikation dazu ermutigen, sehr sorgfältig Indikationen, Kontraindikationen und Patientenpräferenzen bei Therapieentscheidungen in der fortgeschrittenen Palliativsituation abzuwägen. Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. B. van Oorschot gibt an, keinen Interessenkonflikt zu haben. Literatur 1. Temel JS, Greer JA, Muzikansky A et al (2010) Early palliative care for patients with metastatic non-small-cell lung cancer. N Engl J Med 363(8):733–742 2. Wright A et al (2014) Associations between palliative chemotherapy and adult cancer patients‘ end of life care and place of death: prospective cohort study. BMJ 348:g1219 3. Wright AA, Zhang B, Ray A et al (2008) Associations between end-of-life discussions, patient mental health, medical care near death, and caregiver bereavement adjustment. JAMA 300(14):1665–1673 4. Earle CC, Park ER, Lai B et al (2003) Identifying potential indicators of the quality of end-of-life cancer care from administrative data. J Clin Oncol 21(6):1133–1138 (Review) 5. Oorschot B van, Schweitzer S, Köhler N et al (2005) Sterben, Sterbehilfe und Therapieverzicht aus Angehörigensicht – Ergebnisse einer Hinterbliebenenbefragung. Psychther Psych Med 55:283–290 6. Gomes B, Calanzani N, Gysels M et al (2013) Heterogeneity and changes in preferences for dying at home: a systematic review. BMC Palliat Care 12:7 7. Harding R, Simms V, Calanzani N et al (2013) If you had less than a year to live, would you want to know? A seven-country European population survey of public preferences for disclosure of poor prognosis. Psychooncology. doi:10.1002/pon.3283 8. Rodin G, Zimmermann C, Mayer C et al (2009) Clinician-patient communication: evidence-based recommendations to guide practice in cancer. Curr Oncol 16(6):42–49

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