Gesundheitliche Ungleichheit wird maßgeblich durch soziale Determinanten der Gesundheit bestimmt – also durch die Bedingungen, unter denen Menschen aufwachsen, leben, lernen, arbeiten und altern [
1]. Politische, gesetzliche, institutionelle und ökonomische Rahmenbedingungen entscheiden als strukturelle Determinanten über die gesellschaftliche Verteilung von Macht und Ressourcen und damit über die sozialen Voraussetzungen einer guten Gesundheit [
2]. Weitere Faktoren sind soziale Normen und alltägliche Erfahrungen von Ausschluss und Zugehörigkeit. Diese beeinflussen – in Verknüpfung mit strukturellen Determinanten – die Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit von Menschen weltweit.
Diskriminierung und Rassismus rücken zunehmend in den Fokus der Public-Health-Forschung, zahlreiche Studien zeigen den Zusammenhang mit der Gesundheit der Betroffenen auf [
3‐
8]. Diese nehmen die allgemeine, subjektive und psychische Gesundheit, Zugang zu Versorgung sowie das Gesundheitsverhalten in den Blick [
9,
10]. Die Erkenntnisse stammen größtenteils aus dem angloamerikanischen Sprachraum und liefern eine solide Grundlage für eine Diskussion über gesundheitliche Folgen struktureller Ausschlüsse im Kontext von Diskriminierung und Rassismus. Deutschland blickt auf eine lange Geschichte der Migration zurück und bedarf daher einer eigenen Debatte unter Berücksichtigung der hiesigen gesellschaftlichen Entwicklung. Es lohnt daher eine kurze Rückschau auf die Geschichte der Migrationsgesellschaft und die Konjunkturen des Rassismus in Deutschland – mit Blick auf gesundheitliche Folgen.
Rassismus und Migrationsgesellschaft in Deutschland
Nach der Ermordung von George Floyd 2020 in den USA – im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie – verbreitete sich der Slogan „Racism is a pandemic too“ weltweit [
11]. In Deutschland wurde er ebenfalls aus aktuellen Gründen aufgegriffen, hier waren im selben Jahr in Hanau 9 junge Menschen aus rassistischen Motiven ermordet worden und im Jahr zuvor hatte es den antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den rechtsterroristischen Mord an Walter Lübcke gegeben.
Die Debatten waren allerdings in Deutschland nicht neu: Bereits seit 2013 fanden die Gerichtsprozesse im Fall der Mordserie der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“ statt. Weitere Beispiele aus einer Reihe von Ereignissen im Kontext rassistischer Gewalt: die rassistischen Pogrome in den 1990er-Jahren in Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Hoyerswerda [
12] und die wiederkehrende und endemische Gewalt gegenüber Geflüchteten vor und nach 2015 [
13].
Die Konjunkturen des direkten, strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland und weltweit stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der gesundheitlichen Lage der Betroffenen. Obgleich beispielsweise Migrant:innen häufig eine überproportional gute Gesundheit aufweisen, verschlechtert sich während und nach der Migration in den Transit- und Ankunftsländern ihre Gesundheit. Das Vorkommen chronischer, nichtübertragbarer Erkrankungen konvergiert meist mit deren Häufigkeit in den Zielländern, wohingegen sich die psychische Gesundheit oft verschlechtert ([
14], s. auch Beitrag Bartig et al. in dieser Themenausgabe). Mögliche Erklärungen sind Versorgungsbarrieren sowie institutionelle und strukturelle Diskriminierung. Diese werden im Folgenden skizziert.
Direkte, strukturelle und institutionelle Formen von Diskriminierung und Rassismus
Diskriminierung bedeutet Ungleichbehandlung, Schlechterstellung und Benachteiligung aufgrund von Eigenschaften, die Menschen oder Gruppen zugeschrieben werden. Diskriminierung kann intentional, zielgerichtet, aber auch unbeabsichtigt stattfinden. Sie kann durch einzelne Personen (
direkt, interpersonell) oder durch Strukturen oder unterschwellige Mechanismen verursacht sein, kann sichtbar oder verdeckt und von den Betroffenen unbemerkt ablaufen – relevant ist der für die Betroffenen entstehende Schaden [
15,
16].
Rassismus beschreibt nicht lediglich Diskriminierung aufgrund von (vermeintlichen) Merkmalszuschreibungen wie Ethnizität oder Herkunft. Er ist ein komplexes soziales Phänomen, ein Bedeutungssystem, das aus einer Vielzahl von Diskursen, Zuschreibungen und Handlungspraxen besteht. Dabei sind unterschiedliche Ebenen wie politische, nationale, soziale, ökonomische, institutionelle, religiöse oder morphologische eng miteinander verwoben, die zu einer spezifischen Ausdifferenzierung sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Dynamiken von Zugehörigkeit, Ausschlüssen, Wissensproduktion und Arbeitsteilungen führen [
17,
18]. Dabei wurden in der Rassenideologie – also der Lehre, dass Menschen in „Rassen“ unterscheidbar sind – zur Begründung der sozialen Konstruktion von „Rasse“ immer biologisch-genetische, morphologische, biologistische und kulturelle Kategorien zur Argumentation herangezogen, wobei die historische Entwicklung zu einer Verlagerung von biologischen hin zu kulturellen Differenzziehungen führte (s. auch: „Rassismus ohne Rassen“ [
18,
19]). Diese wurden zu einer Naturalisierungs- und Plausibilisierungsgrundlage für gesellschaftliche Ungleichheiten, Unterdrückungs‑, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse in Form von Sklaverei, Kolonialismus, Verbrechenskomplexen des Nationalsozialismus und der Eugenik – bis hin zu aktuellen Ausschlüssen im Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung, Arbeit, Einkommen, Wohnen und Gesundheitsversorgung (soziale Determinanten der Gesundheit), auf die hier beispielhaft eingegangen werden soll [
20,
21].
Unterschiedliche Teilaspekte von Rassismus als Praxis auf alltäglicher sowie institutioneller und struktureller Ebene sind beschrieben. „
Othering“ („Ver-Anderung“) ist ein Konzept, das ursprünglich aus postkolonialer Theorie stammt und inzwischen auch Einzug in die Public-Health-Debatte gehalten hat. Es beschreibt die (Re)Produktion von Stereotypen, Vorurteilen, stigmatisierenden Bildern und Kategorien sowie die Abgrenzung zwischen einem „Wir“ und den „Anderen“, oft einhergehend mit einer Abwertung und Zuschreibung von Eigenschaften und Verhaltensweisen ([
22‐
24], s. auch Beitrag von Akbulut et al. in dieser Themenausgabe). Auch die Praktiken des (Ver)Schweigens und Ignorierens von bestimmten Bevölkerungsgruppen oder Themenbereichen (engl.: „
omission“) werden als Dimensionen von Rassismus diskutiert – wie etwa die Abwesenheit bestimmter Themen in Ausbildungsinhalten oder auch die systematische Unterrepräsentation in bevölkerungsbezogenen Daten und im Berichtswesen [
25,
26].
Unter
strukturellem Rassismus wird das Zusammenspiel gesellschaftlicher Bedingungen auf der Makroebene verstanden, welches die Chancen, Ressourcen und das Wohlergehen von Personengruppen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Ethnizität, Herkunft, Community-Zugehörigkeit, ihres Aussehens, Namens oder anderer Rassifizierungsmerkmale einschränkt und zugleich anderen –
weißen1 – Personengruppen Macht, Zugang zu Ressourcen und Privilegien ermöglicht und sichert. Struktureller Rassismus zeigt sich in eingeschränkter Teilhabe und einem begrenzten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, einschließlich Gesundheit, Justiz, Bildung, Wohnraum und Arbeitsmarkt für Menschen, die in Verbindung mit Rassifizierung mit Abwertungsprozessen und damit verbundenen systematischen und immer wiederkehrenden Ausschlüssen konfrontiert sind [
27,
28]. Struktureller Rassismus kann in Verbindung mit weiteren Status- und Ungleichheitsmerkmalen wie Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung, chronischen Einschränkungen, Klasse oder sozioökonomischem Status, Community-Zugehörigkeit oder Kenntnissen der Mehrheitssprache auch zu multipler Benachteiligung führen [
28]. Bei der Analyse dieser Verschränkungen, der Mehrfachdiskriminierung sowie der daraus resultierenden Erfahrungen und gesellschaftlichen Positionen ist das von Schwarzen Feministinnen entwickelte Konzept der Intersektionalität hilfreich und unumgänglich [
29‐
31].
Institutioneller Rassismus bezeichnet hingegen die Einbettung und Sicherung von Ausschlüssen von gesellschaftlicher Teilhabe, aber auch von rassistischen Wissensbeständen in Form von politischen, legislativen und institutionellen Strukturen, Gesetzgebungen und Praktiken. Damit geht auch eine systematisch geringere Beteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen an gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten einher [
32,
33]. Einige Diskriminierungsformen sind nach europäischen und landesspezifischen gesetzlichen Richtlinien verboten [
34]. Andere Formen wiederum sind sogar gesetzlich angeordnet.
2
Ziel dieses Beitrags ist es, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einen Überblick zu strukturellen und institutionellen Aspekten von Rassismus und zu deren direkten sowie indirekten Verschränkungen mit gesundheitlicher Ungleichheit zu geben. Zudem werden die gesundheitsschädigenden Auswirkungen direkter interpersoneller rassistischer Diskriminierung (z. B. Hassverbrechen, verbale oder körperliche Gewalt, schlechtere Behandlung) oder Internalisierung rassistischer Abwertung (z. B. Selbstabwertung, Hoffnungslosigkeit) thematisiert.
Hierzu wurde eine umfassende, jedoch nicht systematische Literaturrecherche durchgeführt. Weiterhin sind die Ergebnisse eines Scoping-Reviews zum Thema „Operationalisierung und Erhebung von (Anti‑)Diskriminierungsdaten in der Gesundheitsforschung“ eingeflossen, das im Rahmen des Projekts IMIRA (Improving Health Monitoring in Migrant Populations) durchgeführt wurde (nicht publiziert).