Erschienen in:
01.05.2013 | Originalien
Diagnose „Gesundheit“
verfasst von:
Prof. Dr. Michael Linden
Erschienen in:
Die Psychotherapie
|
Ausgabe 3/2013
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Zusammenfassung
In den Anfängen der Psychotherapie wurden klassifikatorische Diagnosen als nichterforderlich, wenn nicht sogar als nichthilfreich erlebt. Seit Psychotherapie als Krankenbehandlung gilt, muss der Nachweis geführt werden, dass die zulasten der Solidargemeinschaft behandelten Leidenszustände Krankheiten sind, d. h., ohne Diagnosen ist die Kostenerstattung einer Behandlung nicht möglich. Diagnosen vereinfachen des Weiteren die Kommunikation zwischen Fachleuten, sind teilweise therapieleitend und die Basis für Morbiditätsstatistiken. Die Vergabe einer Diagnose hat aber auch potenzielle Negativfolgen wie z. B. unzulässige Vereinfachungen in der Interpretation von Leidenszuständen, Aggravierung von lebensüblichen Erfahrungen oder Stigmatisierung und „labeling“. Von daher ist es einerseits wichtig, eine Diagnose zu stellen, wenn eine Krankheit vorliegt, um einer Nichterkennung und Nichttherapie vorzubeugen. Andererseits ist es ebenso wichtig, die „Diagnose Gesundheit“ zu stellen, wenn keine Krankheit, sondern lebensübliche Probleme vorliegen. Die Feststellung, dass im konkreten Fall keine Krankheit vorliegt, ist in der gesamten Medizin von großer Bedeutung und fachlich anspruchsvoll. Therapeuten müssen daher nicht nur Krankheitskriterien kennen, sondern auch das vielfältige Spektrum von normalen Lebensäußerungen, um positiv die Diagnose „Gesundheit“ stellen zu können. Von Bedeutung ist ein präziser Befund, der zwischen Krankheitssymptomen und anderen Formen schlechten Befindens unterscheidet. Es darf nicht aus Lebensbelastungen auf pathologische Reaktionen geschlossen werden, und die Therapeuten müssen sich des eigenen diagnostischen Bias bewusst sein. In der Ausbildung von Psychotherapeuten sollte der Erkennung von „Gesundheit“ die gleiche Beachtung zukommen wie der Lehre von Krankheitsbildern.