Cyanurchlorid (C3Cl3N3) ist ein weißes kristallines Pulver. Es wird für die Herstellung von Herbiziden benötigt, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Weitere Verwendung findet es in der Produktion von Textilfarbstoffen und optischen Aufhellern oder der Herstellung von UV-Stabilisatoren für die Plastikindustrie sowie in der Gummiindustrie insbesondere für Automobilanwendungen. Zur Durchführung einer epidemiologischen Längsschnittstudie in drei Cyanurchloridproduktionsbetrieben wurde eine personenbezogene Expositionsermittlung durchgeführt, medizinische Response-Größen und wesentliche Kovariablen ermittelt [30]. In diesem zweiten Publikationsteil wird zur epidemiologischen Zusammenhangsanalyse berichtet.
Methoden
Um die Unsicherheit in den Belastungen aufgrund der schmalen Messdatenbasis besser abzuschätzen zu können, wurden über multiple Expositionsschätzungen 24 Varianten ermittelt und in Form von Einzelmodellen, einem Multi-Model-Approach und Detailanalysen ausgewertet. In der Längsschnittanalyse wurden „General-estimation-equation“ (GEE)-Modelle auf die wesentlichen Kovariablen adjustiert und für ausgewählte Zielgrößen in Abhängigkeit von kumulierter Exposition sowie in Abhängigkeit von durchschnittlicher Konzentrationshöhe und Expositionsdauer gefittet. Zusätzlich wurde eine Querschnittanalyse über den letzten Jahresdatensätzen der Studienteilnehmer durchgeführt. Hockey-Schläger-Modelle wurden gefittet, um Schwellenwerte zu schätzen.
Ergebnisse
Lungenerkrankungen hatten wegen zu geringer Fallzahlen keine Relevanz. Es konnte lediglich eine gewisse Sensibilisierung gegenüber Cyanurchlorid ohne Auswirkung auf die Lungenfunktionswerte nachgewiesen werden. Für das Gesamtkollektiv ergab die Einzelmodellbetrachtung gewisse Hinweise auf Lungenfunktionseinbußen nach Langzeitexposition gegenüber Cyanurchlorid. Die Multi-Model-Aanalyse wies keinen klaren Effekt der Cyanurchloridexposition nach, zeigte aber eine mögliche adverse Wirkung auf die Lungenfunktionsparameter VCmax (maximale Vitalkapazität, „maximal vital capacity“) und FEV1 (absolute Einsekundenkapazität, „forced expiratory volume in 1 second“) an. Bei Berücksichtigung von Modellen mit maximalen Lungenfunktionsverlustschätzungen konnte ein Langzeitschwellenwert für die kumulierte Exposition bei etwa 0,2 mg/m3-Jahre identifiziert werden. Orientiert an einem eher repräsentativen Modell, das den geschätzten mittleren Verlust beschrieb, ergab sich ein Schwellenwertbereich von 0,2–0,4 mg/m3-Jahre, wonach sich als beste Schätzung ein Wert von 0,3 mg/m3-Jahre anbietet.
Diskussion
Unter Berücksichtigung des geschätzten Langzeitschwellenwerts von 0,3 mg/m3-Jahre, einer durchschnittlichen Expositionsdauer von 11,2 Jahren und einer tolerablen zusätzlichen Lungenfunktionseinbuße von 10 % des altersüblichen Verlusts sowie einer Umrechung von Langzeitwerten auf Schichtwerte mit einem Faktor 2 ergibt sich eine Empfehlung für einen Schichtgrenzwert (TWA, „time-weighted average“, 8 h) von 0,06 mg/m3. Eine zukünftige Verbreiterung der Messdatenbasis und ein Follow-up der aktiven Studienpopulation erscheinen sinnvoll.
Hinweise
Teil 1 dieses Beitrags finden Sie in Ausgabe 01/14 von Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie; DOI 10.1007/s40664-013-0001-5.
Cyanurchlorid (C3Cl3N3) ist ein weißes kristallines Pulver. Es wird für die Herstellung von Herbiziden benötigt, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Weitere Verwendung findet es in der Produktion von Textilfarbstoffen und optischen Aufhellern oder der Herstellung von UV-Stabilisatoren für die Plastikindustrie sowie insbesondere für Automobilanwendungen in der Gummiindustrie.
Zurzeit gibt es keinen Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) für Cyanurchlorid, sodass die Auswirkung einer Cyanurchloridbelastung auf die Gesundheit des Menschen nur eingeschränkt beurteilt werden kann. Gegenstand dieser epidemiologischen Studie ist es zu prüfen, ob in einer Studiengruppe von Mitarbeitern in Cyanurchloridbetrieben der Evonik Industries AG über den Studienzeitraum 1958–2007 nachteilige Einflüsse der Cyanurchloridbelastung insbesondere auf ausgewählte Lungenfunktionsparameter festzustellen sind und hieraus einen Vorschlag für einen AGW abzuleiten ist.
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Es handelt sich bei dieser Untersuchung um eine retrospektive Kohortenstudie zur respiratorischen Morbidität, die – nach Möglichkeit – alle aktiven und ehemaligen Mitarbeiter der 3 Cyanurchloridbetriebe Antwerpen, Münchsmünster und Wesseling umfasst. Das Studienkollektiv wurde beschränkt auf männliche Mitarbeiter, die mindestens ein Jahr im Cyanurchloridbetrieb tätig waren (n = 394). Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung wurden medizinische Daten und Tätigkeitsprofile der Studienteilnehmer sowie die Expositionsdaten von Produktionsbeginn bis zum Studienende 2007 erfasst.
Zum Design der Studie, zu Kollektiv, Datenerhebung, Expositionsermittlung, Kovariablen und medizinischen Response-Größen s. [30].
Material und Methoden
Kern der Auswertung bildet eine longitudinale Analyse von Exposition und medizinischen Response-Größen. Zusätzlich wurde eine Querschnittanalyse auf Basis des letzten Jahresdatensatzes für alle Studienteilnehmer durchgeführt.
Als stetige Zielgrößen wurden die Lungenfunktionsparameter VCmax, FEV1, FEV1%VCmax im Längs- und Querschnitt untersucht. Im Längsschnitt wurden Lungenfunktionserkrankungen als kategorisierte Zielgrößen anhand der gemäß Goldstandard [11, 12] definierten COPD (chronisch-obstruktive Bronchitis, „chronic obstructive pulmonary disease“)-Stufen 1a und 2a betrachtet. Darüber hinaus standen in der Querschnittanalyse weitere kategorisierte Zielgrößen zur Untersuchung von Lungenfunktionserkrankungen wie Asthma, Atemnot, chronische Bronchitis (CB) und weitere COPD-Stufen zur Verfügung. Aufgrund zu geringer Fallzahlen wurden Atemnot und alle COPD-Stufen außer den Stufen 1a und 2a in der Querschnittanalyse nicht berücksichtigt: Atemnot (n = 5 Fälle), COPD-Stufen Ib (n = 1), IIb (n = 0), IIc (n = 0), IIIa (n = 8), IIIb (n = 0), IVa (n = 1), IVb (n = 0). Die COPD-Stufen IIIa und IVa hatten aufgrund der geringen Fallzahlen für die weiteren Analysen keine Relevanz. Die Power war in diesen Situationen nicht ausreichend, um entsprechende Zusammenhangsmodelle zu berechnen; die geringe Fallzahl bedeutet aber auch, dass es keinen Anlass gibt, einen Zusammenhang mit der Cyanurchloridexposition zu vermuten.
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Die Exposition der Studienteilnehmer gegenüber Cyanurchlorid wurde mit zwei verschiedenen Ansätzen untersucht. Zum einen wurde pro Studienteilnehmer die durchschnittliche Langzeit-Cyanurchloridkonzentration in Kombination mit der kumulierten Cyanurchloridexpositionsdauer betrachtet, zum anderen wurde die kumulierte Cyanurchloridexposition als Produkt aus Konzentration und Expositionsdauer ausgewertet. Der zweite Ansatz kombiniert somit die im ersten Ansatz getrennt untersuchten Variablen. Sollte eine Wirkung durch die Konzentration und/oder die Dauer der Exposition gegenüber Cyanurchlorid vorliegen, so sollte dies der kombinierte Ansatz über die kumulierte Exposition ausweisen. Mit dem getrennten Ansatz kann dann untersucht werden, welche Expositionskomponente die Wirkung setzt. Der getrennte Ansatz allein hat aber eine geringere Sensitivität in der Aufdeckung möglicher Effekte, sodass üblicherweise Modelle mit kumulierter Exposition als vorrangig gesehen werden [6]. Es wurde generell kein Latenzzeitansatz durchgeführt (kein lagging der Variablen, [6]), da aufgrund der Reizwirkung von Cyanurchlorid nicht von einem solchen Wirkmechanismus auszugehen ist. Die Exposition gegenüber Cyanurchlorid wurde multipel unter verschiedenen Annahmen geschätzt [30]. Zur Abbildung der innewohnenden Unsicherheit der Expositionsermittlung wurden 24 Versionen erstellt. Die zentrale Expositionsvariante entstand durch Anwendung
des Mittelwerts der Messwerte als Stützstatistik,
der Imputation der halben Nachweisgrenze bei Messwerten ≤ Nachweisgrenze und
der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren (mw_nwg2_umr, [30]).
Um potenzielle Probleme bei der Modellanpassung infolge des nichtlinearen Alterseinflusses zu untersuchen bzw. zu vermeiden [34], wurde in der Längsschnittstudie die Berechnung der Regressionsmodelle wiederholt. Dafür wurde zuvor das Studienkollektiv auf Mitarbeiter eingeschränkt, die zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung mindestens 25 Jahre alt waren. Des Weiteren wurden zusätzliche Analysen zum Verlauf des Alterseinflusses mit optimaler Modellanpassung für das Alter mithilfe fraktionaler Polynome 2. Grades vorgenommen [36], um eine Verzerrung der Schätzung der Cyanurchloridwirkung in den bisherigen Modellen aufgrund eines nicht-linearen Altersgangs zu untersuchen.
Koexpositionsschätzungen wurden in Form von Expositionsdauern für Vorbelastungen sowie für die Chemikalien Chlor (Cl)/Salzsäure (HCl(aq)), Calziumchlorid (CaCl2), Natriumdicyanamid (C2N3Na, NDC), Acetoncyanhydrin (C4H7NO, ACH), Cyanwasserstoff (HCN) und eine HCl(aq)-Koexposition im Werk Münchsmünster erstellt. Nach einem Korrelationstest der Chemikalienvariablen und deren Bewertung als mögliche Confounder wurden CaCl2, HCl(aq), HCN und die HCl(aq)-Koexposition in den Regressionsanalysen berücksichtigt. Bei den Vorbelastungen wurde zwischen der Vorbelastung Chemie und übrige Vorbelastungen unterschieden. In dieser Voranalyse wurde zusätzlich mit den Kovariablen übrige Vorbelastungen, Herkunftsland und Body-Mass-Index adjustiert. Diese Variablen beeinflussten nicht die Koeffizientenschätzung für die Expositionsvariablen, sodass sie in den weiteren Analysen nicht weitergeführt werden.
In den Analysen wurden schließlich die stetigen Zielgrößen für die Kovariablen Alter, Größe, Gewicht, Werk, Lungenfunktions-Messgerätegruppe, aktive Raucher, Ex-Raucher, Pack years, Expositionsdauer gegenüber CaCl2, HCl(aq), HCN und HCl(aq)-Koexposition sowie die Vorbelastung Chemie adjustiert. Die vorhandenen Mehrfachmessungen der Lungenfunktionsparameter, die durch alle medizinischen Untersuchungen eines Studienteilnehmers im Studienzeitraum erfasst wurden, ermöglichten einen longitudinalen, intraindividuellen Vergleich, ohne dabei auf externe Sollwerte für die Lungenfunktionsparameter zurückgreifen zu müssen. Für die kategorisierten Zielgrößen wurde die Kovariable Lungenfunktions-Messgerätegruppe entfernt, da das Lungenfunktionsgerät für die Erhebung dieser Responsvariablen keine Rolle spielt (mit Ausnahme der COPD).
Tab. 1 enthält eine Erläuterung der in den Regressionsmodellen verwendeten Begriffe der Kovariablen sowie die Angabe ihrer Maßeinheiten und Referenzkategorien.
Tab. 1
In den Regressionsmodellen verwendete Abkürzungen der Kovariablen sowie die Angabe ihrer Maßeinheiten und Referenzkategorien
Kovariable
Abkürzung
Alter in Jahren
Alter
Größe in cm
Größe
Gewicht in kg
Gewicht
Werk (Referenz: Wesseling)
Werk 1 (Münchsmünster)
Werk 2 (Antwerpen)
Lungenfunktions-Messgerätegruppe
Referenz: Bodyplethysmograph
Vitalograph
Custovit
Glockenspirom(eter)
Rauchverhalten: quantitativ
(Pack years: Zahl der Raucherjahre × Zahl der durchschnittlich gerauchten Zigaretten/20)
Pack years
Rauchverhalten: qualitativ
Referenz: Nichtraucher
aktiv_raucher
ex_raucher
Rotationsvariablen in Jahren
hcn_rotation
cacl_rotation
hcl_rotation
hcl_koexpositon
Vorbelastung Chemie in Jahren
chemie_vorbelastung
Kumulierte Cyanurchloridexposition in mg/m3 × Anzahl Jahre der Exposition (mg/m3-Jahre)
kum_cyc
Statistische Methoden
Die Analyse der Zielgrößen im Querschnitt erfolgte über lineare Regressionen für stetige Variablen bzw. über logistische Regressionen für kategorisierte Variablen [23, 35]. Für die Durchführung der Längsschnittanalyse wurden zur Berücksichtigung von Korrelationen z. B. der Lungenfunktionskapazität eines Individuums über die Zeit [9, 15, 40] GEE-Regressionsmodelle („exchangeable working correlation matrix“) eingesetzt, linear für stetige, logistisch für kategorielle Zielgrößen. Alle Rechnungen wurden mit dem Statistikpaket Stata Version 11 durchgeführt [39]. Als Signifikanzniveau wurde durchgängig ein Wert von 5 % angesetzt.
Modellfolgen und Analysestrategie
Im ersten Analyseansatz erfolgte eine Berechnung von Einzelmodellen. Es wurden lineare und logistische Regressionsmodelle ohne Interaktionsterme zur zentralen Expositionsvariante und zu allen interessierenden Endpunkten gefittet.
Den zweiten Analyseansatz bildete eine Multi-Model-Auswertung. Zu dem Konzept einer Vielfachauswertung mit verschiedenen Modellansätzen s. Burnham u. Anderson [4] sowie Morfeld u. McCunney [29]. Es wurden Sensitivitätsanalysen mit linearen Regressionsmodellen zu FEV1 und VCmax zu allen 24 Expositionsvarianten mit und ohne Interaktionsberücksichtigung (Modifikation der Risikoschätzung durch das Werk) im Längs- und Querschnitt durchgeführt. Im Sinne eines metaanalytischen Ansatzes wurden präzisionsgewichtete gemeinsame Schätzer aus dem Multi-Model-Approach ermittelt. Die Modelle wurden aufgrund der Ergebnisse aus dem ersten Analyseansatz der Einzelmodelle strukturiert. Der zwischen den Werken potenziell variierende Effekt der Cyanurchloridexposition wurde durch eine erweiterte Analyse unter Einschluss von Interaktionen (Wechselwirkungstermen) untersucht. Diese Adjustierung für Werke und Interaktionsterme aus Exposition und Werken berücksichtigte potenzielle Verzerrungen durch die Werke und damit auch potenzielle Verzerrungen durch verschiedene Teams und Messgeräte für die Ermittlung der Lungenfunktionsparameter. Den verschiedenen Risikoschätzern pro Werk wurde folgendermaßen Rechnung getragen: durch das Mitteln der Expositionskoeffizienten über die Werke nach ihrer Präzision (Metaanalyse, [13]), durch die Berechnung robuster Varianzen zur Berücksichtigung der Heteroskedastizität („sandwich estimator“, [5]) und durch Mitteln der Varianzen und Adjustieren der gepoolten Varianz für Heterogenität [2]. Damit berücksichtigte der Gesamteffektschätzer (Best estimate) nicht nur die Unsicherheit der Einzelschätzung, sondern auch die potenzielle Heterogenität der Effekte zwischen den Werken, z. B. durch unterschiedliche Response-Messung.
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In einer sich anschließenden Detailanalyse (3. Analyseansatz) wurden typische Einzelmodelle ausgewählt, mit deren Hilfe eine Schwellenwertbestimmung zur Abschätzung einer Wirkungsschwelle der Langzeitexposition gegenüber Cyanurchlorid erfolgte. Mit typisch ist gemeint, dass die Modelle so gewählt wurden, dass sie die zentralen Ergebnisse des zweiten Analyseansatzes (Multi-Model-Inference) repräsentierten. Die Schwellenwertschätzung für die kumulierte Exposition gegenüber Cyanurchlorid wurde durch den Einsatz von Hockey-Schläger-Funktionen realisiert.
Mit diesem Hockey-Schläger-Ansatz wurden Testschwellenwerte τ durch eine fortgesetzte Stauchung der Expositionsvariablen x (z. B. kumulierte Cyanurchloridexposition) bei Null auf der Suche nach dem Modell mit der besten Anpassung getestet. Eine Stauchung bei Null bedeutet, dass von x der Testwert τ subtrahiert wird. Ist die sich ergebende Differenz negativ, wird der Wert auf Null gesetzt. Für die so ermittelten gestauchten Expositionen x_τ wurde die Regressionsanalyse durchgeführt und die Veränderung der Anpassung beobachtet. Bei bester Modellanpassung (niedrigster Abweichungswert gemessen als − 2 Δ log „likelihood“ bzw. als „deviance“) war die optimale Testschwelle gefunden (likelihood profile-Methode).
Diese statistische Technik zur Identifikation von Kurvenknickpunkten ist in folgenden Publikationen beschrieben bzw. erfolgreich eingesetzt.
„Breakpoint of two lines“ („changepoint estimation“) von Hudson [16], Jones u. Molitoris [20];
„threshold estimation“ von Ulm [41], Morfeld et al. [33], Dankovic et al. [7]; Valberg u. Crouch [42];
„saturation point estimation“ von Morfeld et al. [32];
„thresholds and saturation point estimation“ von Morfeld et al. [28].
Abschließend wurde der in der Schwellenwertanalyse identifizierte Langzeitschwellenwert für die kumulierte Exposition auf einen Schichtgrenzwert für die Cyanurchloridkonzentration umgerechnet (TWA 8 h, „time weighted average“ 8 h), der als Orientierung für einen AGW dienen kann. Der Langzeitschwellenwert der kumulierten Exposition wurde hierzu zunächst durch die mittlere Expositionsdauer im Kollektiv geteilt, um einen Schätzwert für die Langzeitkonzentrationsschwelle zu erhalten. Dieser Konzentrationswert wurde dann um den Expositionsanteil erhöht, der zu einer tolerablen zusätzlichen Lungenfunktionseinbuße von 10 % des altersüblichen Verlusts führt [34]. Abschließend erfolgte eine Umrechnung von einem Langzeitwert auf einem Schichtwert, wobei konservativ ein Faktor 2 zur Übertragung angesetzt wurde ([3, 14]).
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Ergebnisse
Einzelmodelle (1. Analyseansatz)
Querschnittanalyse
In der Querschnittanalyse wurden die Daten der letzten medizinischen Untersuchung eines Studienteilnehmers betrachtet. Expositionsgrößen im Querschnitt waren die bis zur letzten medizinischen Untersuchung kumulierten Cyanurchloridexpositionen in mg/m3-Jahre bzw. die bis zur letzten medizinischen Untersuchung kumulierten Expositionsdauern in Jahren und die durchschnittliche Cyanurchloridkonzentration in mg/m3.
Die Analyse der Lungenfunktionserkrankungen in Form kategorisierter Zielgrößen zeigte nur bei der Auswertung der COPD-Stufen Ia und IIa einen nachteiligen Einfluss (positive Koeffizienten, wenn auch eindeutig nicht-signifikant). Diese COPD-Stufen beruhen per Definition allein auf einer Verarbeitung der Lungenfunktionsmesswerte (ohne Berücksichtigung der Symptomangaben). Da eine Kategorisierung von Responsvariablen zu einem Informationsverlust führt, wurde deshalb der Schwerpunkt aller weiteren Analysen auf eine Auswertung der stetigen Lungenfunktionsparameter gelegt. Die Ergebnisse der COPD-Stufen Ia und IIa variierten zwischen den Werken und abhängig von dem verwendeten Lungenfunktionsmessgerät. Somit war es angezeigt, Werke und Lungenfunktionsmessgeräte in jedem Fall als wesentliche Kovariablen auch in der Untersuchung der stetigen Lungenfunktionsmesswerte mitzuführen [30].
Als Nebenbefund konnte ein ausgeprägter, nachteiliger Rauchereinfluss (aber nicht der Cyanurchloridexposition) auf das Vorliegen z. B. der CB nachgewiesen werden. Dieser an dem Untersuchungskollektiv aufgezeigte, bekannte Zusammenhang zwischen Rauchen und dem Vorliegen respiratorischer Symptome [31] spricht für eine belastbare Erhebung der Zielgröße chronische Bronchitis und des Rauchverhaltens.
Tab. 2 und Tab. 3 (Analyse der stetigen Zielgrößen VCmax und FEV1) zeigten die erwarteten Abhängigkeiten der Lungenfunktionsparameter von Alter, Größe und Gewicht. Es ergab sich auch der erwartete nachteilige Einfluss des Rauchens, gerade bei Berücksichtigung der Pack years (Rauchgewohnheit quantifiziert). Es zeigten sich Unterschiede im Niveau zwischen den Werken und in Abhängigkeit von der Lungenfunktionsmessgerätgruppe. Zu erkennen war ein gewisser nachteiliger Einfluss der Cyanurchloridexposition auf FEV1 und FVC, jedoch ohne statistische Signifikanz. Entsprechend ergaben auch die Analysen mit zwei Expositionsvariablen (Dauer, Konzentration) keine signifikanten Koeffizienten, jedoch wiesen auch diese Modelle tendenziell auf sich erniedrigende Lungenfunktionswerte bei höherer Durchschnittskonzentration hin. Die Expositionseffekte waren deutlich schwächer ausgeprägt, wenn FEV1%VCmax betrachtet wurde.
Tab. 2
Multivariable lineare Regression zu VCmax im Querschnitt über der kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid (387 Männer mit vollständigen Daten). Regressionskoeffizient mit Standardabweichung (robuste Schätzung), t-Wert, zweiseitiger p-Wert und 95 %-Konfidenzintervall
Multivariable lineare Regression zu FEV1 im Querschnitt über der kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid (385 Männer mit vollständigen Daten). Regressionskoeffizient mit Standardabweichung (robuste Schätzung), t-Wert, zweiseitiger p-Wert und 95 %-Konfidenzintervall
Für 130 Studienteilnehmer konnte das spezifische Immungobulin-E (IgE) als Sensibilisierungsparameter für Cyanurchlorid erhoben werden und wurde sowohl als stetige Variable als auch als kategorisierte Response-Variable (spezifischer IgE-Wert größer als der Referenzwert von 0,35 kU/l) untersucht. Ein gewisser nachteiliger, signifikanter Einfluss zeigte sich in den Auswertungen der kategorisierten Variablen mit der kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid in Modellen, die nur nach Alter und Werk adjustiert waren, aber nicht bei voller Adjustierung. Bei gleichzeitiger Analyse der Daten aller 3 Werke zeigte sich der nachteilige Einfluss in internen, stetigen Auswertungen zu dem spezifischen IgE deutlich schwächer ausgeprägt als in den entsprechenden kategorisierten Analysen. Die Koeffizienten des Expositionseinflusses auf das spezifische IgE waren in diesen Analysen nicht signifikant. Es gab keine wesentliche Änderung der Ergebnisse bei Betrachtung des logarithmierten spezifischen IgEs als Zielgröße oder bei Einbeziehung des allgemeinen IgE-Werts als zusätzliche Kovariable. Beobachtete Unterschiede in den Einflusskoeffizienten zwischen den Werken (positive Koeffizienten nur in Münchsmünster) konnten in Interaktionsmodellen aber nicht statistisch gesichert werden.
Die Untersuchung der Lungenfunktionsparameter VCmax und FEV1 als Zielgrößen in Abhängigkeit von Dauer, Konzentration und kumulierter Exposition in Modellen mit voller Adjustierung inkl. spezifischem IgE und in Modellen lediglich adjustiert für Alter, Werk und spezifischem IgE ergab keinen negativen Einfluss des spezifischen IgEs auf die Lungenfunktion. Somit war keine zunehmende Sensibilisierung gegenüber Cyanurchlorid mit steigender Langzeitexposition in der Querschnittanalyse zu sichern. Allerdings ergaben Auswertungen der kategorisierten Variablen mit kumulierter Exposition gegenüber Cyanurchlorid in Modellen, die nur nach Alter und Werk adjustiert waren, positive Koeffizienten. Da sich der für kategorisierte Variablen beobachtete Zusammenhang nicht in den stetigen Analysen reproduzieren ließ, ist eine inhaltliche Interpretation der Befunde bezogen auf den externen Referenzwert limitiert. Ein solcher, positiver Zusammenhang mit Cyanurchloridexpositionsvariablen zeigte sich bei Aufteilung des Studienkollektivs nur für den Standort Münchsmünster (Freianlage), konnte aber nicht als signifikant verschieden von den Expositionskoeffizienten der beiden anderen Werke gesichert werden. Grundsätzlich zeigten sich keine Auswirkungen auf die Lungenfunktionswerte unter den Untersuchten in diesem und den beiden anderen Werken in Abhängigkeit vom spezifischen IgE.
Längsschnittanalyse
In der Längsschnittanalyse wurden die medizinischen Daten eines Studienteilnehmers mit den Expositionsangaben des entsprechenden Jahres zusammengeführt. Expositionsgrößen im Längsschnitt waren die kumulierte Cyanurchloridexpositionen bis zum jeweiligen medizinischen Untersuchungssatz in mg/m3-Jahre bzw. die kumulierte Expositionsdauern in Jahren und die durchschnittliche Cyanurchloridkonzentration in mg/m3. Im Längsschnitt standen keine Daten zu Sensibilisierungsparametern und zu Atemwegserkrankungen zur Verfügung.
Als Zielgrößen aus den medizinischen Untersuchungen wurden die aus den Lungenfunktionsmessungen gewonnenen Lungenfunktionsparameter VCmax, FEV1 und FEV1%VCmax sowie die COPD-Stufen Ia und IIa ausgewertet. Bei mehr als einer medizinischen Untersuchung pro Jahr eines Studienteilnehmers gingen die besten VCmax- bzw. FEV1-Werte in die weiteren Analysen ein.
Auch bei der Längsschnittbetrachtung zeigten sich die erwarteten Abhängigkeiten der Lungenfunktionsparameter von Alter, Größe und Gewicht, der erwartete nachteilige Einfluss des Rauchens sowie Unterschiede im Niveau zwischen den Werken und in Abhängigkeit von der Lungenfunktionsmessgerätgruppe. Der bereits in der Querschnittanalyse vorhandene nachteilige Einfluss der Cyanurchloridexposition auf FEV1 und FVC zeigte sich ausgeprägter und erwies sich als signifikant für FVC in der Längsschnittanalyse (p = 0,045), wie die Tab. 4 und Tab. 5 belegen (Analyse der stetigen Zielgrößen VCmax und FEV1). Der Einfluss der Cyanurchloridexposition ergab sich ähnlich auf FVC wie auf FEV1 (obgleich leicht stärker auf die FEV1), und war wie in der Querschnittanalyse schwächer ausgeprägt, wenn FEV1%VCmax betrachtet wurde. Als Folgerung daraus wurden die weiteren Auswertungen auf die beiden Lungenfunktionsparameter VCmax und FEV1 fokussiert, da sich der Quotient FEV1%VCmax durch die gemeinsame Variation des Effekts auf die Ausgangsparameter als weniger sensitiv für Expositionseinflüsse darstellte. Die getrennte Analyse von Expositionsdauer und Langzeitdurchschnittskonzentration ergab keine klare Zuordnung der mit der kumulierten Exposition beobachteten Effekte zu einer der beiden Komponenten.
Tab. 4
Multivariable lineare GEE-Regression zu VCmax im Längsschnitt über der kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid (2914 Beobachtungen zu 387 Männern mit vollständigen Daten). Regressionskoeffizient mit Standardabweichung (semi-robuste Schätzung), z-Wert, zweiseitiger p-Wert und 95 %-Konfidenzintervall
Multivariable lineare GEE-Regression zu FEV1 im Längsschnitt über der kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid (2948 Beobachtungen zu 385 Männern mit vollständigen Daten). Regressionskoeffizient mit Standardabweichung (semi-robuste Schätzung), z-Wert, zweiseitiger p-Wert und 95 %-Konfidenzintervall.
Analysen zum Verlauf des Alterseinflusses mit optimaler Modellanpassung für das Alter mithilfe fraktionaler Polynome 2. Grades ergaben zwar den erwarteten nicht-linearen Alterseinfluss auf die Lungenfunktion, eine geänderte Schätzung des Einflusses der Cyanurchloridexposition ergab sich daraus aber nicht. Das Ergebnis war eher ein Hinweis auf eine gewisse Überschätzung des Effekts bei allein linearer Adjustierung. Die Berechnung der GEE-Regressionsmodelle nach Einschränkung des Studienkollektivs auf Mitarbeiter, die zum Zeitpunkt der medizinischen Untersuchung mindestens 25 Jahre alt waren, zeigten ebenfalls keine relevant abweichenden Koeffizientenschätzungen. Die lineare Adjustierung des Alterseinflusses konnte somit als hinreichend angesehen werden. Alle folgenden Analysen wurden stets zum Gesamtkollektiv und ohne den Einsatz fraktionaler Polynome durchgeführt.
Multi-Model-Approach (2. Analyseansatz)
Es wurden Sensitivitätsanalysen zu linearen Regressionsmodellen für die Zielgrößen FEV1 und VCmax zu allen 24 Expositionsvarianten mit und ohne Interaktionsberücksichtigung im Längs- und Querschnitt durchgeführt [30]. Es konnte keine lineare Abhängigkeit zwischen den Expositionsvarianten festgestellt werden, d. h. es war keine Reduktion auf eine der Größen a priori möglich. Die Varianten enthalten mehr Information als eine einfache Skalentransformation.
Für eine optimale Bewertung der Expositionsvarianten wurde daher eine Best-estimate-Abschätzung für die kumulierte Cyanurchloridexposition bzw. für die Cyanurchloridkonzentration und -dauer durchgeführt. Dazu wurden die 12 Expositionsvarianten mit bzw. ohne Umrechnungsfaktor zusammengeführt. Das Verfahren lieferte eine mittlere Schätzung des Effekts mit zugehörigen p-Werten und Konfidenzintervallen über die gemeinsam betrachteten Expositionsvarianten. Als Best-estimate-Schätzung unter Berücksichtigung von Werksunterschieden ergab sich dabei z. B. für FEV1 im Längsschnitt ein Rückgang von − 0,811 l pro 1 mg/m3-Jahr kumulierter Exposition gegenüber Cyanurchlorid mit 0,721 l pro 1 mg/m3-Jahr als zugehörige Standardabweichung. Diese Schätzung des Rückgangs ist somit eindeutig nicht signifikant (p = 0,26).
Tab. 6 zeigt die wesentlichen Ergebnisse zu 32 Multi-Model-Analysen mit Best-estimate-Abschätzungen zu FEV1 und VCmax: im Quer- bzw. Längsschnitt, mit oder ohne Berücksichtigung potenzieller Werksunterschiede im Effekt, mit oder ohne Umrechnung der Messverfahren. Die Koeffizientenschätzungen sind mit einem Stern versehen, wenn der zugehörige p-Wert unter 5 % lag (Signifikanz). Als Ergebnis der Best-estimate-Schätzungen über alle Werke kann festgehalten werden, dass in der Mehrzahl negative Koeffizienten vorkommen, die auf einen nachteiligen Effekt der Cyanurchloridexposition schließen lassen. Bei den Modellen mit Interaktionstermen ist der Unterschied zwischen Längs- und Querschnittanalysen verringert. Allerdings sind die beobachteten Effekte fragwürdig. Neben einer großen Variation in den Koeffizientenschätzern tritt trotz zum Teil großer Schätzwerte nur selten Signifikanz ein. Eine Signifikanz konnte nur in den Modellen ohne Umrechnung zwischen den Messverfahren beobachtet werden (unplausiblerer Ansatz der Expositionsschätzung).
Tab. 6
Multi-Model-Analysen in Quer-und Längsschnitt zu FEV1 und VCmax. Best-estimate-Schätzung (präzisionsgewichteter Mittelwert der Koeffizienten) aus je 12 multivariablen linearen Regressionsmodellen bzw. GEE-Modellen zu unterschiedlichen Metriken der Exposition gegenüber Cyanurchlorid. Modelle mit Interaktion berücksichtigen die potenzielle Heterogenität über den Werken
Datenbasis
Querschnitt
Längsschnitt
Expositionsvariable
Mit Umrechnung
Ohne Umrechnung
Mit Umrechnung
Ohne Umrechnung
Best estimate ohne Interaktionen mit den Werken
Kumulierte Exposition
VCmax (l)
− 0,2299
− 0,2513
− 0,8431
− 1,0442
FEV1 (l)
0,0696
0,0196
− 0,5459
− 0,8248a
Konzentration und Expositionsdauer
VCmax (l)
− 0,0132
0,1055
− 2,1794
− 2,5751
FEV1 (l)
3,6028
2,5252
− 8,1885
− 7,7613
Best estimate mit Interaktionen mit den Werken
Kumulierte Exposition
VCmax (l)
− 0,0944
− 0,1594
− 0,3172
− 0,5757a
FEV1 (l)
− 0,3957
− 0,4507
− 0,8113
− 1,0585a
Konzentration und Expositionsdauer
VCmax (l)
− 5,6950
− 6,8272
2,1469
0,8230
FEV1 (l)
− 8,2270
− 13,5181
− 0,4347
− 2,4238
aSignifikant auf dem 5 %-Niveau.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Studie keinen klaren Effekt der Cyanurchloridexposition nachweist, aber eine mögliche negative Wirkung auf die zentralen Lungenfunktionsparameter VCmax und FEV1 anzeigt.
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Verschiedene Zusatzanalysen wurden durchgeführt. Der Frage nach einer ungenügenden Berücksichtigung von Unterschieden zwischen den Lungenfunktionsmessgeräten wurde durch eine detailliertere Klassifizierung der Lungenfunktionsmessgeräte in andere als die 4 gewählten Messgerätegruppen nachgegangen, was aber zu keinem wesentlich anderen Ergebnis führte.
Da sich insgesamt kein eindeutiges und einheitliches Wirkungsbild ergeben hat, wurden Einzelmodelle näher betrachtet, die typische Ergebnisse der Multi-Model-Analyse widerspiegeln, um diese im Detail weiter zu betrachten. Da sich in der Multi-Model-Analyse im Querschnitt niedrigere Verluste ergaben, wurden lediglich Längsschnittmodelle weiterverfolgt. Die Variante mit Umrechnungsfaktor wurde als plausiblerer Ansatz der Variante ohne Umrechnungsfaktor vorgezogen. Ebenso wurden Modelle mit Berücksichtigung von Heterogenitäten zwischen den Werken denen ohne Interaktionen vorgezogen. Expositionseffekte zeigten sich in der Multi-Model-Analyse klarer bei Auswertung der kumulierten Exposition als bei Trennung in Konzentration und Dauer. Die Detailanalyse konzentrierte sich somit auf die Modellmengen, die den beiden Best-estimate-Schätzungen − 0,3172 l/mg × m3-Jahre (VCmax) und − 0,8113 l/mg × m3-Jahre (FEV1) zugrunde lagen (5. und 6. Zeile, 3. Wertespalte der Tab. 6).
Für beide Zielgrößen ergab sich innerhalb der jeweiligen Modellmenge dieselbe Struktur. Der maximale Verlust wurde beschrieben durch die Variante mw_nwg2_umr (zentrale Expositionsvariante), der durchschnittliche Verlust durch die Variante p50_nwgsqr2_umr und der minimale Verlust ergab sich bei Betrachtung der Variante p50_nwg1_umr [30]. Die zentrale Expositionsvariante mw_nwg2_umr entstand durch Anwendung
des Mittelwerts der Messwerte als Stützstatistik,
der Imputation der halben Nachweisgrenze bei Messwerten ≤ Nachweisgrenze und
der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren.
Die Variante p50_nwgsqr2_umr entstand durch Anwendung
des Medians als Stützstatistik,
der Imputation der Nachweisgrenze/√2 bei Messwerten ≤ der Nachweisgrenze und
der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren.
Die Variante p50_nwg1_umr entstand durch Anwendung
des Medians als Stützstatistik,
der Imputation der Nachweisgrenze bei Messwerten ≤ Nachweisgrenze und
der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren.
Tab. 7 gibt einen Überblick zu den Koeffizienten dieser 3 als typisch ausgewählten Einzelmodelle für die Lungenfunktionsparameter FEV1 und VCmax im Längsschnitt für die kumulierte Cyanurchloridexposition mit Umrechnungsfaktor. Neben den Modellkoeffizienten und zugehörigen 95 %-Konfidenzintervallen sind die jeweiligen Best-estimate-Schätzungen zur Modellgruppe in der Tabellenbeschreibung mit aufgeführt.
Tab. 7
Koeffizienten der als typisch selektierten Längsschnittmodelle für VCmax und FEV1 mit Berücksichtigung potenzieller Unterschiede im Effekt zwischen den Werken. Die Modelle beschreiben die stärksten und schwächsten Effektschätzungen innerhalb der jeweiligen Modellklasse und eine mittlere Wirkung, nahe dem Best-estimate (− 0,317 l für VCmax bzw. − 0,811 l für FEV1) zur Modellklasse
Zielgrößen
VCmax (l)
FEV1 (l)
Modelle
Koeffizient
95 %-Konfidenzintervall
Koeffizient
95 %-Konfidenzintervall
mw_nwg2_umr
− 0,552
− 1,322
0,218
− 1,111
− 2,184
− 0,038
p50_nwgsqr2_umr
− 0,283
− 1,255
0,689
− 0,800
− 2,145
0,546
p50_nwg1_umr
− 0,048
− 1,188
1,091
− 0,503
− 2,124
1,118
In einem nächsten Schritt wurde versucht, einen Schwellenwert für Cyanurchlorid zu schätzen, der als Orientierung für einen AGW dienen könnte (immer unter der anti-konservativen Annahme, dass die im wesentlichen negativen Koeffizienten der Multi-Model-Analyse tatsächlich Relevanz haben). Dazu wurde anhand der drei ausgewählten Einzelmodelle eine Schätzung der Wirkungsschwelle durchgeführt.
Ermittlung eines Schwellenwerts auf Basis typischer Einzelmodelle (3. Analyseansatz)
Die Schwellenwertermittlung wurde durchgeführt für die drei ausgewählten Einzelmodelle und die Zielgrößen FEV1 und VCmax im Längsschnitt und zum Vergleich auch im Querschnitt. Die gestauchte Expositionsgröße war somit die kumulierte Exposition gegenüber Cyanurchlorid mit Umrechung zwischen den Messverfahren.
Eine erste Analyse zeigte, dass das Modell mit dem minimalen Verlust an Lungenfunktionskapazität (p50_nwg1_umr) geschätzte Wirkungsschwellen oberhalb aller untersuchten Belastungsbedingungen ergab. Danach lägen auch die höchsten innerhalb der Studie ermittelten kumulierten Expositionen unterhalb der mit diesem Modell geschätzten Wirkungsschwelle. Dieses extreme Ergebnis belegt erneut, dass die Analyse insgesamt, d. h. simultan für alle abgeschätzten Expositionsvarianten, keinen überzeugenden Nachweis der stattgefundenen Exposition gegenüber Cyanurchlorid auf die Lungenfunktion ermitteln konnte.
Als zentrales Ergebnis dieser Schwellenwertsuche ist folgendes festzuhalten: wurden insbesondere die Modelle mit maximaler Wirkung für FEV1 und VCmax im Längsschnitt betrachtet, so ergab sich unter Berücksichtigung des 0,95-Konfidenzbereichs ein Schwellenwert τ bei einer kumulierten Exposition von etwa 0,1 bis 0,2 mg/m3-Jahre. Diese Schwelle ist signifikant von Null verschieden, denn die untere Grenze des 0,95-Konfidenzbereichs für τ lag in allen Auswertungen oberhalb der Null. In der Querschnittsauswertung waren dagegen keine Schwellen statistisch gesichert identifizierbar, wobei die Punktschätzungen des Schwellenwerts allerdings ähnlich lagen wie in den Längsschnittanalysen. Aufgrund des größeren Informationsgehalts sind die Längsschnittmodelle zu bevorzugen, gerade wenn die Punktschätzungen ähnlich ausfallen. Als zentrales Modell zur Ermittlung eines Schwellenwerts, ab dem die kumulierte Exposition gegenüber Cyanurchlorid beginnt, negative Auswirkungen auf die Lungenfunktionsparameter zu entwickeln, erschien das Längsschnittmodell zur FEV1 mit einer mittleren Effektgrößenschätzung (p50_nwgsqr2_umr) am besten geeignet. Durch eine Fokussierung auf die FEV1 wurde der sensitivere Parameter gewählt, denn die Schwellenwertmodelle zeigten für FEV1 oberhalb der Schwelle einen etwas größeren Wirkungskoeffizienten in l/mg/m3-Jahre an als für die VCmax: − 1,18 vs. − 1,05 (mw_nwg2_umr) bzw. − 1,13 vs. − 1,11 (p50_nwgsqr2_umr). Dies entspricht zudem dem Befund nach Tab. 6, wo die Effekte bei Berücksichtigung von Interaktionen auf die FEV1 ausgeprägter sind als auf die VCmax. Das Modell mit mittlerer Effektgröße wurde selektiert, da dies das Ergebnis der Multi-Model-Analysen optimal repräsentiert. In diesem Modell (FEV1, p50_nwgsqr2_umr) ergab sich unter Berücksichtigung des hohen Werts für die rechte 95 %-Konfidenzintervallgrenze ein Minimum-Plateau in der Schwellenwertschätzung bei einer kumulierten Exposition von 0,2–0,4 mg/m3-Jahre (Abb. 1). Als Orientierungswert, der die Information aus der Multi-Model-Analyse realistisch zusammenfasst, konnte somit ein Schwellenwert von 0,3 mg/m3-Jahre abgeleitet werden.
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Bewertung der aktuellen Belastung gegenüber Cyanurchlorid
Die Bewertung der zu erwartenden Verluste an Lungenfunktionskapazität durch eine Cyanurchloridexposition setzt eine Orientierung an den altersüblichen Verlusten voraus. Zunächst ist festzuhalten, dass bzgl. aller Lungenfunktionsparameter die Verluste des Studienkollektivs im Hinblick auf die nach Quanjer et al. [34] zu erwartenden Lungenfunktionsrückgänge der Normalbevölkerung im Durchschnitt unauffällig waren [30]. Nach Quanjer et al. [34] lässt sich der erwartete, altersübliche Verlust an Lungenfunktionskapazität unter Männern für den Lungenfunktionsparameter FEV1 nach 40 Jahren zu 1,16 l (= 0,029 l/Jahr × 40 Jahre) berechnen. Gemäß der in GOLD 2010 (S. 8) beschriebenen Definition der normalen Lungenfunktionsverluste erscheint ein zusätzlicher Verlust durch die Cyanurchloridexposition von etwa 5 bis 10 % dieses üblichen Verlusts tolerabel.
Im Vergleich dazu ergibt sich für Raucher ein Verlust in der FEV1 von etwa 0,06 l/Jahr [1, 38] und damit ein zusätzlicher Verlust von 1,2 l (= 0,03 l/Jahr × 40 Jahre), d. h. der relative zusätzliche Verlust durch Rauchen ist damit in der Größenordnung 100 %.
Als konkrete Fragestellung war im Rahmen dieser Studie zu beantworten, wie groß der zu erwartende Effekt des Verlusts an FEV1 durch 40-jährige Cyanurchloridexposition bei typischen, aktuellen Belastungsbedingungen ist (immer unter der Annahme, dass die in den typischen Modellen beschriebenen Effekte tatsächlich vorliegen). Von besonderer Relevanz ist das Werk Wesseling, das ab 2008 als einziger verbliebener Betrieb Cyanurchlorid produziert.
Die Bewertung der Cyanurchloridwirkung wurde somit im Längsschnitt für den Lungenfunktionsparameter FEV1 und die beiden Expositionsvarianten mw_nwg2_umr (max. Verlustschätzung an Lungenfunktionskapazität) und p50_nwgsqr2_umr (durchschnittliche Verlustschätzung an Lungenfunktionskapazität) mit Schwellenwertberücksichtigung für das Werk Wesseling ab 2000 durchgeführt und mit den üblichem Verlust nach Quanjer et al. [34] verglichen. Der FEV1-Wirkungskoeffizient für die Cyanurchloridexpositionen über dem Schwellenwert betrug − 1,1759 l/(mg/m3-Jahre), p < 0,0001 (mw_nwg2_umr) bzw. − 1,1331 l/(mg/m3-Jahre), p < 0,0001 (p50_nwgsqr2_umr). Die ermittelte Durchschnittsexposition im Werk Wesseling ab 2000 ergab hochgerechnet auf 40 Jahre eine kumulierte Exposition oberhalb des Punktschätzers für die Schwelle von 0,0822 mg/m3-Jahre (mw_nwg2_umr) bzw. 0,0346 mg/m3-Jahre (p50_nwgsqr2_umr). Die erwarteten FEV1-Verluste lagen somit bei − 0,0966 bzw. − 0,0392 l.
Bei aktueller mittlerer Exposition gegenüber Cyanurchlorid und derzeitiger Umgangsweise in Wesseling waren – selbst bei Extrapolation auf 40 Jahre – die Lungenfunktionsverluste mit − 8 % (max. Verlustschätzung, mw_nwg2_umr) bzw. − 3 % (durchschnittliche Verlustschätzung, p50_nwgsqr2_umr) im Vergleich zum altersüblichen Rückgang tolerabel. Dies galt insbesondere für das ausgewählte Modell (FEV1, p50_nwgsqr2_umr), auf das die Schwellenwertschätzung zentral gestützt wird. Denn aus diesem Modell ergab sich ein geschätzter zusätzlicher Effekt der Langzeitexposition gegenüber Cyanurchlorid von − 0,04 l (− 3 %). Werden statt der aktuellen Belastungshöhen die historischen Durchschnittsbelastungen gegenüber Cyanurchlorid in die Modelle eingesetzt, ergeben sich bei Ansatz einer 40-jährigen Expositionsdauer Hinweise auf relevante Lungenfunktionsverluste (im Bereich von − 0,5 bis − 0,6 l). Dieser anti-konservative Ansatz in der Wirkungsabschätzung ist aber kritisch zu bewerten, da das Modell mit minimal geschätzter Wirkung (p50_nwg1_umr) weder für die aktuellen noch für die historischen Belastungswerte gegenüber Cyanurchlorid einen Hinweis auf eine zusätzliche Beeinträchtigung der Lungenfunktion gab. Wichtig ist, dass sich unter den aktuellen Belastungsbedingungen in Wesseling in allen Modellszenarien keine relevante Beeinträchtigung der Lungenfunktion erkennen ließ, d. h. auch dann nicht, wenn ein anti-konservativer Standpunkt eingenommen wurde.
Abschätzung eines Arbeitsplatzgrenzwerts
Die Ermittlung eines Schwellenwertes und die Bewertung der aktuellen Belastung bezogen sich auf Angaben zur kumulierten Exposition gegenüber Cyanurchlorid. Ein AGW wird dagegen mit Schichtbezug definiert (8 h, TWA). Insofern muss zur Abschätzung der Lage eines AGW eine Umrechnung des ermittelten Langzeitschwellenwerts inkl. Toleranzmarge auf die Schichtdauer erfolgen. Hierzu könnte vorgeschlagen werden, die geschätzte Schwelle inkl. Toleranzmarge für kumulierte Exposition auf einen Jahresmittelwert umzurechnen, indem durch eine maximale 40-jährige Expositionszeit dividiert wird. Diese Umrechnung unterstellt jedoch eine mit der Dauer sinkende Konzentrationsschwelle, während und auch über die real beobachtete Expositionsdauer hinaus, wobei in den durchgeführten Modellierungen kein eigenständiger Effekt der Konzentration in Konzentrations-Dauer-Modellen erkennbar war.
Daher wurde alternativ folgendes Verfahren zur Ableitung einer AGW-Empfehlung gewählt:
Umrechnung des Schwellenwerts der kumulierten Exposition inkl. Toleranzmarge auf einen Konzentrationswert unter Ansatz der beobachteten Expositionsdauer in der Studie – verbunden mit der Annahme, dass die aus mittlerer Expositionsdauer und kumulierter Exposition abgeleitete Konzentrationsschwelle für alle Expositionsdauern gilt. Aufgrund der fehlenden Evidenz einer eigenständigen Wirksamkeit der Konzentration erscheint dieser Ansatz gerechtfertigt. Bezogen auf eine mittlere Expositionsdauer gegenüber Cyanurchlorid von 11,2 Jahren (ähnlich in allen 3 Werken, [30]) beträgt die geschätzte Schwelle für die kumulierte Exposition 0,3 mg/m3-Jahre. Der FEV1-Wirkungskoeffizient für die Cyanurchloridexpositionen über dem Schwellenwert beträgt etwa 1,15 l pro mg/m3-Jahre. Der zusätzliche tolerable Verlust für FEV1 beträgt bis zu 10 % des natürlichen Altersgangs, also 0,12 l in 40 Jahren. Unter diesen Rahmenbedingungen ergibt sich eine tolerable Langzeitdurchschnittskonzentration von 0,3 mg/m3-Jahre/11,2 Jahre + (11,2 Jahre × 0,12 l/40 Jahre) / (11,2 Jahre × 1,15 l/mg/m3-Jahre) = 0,03 mg/m3.
Die Schichtmittelwerte von Arbeitsplatzschadstoffkonzentrationen variieren üblicherweise um ihren Langzeitmittelwert mit einer Verteilungsform ähnlich zu einer Lognormalverteilung [14]. Deshalb muss eine Umrechnung von einem Langzeitgrenzwert auf einen Schichtgrenzwert erfolgen, wobei bei niedriger Messdatenabdeckung konservativ von mindestens einem Umrechnungsfaktor von 2 auszugehen ist. Vergleiche zu dieser Problematik, und dem Lösungsvorschlag mit einem Umrechnungsfaktor von mindestens 2 zu arbeiten, die entsprechende Dokumentation der MAK-Kommission [14] und die Ausführungen in Bochmann und Morfeld [3].
Damit beträgt der vorgeschlagene Arbeitsplatzgrenzwert (TWA, 8 h-Schicht) 2 × 0,03 mg/m3 = 0,06 mg/m3.
Diskussion und Zusammenfassung
Für eine Studiengruppe von 394 Männern, die zwischen 1958 und 2007 in cyanurchloridproduzierenden Betrieben tätig waren, wurden medizinische Daten, Tätigkeiten und Expositionen erfasst und verarbeitet. Es handelt sich um eine retrospektive Kohortenstudie zur respiratorischen Morbidität, die – nach Möglichkeit – alle aktiven und ehemaligen Mitarbeiter der drei Cyanurchloridbetriebe der Evonik Industries AG (Antwerpen, Münchsmünster und Wesseling) umfasste. Das Studienkollektiv wurde beschränkt auf männliche Mitarbeiter, die mind. ein Jahr im Cyanurchloridbetrieb tätig waren. Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung wurden medizinische Daten und Tätigkeitsprofile der Studienteilnehmer sowie die Expositionsdaten von Produktionsbeginn bis zum Studienende 2007 erfasst.
Jedem Studienteilnehmer wurde über eine für diese Studie entwickelte Job-Exposure-Matrix die seiner Tätigkeit entsprechende Cyanurchloridbelastung und seine medizinischen Daten aus den arbeitsmedizinischen Untersuchungen zugewiesen. Zur Berücksichtigung von Unsicherheiten erfolgte diese Expositionsschätzung unter variierenden Annahmen (multiple Schätzung, 24 Versionen). Zum Design der Studie, zu Kollektiv, Datenerhebung, Expositionsermittlung, Kovariablen und medizinischen Response-Größen wird in Morfeld et al. berichtet [30].
Die mittleren Lungenfunktionsmesswerte des Kollektivs waren unauffällig, respiratorische Symptome und Erkrankungen wurden nur in geringem Umfang berichtet. Der Prozentsatz an COPD-Erkrankungen im Querschnitt lag z. B. bei 9,72 % für COPD-Stufe Ia bzw. 6,65 % für COPD-Stufe IIa, COPD ist daher unauffällig bezogen auf das gesamte Kollektiv. Eine epidemiologische Studie zu COPD ermittelte einen Prozentsatz von etwa 10 % als zu erwarten und stützt daher diese Interpretation [26].
In der hier vorgestellten Zusammenhangsanalyse von Exposition und Response wurden Lungenfunktionsparameter, respiratorische Symptome und Erkrankungen sowie Sensibilisierungsparameter gegenüber Cyanurchlorid als Zielgrößen im Querschnitt untersucht. Im Längsschnitt standen die gemessenen Lungenfunktionsparameter zur Analyse zur Verfügung. Die Cyanurchloridexposition wurde pro Studienteilnehmer in den Auswertungen zum einen durch die durchschnittliche Cyanurchloridkonzentration in Kombination mit der kumulierten Cyanurchloridexpositionsdauer repräsentiert, zum anderen wurde die kumulierte Cyanurchloridexposition als Produkt aus Konzentration und Expositionsdauer ausgewertet.
Nach eingehender Prüfung unterschiedlicher Modelle mit variierenden Kovariablen und Messdatenansätzen wurde eine finale Modellstruktur für die Untersuchung der Lungenfunktionsparameter, der respiratorischen Symptome und der Cyanurchloridsensibilisierung entwickelt. Die sich anschließende Zusammenhangsanalyse bestand aus 3 separaten Schritten mit anschließender Effektbewertung. Zunächst wurden Einzelmodelle betrachtet, daran anschließend wurde ein Multi-Model-Approach durchgeführt. In der abschließenden Detailanalyse wurde über eine Schwellenwertschätzung versucht, einen Vorschlag für einen AGW (8 h, TWA) abzuleiten, und es wurde die ermittelte Wirkungsschätzung zu einer Bewertung der derzeitigen Expositionssituation im Werk Wesseling herangezogen, da seit 2008 Cyanurchlorid nur noch in diesem Werk produziert wird.
Die Einzelmodellanalyse (lineare und logistische Regressionsmodelle ohne Interaktionsterme zur zentralen Expositionsvariante und zu allen interessierenden Endpunkten) ergab, dass keine Wirkung im Hinblick auf Symptome oder Erkrankungen wie COPD höheren Grades festzustellen war. Gewisse Hinweise auf eine Sensibilisierung durch Cyanurchlorid im Sinne erhöhter spezifischer IGE-Werte konnten gefunden werden, insbesondere für die offen betriebene Anlage in Münchmünster, aber ohne Nachweis einer Atemwegssensibilisierung (Allergisierung der Atemwege, [22, 24]). Der Unterschied in der Sensibilisierungsprävalenz zwischen den Werken ließ sich in Regressionsmodellen aber nicht als statistisch signifikant sichern. Angemerkt sei, dass im Gegensatz zu Wesseling, wo heute noch in weiten Bereichen Maskenpflicht besteht, und zu Antwerpen, wo in den letzten 3 Jahren vor Studienende im Bereich der Abfüllung keine Masken mehr getragen wurden, in der offen betriebenen Anlage in Münchsmünster bereits 15 Jahre vor Studienende die Maskenpflicht aufgehoben wurde. Für die Ergebnisbewertung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Studienteilnehmer durch die Querschnittanalyse und die zusätzliche Selbstselektion (Zustimmung zur Blutabnahme) doppelt selektiert waren. Die Analyse zur Sensibilisierung gegenüber Cyanurchlorid ist daher nicht als repräsentativ anzusehen.
Der Multi-Model-Approach (Sensitivitätsanalysen zu linearen Regressionsmodellen zu FEV1 und VCmax sowie zu allen 24 Expositionsvarianten mit Interaktionsberücksichtigung im Längs- und Querschnitt, metaanalytischer Ansatz mit präzisionsgewichteter gemeinsamer Schätzer aus Multi-Model-Approach) ergab eine große Variabilität der Befunde bei selten auftretender Signifikanz. Es konnte kein klarer Effekt der Cyanurchloridexposition nachgewiesen werden. Es zeigte sich aber eine mögliche negative Wirkung auf die zentralen Lungenfunktionsparameter VCmax und FEV1. Die Lungenfunktionsparameter ergaben sich somit als sensitivste Endpunkte und wurden deshalb der weiteren Auswertung zugrunde gelegt. Zudem lagen Lungenfunktionsmessdaten für das Kollektiv im Längsschnitt vor, während Symptomangaben nur im Querschnitt gewonnen werden konnten. Grundsätzlich wird Lungenfunktionsmesswerten in der Beurteilung der respiratorischen Gesundheit eine vorrangige Bedeutung zugeordnet [11, 12]. Auch im Hinblick auf die Mortalität wird Lungenfunktionsmesswerten eine wichtige prognostische Rolle beigemessen [37].
Die Detailanalyse, in der eine Auswahl und Berechnung typischer Einzelmodelle mit Schwellenwertbestimmung und AGW-Schätzung (typisch bedeutet charakteristisch für die Ergebnisse der Multi-Model-Analyse) durchgeführt wurde, ergab, dass die Lungenfunktionsverluste bei aktueller mittlerer Exposition gegenüber Cyanurchlorid in Wesseling sich als unbedenklich darstellten. Mit Einsatz von Hockey-Schläger-Modellen wurde ein Langzeitschwellenwert für die kumulierte Exposition gegenüber Cyanurchlorid bei etwa 0,3 mg/m3-Jahre identifiziert. Unter Berücksichtigung dieses Langzeitschwellenwerts, einer durchschnittlichen Expositionsdauer von 11,2 Jahren und einer tolerablen zusätzlichen Lungenfunktionseinbuße von 10 % des altersüblichen Verlusts sowie einer Umrechnung von Langzeitwerten auf Schichtwerte mit einem Faktor 2 ergab sich eine Empfehlung für einen Schichtgrenzwert (TWA, 8 h) von 0,06 mg/m3.
Zur Diskussion des vorgeschlagenen AGWs für Cyanurchlorid von 0,06 mg/m3 wurde zunächst vergleichend die Expositionssituation im Werk Wesseling ab dem Jahr 2000 herangezogen. Die personenbezogenen Langzeitdurchschnittsschätzungen pro Jobkategorie ergaben in Wesseling auf Basis der Messdaten ab dem Jahr 2000 eine Durchschnittskonzentration von insgesamt 0,0063 mg/m3 (Produktionsmitarbeiter 0,0040 mg/m3, Austragsmitarbeiter 0,0085 mg/m3, Labormitarbeiter 0,0143 mg/m3). Auch bei Ansatz eines Faktors von 2 oder 3 zur Umrechnung dieser Langzeitwerte auf höhere Schichtwerte ergab sich kein Hinweis auf eine gesundheitliche Gefährdung der Mitarbeiter bei den aktuell bestehenden Belastungsbedingungen und der derzeitigen Umgangsweise mit Cyanurchloridexpositionen in Wesseling. Des Weiteren konnte auf einen Bericht in der Laborfachzeitschrift GIT zurückgegriffen werden [25], in dem Geruchsschwellenwerte für Cyanurchlorid angeführt sind. Diese lägen bei 0,007 bis 0,07 mg/m3, im Mittel bei 0,07385 mg/m3 (Messmethode „NIOSH“, National Institute for Occupational Safety and Health). Der empfohlene AGW von 0,06 mg/m3 liegt also am oberen Bereich der Geruchsschwelle. Es gibt keine Dokumentation über die Ermittlung einer Maskenpflichtschwelle für Cyanurchlorid. In Expertengesprächen wurde der doppelte Geruchsschwellenwert als ein Erfahrungswert der Evonik Industries AG genannt, sodass als Maskenpflichtschwelle Werte zwischen 0,014 und 0,14 mg/m3, im Mittel bei 0,077 mg/m3 angenommen wurden. Der vorgeschlagene AGW von 0,06 mg/m3 liegt also im mittleren Bereich der Maskenpflichtschwelle.
Im Kick-off-Meeting für diese Studie wurde im November 2006 in Frankfurt auf Basis der vorliegenden tierexperimentellen Daten ein AGW (TWA, 8 h) von 0,025 mg/m3 vorgeschlagen. Eine Grenzwertdiskussion konnte bis zu diesem Zeitpunkt allerdings nur auf Grundlage kaum belastbarer tierexperimenteller Studien geführt werden [8, 17, 18], sodass dieser Vorschlag als unzureichend gestützt anzusehen war [30]. In anderen Firmen wurden im Jahr 2005 interne AGWs von 0,05 mg/m3 (Ciba AG) und 0,10 mg/m3 (Lonza Group) in Ansatz gebracht. In Beobachtungsstudien am Menschen wurden Reizwirkungen an Haut, Augen und Atemtrakt beschrieben und nach wiederholten Expositionen allergische Kontaktdermatiden [10, 19, 21, 27]. Allerdings ergeben diese Arbeiten und Fallstudien keine belastbaren Aussagen zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen und können deshalb zur Diskussion des vorgeschlagenen AGWs nicht herangezogen werden.
Unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Diskussionsansätze erscheint der ermittelte Vorschlag für einen Arbeitsplatzgrenzwert plausibel.
Bei dieser Studie handelt es sich um die weltweit umfangreichste epidemiologische Untersuchung zur gesundheitlichen Auswirkung einer beruflichen Cyanuchloridbelastung in einer Längsschnittstruktur (Kohorte mit eingebetteter Querschnittanalyse) unter Einbeziehung vieler relevanter medizinischer Endpunkte (Atemwegsbeschwerden und Symptome, Sensibilisierungsparameter, Asthma, COPD, Lungenfunktion) und unter Berücksichtigung von Koexpositionen, Rotationszeiten und Vorbelastungen (wo möglich). Eine strukturierte individuelle und multiple Expositionsbestimmung auf Basis von Messwerten und Expertenschätzungen diente als Basis für die Anwendung einer Regressionstechnik mit Sensitivitätsanalyse zur multiplen Expositionserhebung und Heterogenitätsberücksichtigung, an deren Ende eine Detailanalyse mit Schwellenwertschätzung stand.
Als Schwäche dieser Studie ist zu nennen, dass einige medizinische Response-Größen nur im Querschnitt vorhanden waren, die zusätzlich durch Selbstselektion der Studienteilnehmer beeinträchtigt wurden. Auf diese schwächeren Daten wurde allerdings nicht die AGW-Ableitung gegründet. Außerdem stand auf der Expositionsseite nur eine schmale Messdatenbasis zur Verfügung. Mit multipler Expositionsschätzung und einer Multi-Model-Analyse wurde versucht, diesem nach Möglichkeit Rechnung zu tragen. Eine Verbreiterung der Messdatenbasis und eine zukünftige Verlängerung des Follow-ups des Studienkollektivs, insbesondere in den wesentlichen Lungenfunktionsmesswerten, sind zu empfehlen.
Als zentrales Ergebnis der Studie kann somit eine AGW-Empfehlung (TWA, 8 h) von 0,06 mg/m3 als Schichtgrenzwert für Cyanurchlorid ausgesprochen werden.
Fazit
Bei dieser Studie handelt es sich um die weltweit umfangreichste epidemiologische Untersuchung zur gesundheitlichen Auswirkung einer beruflichen Cyanuchloridbelastung in einer Längsschnittstruktur unter Einbeziehung vieler relevanter medizinischer Endpunkte und unter Berücksichtigung von Koexpositionen, Rotationszeiten und Vorbelastungen.
Von 394 Männern, die zwischen 1958 und 2007 in cyanurchloridproduzierenden Betrieben tätig waren, wurden medizinische Daten, Tätigkeiten und Expositionen erfasst und verarbeitet.
Die mittleren Lungenfunktionsmesswerte des Kollektivs waren unauffällig, respiratorische Symptome und Erkrankungen wurden nur in geringem Umfang berichtet. Der Prozentsatz an COPD-Erkrankungen im Querschnitt war ebenfalls unauffällig.
Die Lungenfunktionsparameter VCmax und FEV1 ergaben sich als sensitivste Endpunkte.
Als zentrales Ergebnis der Studie kann somit eine Empfehlung für den Arbeitsplatzgrenzwert (TWA, 8 h) von 0,06 mg/m3 als Schichtgrenzwert für Cyanurchlorid ausgesprochen werden.
Danksagung
Wir bedanken uns bei den Mitarbeitern, die an der Untersuchung teilnahmen und bei der Business Unit Industrial Chemicals (BU IC) der Evonik Industries AG für die finanzielle Unterstützung des Projekts. Das Forschungsvorhaben wurde von einem Begleitkreis betreut, der wesentlichen fachlichen Input bereitstellte, und in dem u. a. die Betriebsleitungen, der zuständige Geschäftsbereich sowie die verantwortlichen arbeitsmedizinischen Dienste vertreten waren. Insbesondere sei auch der Mitbestimmung (Herr Strobl) und dem Vertreter des Konzerndatenschutzbeauftragten (Herr Seeger) gedankt. Nur durch deren Einsatz wurde das Projekt auf Basis eines modernen Erfassungssystems realisierbar. Wir bedanken uns bei Frau Prof. Dr. Leng, Currenta GmbH & Co. OH (ehemals: Bayer Industries Services GmbH & Co. OH), Institut für Biomonitoring, Leverkusen, für die Analyse der Blutseren. Wir danken einem unbekannten Reviewer für die hilfreiche Begutachtung einer früheren Manuskriptversion.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt. P. Morfeld u. B. Noll geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Evonik Industries AG produziert Cyanurchlorid (s. www.evonik.com). Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access
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Cyanurchloridbelastung in Produktionsbetrieben Teil 2: Querschnittanalysen zu respiratorischen Symptomen und Längsschnittanalyse zu Lungenfunktionsparametern
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