Chronischer Schmerz: Digitalisierung hält Einzug

Neue Säule in der Therapie chronischer Erkrankungen: Mit den digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) erhält die medizinische Versorgung ein neues Werkzeug an die Hand, um Gesundheitszustand und Lebensqualität bei unterschiedlichsten Erkrankungen zu verbessern. Chronische Schmerzen sind ein in seiner Prävalenz oft unterschätztes Gesundheitsproblem. Für Deutschland gehen Experten davon aus, dass 17 Prozent der Bevölkerung unter chronischen Schmerzen unterschiedlicher Art und Intensität leiden [1]. Mindestens 80 Prozent der Deutschen klagen zumindest einmal im Leben über Rückenschmerz. Indirekte Gesundheitskosten durch Arbeitsausfälle/Frühberentung werden allein für Kopf- und Rückenschmerz auf 18 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt [1]. Zu den Herausforderungen in der Schmerzversorgung zählt zum einen, zu verhindern, dass akute Beschwerden chronifizieren. Zum anderen gilt es, bei chronischen oder wiederkehrenden Schmerzen dem Entstehen einer eigenständigen, chronischen Schmerzerkrankung entgegenzuwirken, der schwersten Verlaufsform von chronischem Schmerz. Dem Übergang vom chronischen Schmerz in eine eigenständige Schmerzerkrankung liegen neurobiologische verankerte Lernvorgänge zugrunde, die noch unvollständig verstanden sind. Für Deutschland wird von rund einer Million Betroffenen mit eigenständiger chronischer Schmerzerkrankung ausgegangen [1]. Ziele einer modernen Schmerztherapie An moderne, evidenzbasierte Schmerztherapien knüpfen sich mehrere Ziele, darunter die Verringerung der Symptome, Verbesserung der individuellen Lebensqualität und Verhinderung der Chronifizierung bzw. bei chronischen Schmerzen der Verschlechterung und Verselbstständigung der Erkrankung. Erschwert werden diese Therapieziele dadurch, dass – je nach Grunderkrankung und Art der Therapie – die Versorgungslage zunehmend schwierig ist. Bei chronischen Schmerzen können Psycho-/Verhaltenstherapien effektiv sein, die häufig Wartezeiten von Monaten oder mehr als einem Jahr haben. Leitlinien geben einen Überblick über die Therapie bei chronischen Schmerzen. Rund 70 Prozent aller Betroffenen mit chronischen Schmerzen werden in Deutschland hausärztlich behandelt, bei weiteren 27 Prozent sind Orthopäden primäre Ansprechpartner [1]. Entsprechend haben hausärztliche Leitlinien für die Versorgung eine überragende Bedeutung. In Deutschland steht mit der S1-Leitlinie „Chronischer Schmerz“ eine hausärztliche Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) zur Verfügung [2]. 18 Milliarden Euro indirekte Gesundheitskosten pro Jahr durch Arbeitsausfälle/Frühberentung werden allein für Kopf- und Rückenschmerz geschätzt [1]. Die Säulen der Schmerzversorgung Diese Leitlinie nennt vier Therapiegrundpfeiler. Wichtiger Bestandteil ist die Aufklärung über die Erkrankung und über mögliche Therapien sowie über aktive Bewältigungsstrategien. Auch psychosoziale Faktoren sollten im Aufklärungsgespräch adressiert werden. Und: Die Betreuung sollte nicht punktuell erfolgen, sondern im Rahmen einer strukturierten Patientenführung mit regelmäßiger Wiedervorstellung und Evaluation, um einen Überblick über den Verlauf der Beschwerden zu bekommen. Seitens der medikamentösen Therapie wird auf das WHO-Stufenschema verwiesen, das einfache Analgetika wie NSAR, schwach wirksame und dann stark wirksame Opioide umfasst, ergänzt ggf. durch Komedikation mit Antidepressiva, Lidocain-/Capsaicin-Pflaster, lang wirksamen Opioiden und, bei neuropathischer Schmerzkomponente, Antikonvulsiva. Auf nicht-medikamentöser Seite umfasst das Empfehlungsspektrum aktivierende Maßnahmen, physikalische Therapie, Stressbewältigung und psychotherapeutische Verfahren, hier vor allem die Verhaltens- und Traumatherapie. Neue Therapiesäule DiGA Neben der aktuellen, leitlinienbasierten Therapie steht mit den DiGA, die im Gefolge des Ende 2019 in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) in Deutschland eingeführt wurden, eine weitere Therapieoption zur Verfügung, die bei Schmerzpatientinnen und -patienten in bestimmten therapeutischen Kontexten hilfreich sein kann. DiGA sind digitale medizinische Anwendungen, in der Regel Apps oder Online-Tools, die als Medizinprodukte der Klasse I oder IIa zertifiziert sein müssen. Sie werden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen, wenn sie nachweisen können, dass sie positive Versorgungseffekte generieren, definiert als Nachweis eines medizinischen Nutzens oder einer Verfahrens- oder Strukturverbesserung [3]. Bei BfArM-Zulassung werden die entsprechenden Anwendungen im DiGA-Verzeichnis [4] gelistet. Unterschieden wird die dauerhafte Listung, wenn der Nachweis positiver Versorgungseffekte bereits vor Einreichung der Unterlagen für die BfArM-Zertifizierung erfolgt, und die temporäre Listung (Fast-Track), wenn eine klinische Studie läuft, die auf den Nachweis entsprechender positiver Versorgungseffekte zielt [5]. Das DiGA-Verzeichnis enthält – Stand 10. November 2022 – bisher 38 DiGA. Ab dem Moment der Listung im DiGA-Verzeichnis kann die entsprechende DiGA von Arzt oder Ärztin „auf Rezept“, auf Muster 16 (s. Abb.), verordnet werden. Das heißt, sie ist im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung erstattungsfähig [5, 6]. Muster 16. DiGA-Verordnungen sind als „Gebühr frei“ zu kennzeichnen (1). Im BVG-Feld (2) steht eine „6“, wenn nach Bundesversorgungs- oder -entschädigungsgesetz Anspruch auf die Verordnung besteht. Im Verordnungsfeld (3) darf maximal eine DiGA verordnet werden. Anzugeben sind „Digitale Gesundheitsanwendung“, die PZN und der Name der jeweiligen DiGA [7]. Pfizer Deutschland GmbH × DiGA-Einsatz beim chronischen Schmerz Der chronische Schmerz hält für verhaltenstherapeutisch hinterlegte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) interessante Einsatzszenarien parat. So können DiGA eine komorbide Depression therapieren oder die Wartezeit bis zu einer Präsenz-Therapie überbrücken helfen. Klar ist, dass DiGA nur dann eingesetzt werden sollten, wenn sie die höchsten Anforderungen erfüllen. Niedergelegt sind die Anforderungen für die Zulassung im DiGA-Leitfaden des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) [5], der auch im Detail auflistet, welche Arten von Evidenz nötig sind, wenn eine eingereichte DiGA die Hürde zur GKV-Erstattung nehmen will. Daneben gibt es mittlerweile mehrere Fachgesellschaften, die sich zum Thema DiGA in den jeweils repräsentierten Teildisziplinen geäußert haben. Engagiert haben sich unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie haben Qualitätskriterien beschrieben [8], die von DiGA zu fordern sind. So muss das Einsatzszenario genau definiert sein. Die genutzte psychotherapeutische Methode muss klar genannt und die digitale Behandlung gut dokumentiert werden. Die Anwendung muss unter Beteiligung von approbierten psychologischen Psychotherapeuten oder Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie beziehungsweise psychosomatische Medizin sowie von Patientinnen und Patienten entwickelt worden sein. Es müssen Daten aus mindestens einer publizierten randomisiert-kontrollierten Studie vorliegen. Außerdem sind Anforderungen an Sicherheit und Datenschutz zu erfüllen sowie die Kosten transparent zu machen. Im Bereich chronischer Schmerz öffnen sich nicht zuletzt bei psychiatrischen Komorbiditäten Einsatzoptionen für DiGA im Versorgungsalltag. Das ist auch „leitlinienfest“: Die gerade aktualisierte Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression gibt internet- und mobilbasierten Interventionen mit entsprechendem Evidenznachweis eine Soll-Empfehlung als Teil eines therapeutischen Gesamtkonzepts [9]. Verwiesen wird insbesondere auf die Niedrigschwelligkeit dieser Angebote und auf die Möglichkeit, Stepped-Care-Ansätze zu realisieren beziehungsweise Wartezeiten auf Vor-Ort-Psychotherapien zu überbrücken. Wichtig sei dabei, dass diese Tools grundsätzlich ärztlich beziehungsweise psychotherapeutisch verordnet würden und dass es ein regelmäßiges Monitoring von Adhärenz und Wirksamkeit gebe. DiGA im Alltag: Wie geht das? Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind eine neue Säule der ambulanten Versorgung und können, wie Medikamente, auf Muster 16 verordnet werden. Worauf ist dabei zu achten? Für Ärztinnen und Ärzte ist das DiGA-Verzeichnis [4] des BfArM die zentrale Informationsquelle: Alle Apps, die im GKV-Kontext „auf Rezept“ verordnet werden können, befinden sich in dieser Liste. Neuropsychiatrische Indikationen sind stark vertreten, bspw. verhaltenstherapeutische Apps für Indikation wie Angst und Depression. Aber auch Krebserkrankungen, Adipositas, Arthrose, Multiple Sklerose oder Migräne sind „DiGA-Indikationen“. Die Verordnung einer DiGA ist für alle ab 18 Jahren möglich und ähnelt der Arzneimittelverordnung. Sie erfolgt in der Regel über das Muster 16 Formular. Jede DiGA besitzt eine Pharmazentralnummer (PZN), die im DiGA-Verzeichnis nachlesbar ist. Ein ICD-Code ist nicht nötig, auch die Verordnungsdauer muss nicht angegeben werden. Beides ist in der PZN enthalten. [7]. Künftig werden die DiGA-PZN wie Arzneimittel in der Praxis-IT hinterlegt, was eine direkte Verordnung aus der Praxis-IT ermöglicht. Bei einigen Systemen ist das bereits umgesetzt. Das DiGA-Verzeichnis des BfArM ist die zentrale Informationsquelle für alle Ärztinnen und Ärzte [4]. Für die Verordnung einer dauerhaft gelisteten DiGA können Praxen derzeit noch die Gebührenordnungsposition (GOP) 01470 abrechnen (18 Punkte/2 Euro). Sie kann auch abgerechnet werden, wenn die Verordnung im Kontext einer Videosprechstunde erfolgt. Diese GOP ist extrabudgetär, sie läuft allerdings zum Jahresende 2022 aus, da sie die Besonderheiten der ärztlichen Verordnung in der Einführungsphase abbilden sollte [6]. Literatur Karst M, Anästh Intensivmed 2014, 55:190–197 DEGAM. Leitlinie Chronischer Schmerz; AWMF-Register-Nr. 053/036 Techniker Krankenkasse. DiGA-Report 2022. https://www.tk.de/resource/blob/2125136/dd3d3dbafcfaef0984dcf8576b1d7713/tk-diga-report-2022-data.pdf; letzter Zugriff 10.11.2022 BfArM. DiGA-Verzeichnis. https://diga.bfarm.de/de; letzter Zugriff 10.11.2022 BfArM. DiGA-Leitfaden; Stand 18.3.2022. https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/diga_leitfaden.html; letzter Zugriff 10.11.2022 KBV Praxisnachrichten 25.3.2022; https://www.kbv.de/html/1150_51239.php; letzter Zugriff 10.11.2022 https://www.pfizerpro.de/news/tipps-zur-diga-verordnung-so-erfolgt-die-verschreibung-und-verguetung-von-digitalen; letzter Zugriff 10.11.2022 Klein JP et al., Der Nervenarzt 2018, 89:1277–1286 BÄK, KBV, AWMF. Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. Version 3.0. AWMF-Register-Nr. nvl-005 Impressum „Chronischer Schmerz: Digitalisierung hält Einzug“ Literaturarbeit Bericht: Philipp Grätzel von Grätz, Berlin Artikel gedruckt in: Ärzte Zeitung Nr. 72, 15. Dezember 2022 Mit freundlicher Unterstützung der Pfizer Pharma GmbH, Berlin Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Teresa Windelen Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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