01.12.2005 | Bodensee-Konsensuskonferenz deutschsprachiger Wissenschaftler und Manualmediziner
Grundlagenforschung trifft Manualmedizin
Ergebnisse der Bodenseekonferenz deutschsprachiger Manualmediziner, 22.–24. Juli 2005, Bad Horn, Schweiz
verfasst von:
Dr. W. v. Heymann, U. Böhni, H. Locher
Erschienen in:
Manuelle Medizin
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Ausgabe 6/2005
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Zusammenfassung
Schmerzhafte Störungen an den menschlichen Haltungs- und Bewegungsorganen bereiten immer wieder erhebliche diagnostische und therapeutische Probleme.
In der Bodensee-Konsensuskonferenz wurde zwischen drei neurophysiologischen Phänomenen unterschieden:
1.
gerichteter Rezeptorschmerz als Ausdruck einer reversiblen „Blockierung“,
2.
primäre Hyperalgesie als Veränderung des ersten Neurons durch chronifizierte Funktionsstörung oder Strukturläsion und
3.
sekundäre Hyperalgesie als neuroplastische Veränderung des zweiten Neurons.
Muskeln, die nicht selbst Nozigeneratoren sind, können sich im Rahmen eines segmentalen pathologischen Reflexgeschehens kontrahieren, während der als Nozigenerator wirkende Muskel sich nicht kontrahieren kann. Daraus erklärt sich das Phänomen des segmentalen Irritationspunktes als Ausdruck des reaktiven Hypertonus der tiefen autochthonen Rückenmuskulatur — ideales Diagnostikum der segmentalen Dysfunktion/Blockierung.
Die Chronifizierung neuropathischer Schmerzen durch Glutamat und Substanz P, die Expression neuer Ionenkanäle und das Absenken der Reizschwelle im WDR-Neuron bis hin zum Versagen inhibitorischer Systeme und der Umwandlung inhibitorischer Neurotransmitter in schmerzverstärkende Neurotransmitter wurden auf neuestem Stand diskutiert. Ebenso wurden die inhibitorischen Effekte der Neurotransmitter GABA, Glyzin, Serotonin, Endorphine und Endocannabinoide vorgestellt. Zur Diskussion standen die therapeutischen Möglichkeiten der Stärkung dieser Systeme durch die Manualmedizin. Es ist herauszuheben, dass eine niederfrequente mechanische Stimulation in der Größenordnung um 1 Hz über eine Zeit im Sinne einer „long-term depression“ (LTD) gegen den neuroplastischen Schmerz wirksam ist, was wichtig für den Stellenwert schmerzfreier wiederholter Mobilisierungen „an der Barriere“ ist.
Die meisten angewandten Therapieformen der manuellen Therapie wirken über die Muskulatur. Dort werden in dem komplexen dreidimensionalen Gebilde von Muskel, Faszie und Sehnen mit quer eingeflochtenen freien Nervenendigungen und Muskelspindeln durch Scherung Schmerzen erzeugt, die durch entsprechende Techniken wieder behoben werden. Dazu gehören die neuromuskulären Techniken, die meisten osteopathischen Techniken bis hin zur Massage. Sie alle haben neben der lokalen Wirkung auf den Muskel eine Verstärkung der propriozeptiven Afferenzen auf das Gehirn zur Folge und verhindern damit u. a. die neuroplastische Chronifizierung von Schmerz.
Die bessere Wirkung der Manipulation gegenüber der Mobilisierung bei der Behandlung der Blockierung wird allgemein nicht bestritten. Eine Erklärung oder ein Beweis für diese empirische Beobachtung kann von der Forschung bisher nicht gegeben werden.