Kriterien für die Wahl des passenden Cannabiswirkstoffs

Cannabisbasierte Wirkstoffe können bei sehr verschiedenen schweren therapierefraktären Beschwerdebildern zu einer klinisch relevanten Symptomreduktion beitragen und die Lebensqualität der Patienten verbessern. Die Wahl des geeigneten Wirkstoffs für den individuellen Patienten ist jedoch eine Herausforderung. Der sorgfältige Abgleich des Beschwerdebildes des Patienten mit den Wirkeigenschaften von THC und CBD lohnt sich. Die wichtigsten therapeutisch genutzten Cannabinoide sind Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) und Cannabidiol (CBD). Sie weisen verschiedene Wirkspektren auf [1]: THC wirkt vor allem analgetisch, muskelrelaxierend, antiemetisch, antikachektisch, sedativ und anxiolytisch. CBD wirkt entzündungshemmend, antikonvulsiv, anxiolytisch, antidepressiv und antipsychotisch. Die Kombination kann sich (abseits bestehender Zulassungen) anbieten, wenn analgetische, entzündungshemmende, aber auch stimmungsaufhellende bzw. antidepressive Effekte gewünscht sind [2, 3]. Beide Wirkstoffe können sowohl einzeln als auch in Kombination als orale Zubereitungen oder in Form von Cannabisblüten verordnet werden. Leitsymptome identifizieren Bei der Wahl des Cannabiswirkstoffs ist es daher sinnvoll, zunächst die Leitsymptome des Patienten zu identifizieren, die von der Cannabistherapie adressiert werden sollen: Dronabinol oder THC-reiche Cannabisblüten werden bevorzugt bei chronischen Schmerzen und schmerzhaften Spastiken, Kachexie, Übelkeit oder bei komplexen palliativen Beschwerdebildern verordnet. Bei chronischen Schmerzen mit immunologisch entzündlicher oder psychischer Komponente, z. B. Morbus Crohn [2] oder rheumatoide Arthritis, wird wegen der entzündungshemmenden sowie der antidepressiven Eigenschaften von CBD häuﬁg eine Kombination von THC und CBD eingesetzt – sei es als orale Rezepturmischung oder durch die Wahl einer entsprechenden Cannabisblütensorte. Epileptische Anfälle oder auch psychische Beschwerden wie Angst [3], depressive Antriebslosigkeit bzw. Niedergeschlagenheit sprechen nach Erfahrung vieler Ärzte häuﬁg gut auf CBD an. Heute können die reinen Cannabinoide Dronabinol und CBD oder deren Mischungen/Kombinationen als orale Rezepturen verordnet werden. Medizinische Cannabisblüten stehen in einer Vielzahl von Zuchtformen mit Gehalten zwischen 15–25 % THC und <0,5 % CBD (z. B. Red No. 2, Red No. 4) über ausgeglichene Sorten wie Blue 8/7 (8 % THC, 7 % CBD) bis hin zu CBD-dominierten Sorten zur Verfügung. Realistische Ziele festlegen Wichtig ist das Festlegen realistischer Therapieziele gemeinsam mit dem Patienten, um Enttäuschungen, die zur Non-Compliance führen können, zu vermeiden. Patienten mit chronischen Schmerzen sollten wissen, dass Schmerzfreiheit oft nicht erreicht werden kann. Cannabiswirkstoffe werden aber von vielen Ärzten wegen ihrer multisymptomatischen Effekte geschätzt. So können neben einer klinisch relevanten Schmerzreduktion auch die Verbesserung von Schlaf, Mobilität und Alltagsfunktionalität sowie weiterer Parameter der Lebensqualität wichtige und durchaus realistische Therapieziele sein. Mittelfristig ist nicht selten auch eine Reduktion analgetischer Wirkstoffe und entsprechender Nebenwirkungen möglich [4]. Die Wahl der geeigneten Applikationsform Die beiden derzeit verfügbaren Applikationsformen – oral und inhalativ – unterscheiden sich stark in ihrer Pharmakokinetik: Bei oraler Gabe ﬂutet THC langsam an mit einer Wirkdauer von 6–8 h, während die Wirkung bei Inhalation innerhalb von Minuten spürbar wird, aber nach 1–2 h wieder abgeklungen ist. Cannabisblüten werden ganz überwiegend inhalativ durch Verdampfen mit einem Vaporisator angewendet, da Hitzeeinwirkung nötig ist, um die in den Blüten vorliegenden, pharmakologisch inaktiven Vorstufen in THC und CBD umzuwandeln. Eine inhalative Applikation bietet z. B. bei unzureichender Wirksamkeit und/oder Verträglichkeit der oralen Anwendung eine Option, außerdem bei gewünschtem schnellen Wirkeintritt, u. a. bei Patienten mit Tourette-Syndrom/Tics oder Schmerzspitzen, wenn bei remittierenden Beschwerden keine Cannabinoid-Dauertherapie erforderlich ist oder bei positiver therapeutischer Vorerfahrung des Patienten [5]. Die Kombination oraler und inhalativer Wirkstoffe ist möglich und in Einzelfällen wünschenswert (z. B. bei verbleibenden Schmerzspitzen oder nächtlichen MS-Spastiken trotz ansonsten erfolgreicher oraler Therapie). „Start low, go slow“ Die insgesamt gute Verträglichkeit von Cannabinoiden wird durch die grundsätzlich empfohlene einschleichende Dosierung wesentlich unterstützt (Abb. 1) [1, 6]. Oft sind bereits niedrige Dosen für einen klinisch relevanten Effekt ausreichend. Allerdings unterscheiden sich die THC-Zieldosierungen erheblich zwischen oraler und inhalativer Applikation [6]. Abb. 1 Exemplarisches Aufdosierungsschema für Dronabinol-Tropfen (NRF 22.8.) und Cannabisblüten (z. B. entsprechend NRF 22.12. oder NRF 22.13.) (modifiziert nach [6]) Springer Medizin Verlag GmbH × Therapeutische orale Dosierungen von Dronabinol liegen oft bei 5–20 mg pro Tag. In Einzelfällen sind weit höhere Dosierungen möglich. Bei Cannabisblüten liegt die Zieldosis im Allgemeinen bei 0,5–1,5 g pro Tag (patientenindividuell nach Wirksamkeit und Verträglichkeit). Je nach Anwendungsgebiet können auch höhere oder niedrigere Dosen nötig sein. Anfangs wird bei Cannabis-naiven Patienten eine Inhalation am Abend auf Basis von 50-100 mg Blüten empfohlen. Die Tageszeit der Inhalationen ist stark vom Beschwerdebild des Patienten abhängig [6]. Übernimmt die GKV die Kosten? Cannabisblüten, Cannabisextrakte, der Rezepturwirkstoff Dronabinol und die Fertigarzneimittel Nabilon und Nabiximols können nach den Vorgaben des § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch (SGB) V unter bestimmten Voraussetzungen zu Lasten der GKV verordnet werden [7]. Drei Voraussetzungen müssen für die Verordnungsfähigkeit erfüllt sein: es liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor (nach SGB V), die bisherigen und aktuellen medikamentösen und nicht medikamentösen Maßnahmen sind ausgeschöpft und es besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Anders als THC (Dronabinol) oder Cannabisblüten (unabhängig von ihrem THC- und CBD-Gehalt) ist reines CBD als Rezepturwirkstoff zur oralen Applikation nicht im „Cannabisgesetz“ [7] genannt. Eine GKV-Kostenübernahme ist im Einzelfall auf Antrag als freiwillige Kassenleistung möglich. Übernimmt die GKV die Kosten für eine Therapie mit Cannabisblüten, werden in der Regel auch die Kosten für den Vaporisator übernommen. Kasuistik*: Dronabinol besserte Lebensqualität, refraktären Schmerz und Spastik Bei der 63-jährigen Patientin besteht ein chronisches Pseudoradikulärsyndrom bei Bandscheibenschäden und degenerativen Veränderungen. Wegen einer Multiplen Sklerose ist die Patientin seit 2010 rollstuhlpflichtig. Beidseits bestehen Arthrosen von Hüften und Knien. Außerdem sind rezidivierende Depressionen bekannt. Die Patientin berichtet von täglich auftretenden ziehenden Rückenschmerzen (Werten von 7–8/10 auf der Numeric Rating Scale, NRS), die mit Missempfindungen und Streckspastiken in den Beinen sowie schmerzbedingten Schlafstörungen einhergingen. Es wurde die Diagnose eines chronifizierten Schmerzsyndroms im Stadium III nach Gerbershagen mit ausgeprägter schmerzbedingter Beeinträchtigung (Schmerzgraduierung nach von Korff Grad 4) gestellt. Der multimodale Therapieansatz unter Berücksichtigung des biopsychosozialen Krankheitsmodells blieb ohne Erfolg. Auch eine stationäre multimodale schmerztherapeutische Behandlung konnte kein zufriedenstellendes Therapieregime etablieren. Opioide führten nicht zu einer ausreichenden Schmerzreduktion, jedoch zu Nebenwirkungen wie Harnverhalt, Obstipation und Übelkeit. Mit einer oralen THC/CBD-Kombination sowie mit CBD-Öl wurde ebenfalls keine ausreichende Schmerzreduktion erzielt. Die unzureichende Schmerzlinderung führte bei der Patientin zu Hoffnungslosigkeit und schwerer depressiver Verstimmung. Vor diesem Hintergrund wurde eine Behandlung mit Dronabinol begonnen. Vorrangige Therapieziele waren Schmerzlinderung und eine verbesserte Beweglichkeit, die eine weitgehend selbstständige Verrichtung von Alltagstätigkeiten ermöglicht. Zusätzlich erhoffte sich die Patientin eine Verbesserung von Schlaf und Stimmung. Es erfolgte eine einschleichende Dosierung mit öligen Dronabinol-Tropfen 25 mg/ml (NRF 22.8.) mit täglicher Dosissteigerung bis zum gewünschten Effekt (Abb. 1). Nach neun Tagen wurde mit 10–0–10 Tropfen (=14 mg) eine zufriedenstellende Schmerzlinderung erzielt (maximaler NRS-Wert 6/10, durchschnittlich 4/10). Zu Beginn trat vermehrte Tagesmüdigkeit auf, die sich nach drei Wochen normalisierte. Die bestehende Medikation mit Oxycodon/Naloxon konnte im Verlauf reduziert werden. Weiterhin erhielt die Patientin physiotherapeutische Dehnübungen zur Vermeidung von Muskelverkürzungen. Die Patientin berichtete von längeren schmerzarmen Phasen und konnte das erste Mal seit langem einen Urlaub antreten. Der Nachtschlaf und die Stimmung verbesserten sich. Außerdem nahm die Beweglichkeit zu, sodass aktive Bewegungsübungen intensiver ausgeübt werden können. Auch die depressiven Stimmungsschwankungen nahmen ab. *Es handelt sich um ein reales Fallbeispiel aus der Praxis eines in Deutschland niedergelassener Schmerztherapeuten. Literatur Horlemann J et al., DGS-PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerzmedizin v1.0“, www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis (letzter Zugriff: 18.08.2020) Naftali T, Dor M, Rambam Maimonides Med J 2020, 11: e0008 Khan R et al., J Cannabis Res 2020, 2:doi: 10.1186/s42238–019–0012-y S1-Leitlinie „Pharmakologisch nicht interventionelle Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen“, AWMF-Registernummer: 030/114 Seibolt M, „Therapeutischer Nutzen von Cannabinoiden: Was wir aus der realen Versorgung wissen“, virtuelles Satellitensymposium anlässlich des Deutschen Schmerz- und Palliativtags, 24. Juli 2020, Vortrag Broschüre „Verordnung von medizinischen Cannabinoiden“, Spectrum Therapeutics, Stand: Juni 2020 Bundesgesundheitsblatt Nr. 11, 9. März 2017 Impressum „Patientenindividuelle Cannabistherapie: Kriterien für die Wahl des passenden Cannabiswirkstoffs“ Literatur und Kasuistik Berichterstattung: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Artikel gedruckt in: Der Schmerz, Band 34, Heft 6, Dezember 2020; sowie in: DGNeurologie, Band 4, Heft 1, Januar 2021 Mit freundlicher Unterstützung der Spectrum Therapeutics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Andrea Krahnert Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Patientenindividuelle Cannabistherapie - Kriterien für die Wahl des passenden Cannabiswirkstoffs

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