Erschienen in:
01.05.2015 | Allgemeinanästhesie
Protoplasma, Koagulation und Kolloide
Vergessenes Kapitel in der Forschungsgeschichte der Anästhesie zwischen Zeitgeist und Paradigma
verfasst von:
Dr. M. Perouansky
Erschienen in:
Die Anaesthesiologie
|
Ausgabe 5/2015
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Zusammenfassung
Schon in den 70er Jahren des 19. Jh.s schrieben die historisch wichtigsten mechanistischen Theorien der Narkose ihre maßgebliche Ursache den Wechselwirkungen von Anästhetika mit Proteinen zu. Dem zugrunde liegenden Gedankengang zufolge war die Narkose des Gesamtorganismus das Ergebnis von Veränderungen in der Konsistenz des zellulären Protoplasmas.
Diese zusammenfassend als Protoplasmakoagulation(PK)-Theorien bezeichneten Forschungsansätze brachten die zeitgenössische Begeisterung für „Protoplasma“, die raschen Fortschritte der Kolloidchemie und das von Claude Bernard proklamierte Paradigma eines einheitlichen Wirkungsmechanismus aller Betäubungsmittel unter einen dem Zeitgeist gerechten Hut (Anesthesiology 117:465–474, 2012).
An diesem nahezu ein Jahrhundert währenden Forschungsaufwand an der Schnittstelle der sich entwickelnden Disziplinen der Zellbiologie und Kolloidchemie waren Wissenschaftler von Weltruf beteiligt, die eine Reihe aufschlussreicher und zeitgeschichtlich schlüssiger Theorien hervorbrachten. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Auffassung waren es also Proteine und nicht Lipide, die zuerst als die wichtigsten Zielmoleküle der Anästhetika erkannt und erforscht wurden, mehr als ein Jahrhundert vor ihrer Wiederentdeckung 1984 (Nature 310:599–601, 1984).
Auch nach dem 1. Weltkrieg und ohne Berücksichtigung ideologischer Gräben wurden Protoplasmakoagulationstheorien der Anästhesie von Wissenschaftlern in Europa, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten verfolgt und verbanden die Anästhesie mit grundlegender zellbiologischer Forschung.
In neueren historischen Darstellungen zur Geschichte der Anästhesie werden die verschiedenen PK-Theorien heute im Gegensatz zu den Lipoidtheorien kaum thematisiert. Sie sind daher weitgehend in Vergessenheit geraten. Da sie aber über lange Jahre einen integralen Bestandteil anästhesiologischer Grundlagenforschung dargestellt haben, muss in einem historischen Abriss auf diesen Theorienkomplex verwiesen werden.