Längeres Überleben bei Erhalt der Lebensqualität

Die Optionen zur Therapie von Menschen mit neu diagnostiziertem Gliom WHO-Grad 4, einer Erkrankung mit infauster Prognose, sind limitiert. In der Zweitlinie existieren noch weniger Behandlungsmöglichkeiten. Tumor Treating Fields (TTFields) sind eine lokale, nicht-invasive und nicht-medikamentöse Therapie, die das Überleben Betroffener zusammen mit Temozolomid in einer großen klinischen Studie deutlich verlängern konnte#. Dass die TTFields-Therapie über den ersten Progress hinaus ein wichtiger Bestandteil der Gliomtherapie ist und Betroffenen ein langes Überleben bei guter Lebensqualität ermöglichen kann, zeigt das vorliegende Fallbeispiel von Dr. Petra Mundmann, Fachärztin für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, MVZ Hämatologie und Onkologie, Bluttransfusionswesen, Allgemeinmedizin (Tumorschwerpunkt), Klinikum Osnabrück. Der 54-jährige Patient stellte sich mit seit Wochen intermittierend auftretenden Wortfindungsstörungen vor. Klinisch-anamnestisch zeigte sich der Patient affektarm. Zunächst bestand der Verdacht auf eine zerebrale Ischämie. Die folgende magnetresonanztomographische (MRT) Untersuchung demarkierte eine randständige Kontrastmittelaufnahme und ein deutliches perifokales Ödem sowie eine Mittellinienverlagerung und Kompression des linken Seitenventrikels. Auch der rechte Seitenventrikel zeigte sich erweitert, sodass ein Glioblastom links frontal vermutet wurde. Leitliniengerechte Therapie Daraufhin erfolgte am 1.6.2018 eine mikrochirurgische, navigations- und fluoreszenzgestützte Tumorresektion links frontal unter Wachbedingungen und neurophysiologischem Monitoring (spracheloquentes Kortexareal). Die histologische Untersuchung des Tumors erbrachte ein IDH (Isocitrat-Dehydrogenase)-mutiertes Glioblastom (WHO [World Health Organization]-Grad IV), das bei molekularpathologischem Nachweis einer IDH1 (R132G)-Mutation als sekundäres Glioblastom eingeordnet wurde. Molekulargenetisch zeigten sich der Promoter des MGMT [O-6-Methylguanin-DNA-Methyltransferase]-Gens methyliert, keine Ko-Deletion von 1p und 19q, CDKN2A/B-Deletion positiv, eine p53-Akkumulation sowie eine erhaltene ATRX Expression. Nach aktueller WHO-Klassifikation CNS5 (2021) entspricht dies einem Astrozytom WHO CNS Grad 4 [1]. 06/18–08/18 wurde eine kombinierte Radio-Chemotherapie mit 60 Gy und Temozolomid 75 mg/m2 täglich verabreicht. Darunter entwickelte der Patient eine Fatiguesymptomatik Grad II, erfuhr jedoch keine weiteren strahlentherapieassoziierten Nebenwirkungen. Bis 02/19 wurde der Patient mit 6 Zyklen Temozolomid (200 mg/m2 an Tag 1–5 mit Wiederholung an Tag 29) weiterbehandelt. Gleichzeitig wandte er die TTFields-Therapie an (Abb. 1). Abb. 1 Therapieverlauf und TTFields-Anwendungsdauer Springer Medizin Verlag GmbH × Somit erhielt der Patient die derzeit in den Onkopedia-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN) empfohlene Therapie für IDH-mutierte Astrozytome WHO-Grad 4 analog zum Glioblastom: die größtmögliche, funktionell nicht einschränkende Resektion des Tumors, gefolgt von einer lokalen Bestrahlung in Kombination mit einer begleitenden Temozolomid-Chemotherapie sowie eine nachfolgende Temozolomid-Erhaltungstherapie +/- TTFields [1, 2]. Therapiesäule TTFields Die Behandlung mit TTFields ist eine weitere, in den Leitlinien für neu diagnostizierte Glioblastome WHO-Grad 4 empfohlene Therapie [1, 2]. TTFields sind nach Operation, Strahlentherapie und/oder Chemotherapie für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit erstmalig diagnostiziertem WHO-Grad-4-Gliom indiziert, die eine Temozolomid-Erhaltungstherapie mit oder ohne Lomustin bekommen [1, 2]. Der Einsatz erfolgt kontinuierlich, die Therapie sollte über mindestens 18 Stunden täglich angewendet werden. Dementsprechend war die TTFields-Therapie bei dem Patienten möglich. Sie wurde 10/18 begonnen und seither kontinuierlich fortgeführt. Die Kosten werden in Deutschland [4], Österreich und der Schweiz bei gegebener Indikation – wie im vorliegenden Fall – von den Krankenkassen erstattet. Weiterbehandlung im Rezidiv bis zum 2. Progress 04/21 trat bei dem Patienten ein Rezidiv auf. Die navigations- und fluoreszenzgestützte mikrochirurgische Tumorresektion unter Wachbedingungen erfolgte am 22.04.2021 (Abb. 1). Histologisch lag ein astrozytärer Tumor vor, der bei Nekrosen und hochpathologisch veränderten Blutgefäßen als Glioblastom eingeordnet wurde. Sichtbar waren zudem Hinweise auf radiogene Veränderungen. Molekulargenetisch konnte eine Methylierung des MGMT-Gen-Promoters nachgewiesen werden. 04/21–06/21 wurde erneut eine kombinierte Radio-Chemotherapie nach Stupp-Schema vorgenommen, seit 07/21 erhielt der Patient eine Temozolomid-Erhaltungstherapie. Diese wurde zusammen mit TTFields bei guter Verträglichkeit über den 6. Zyklus hinaus bis heute (03/23) fortgeführt. Bis zur letzten MRT-Untersuchung (11/22) ergab sich kein Hinweis auf ein Rezidiv. Die TTFields-Therapie kann bis zum zweiten Rezidiv begleitend zur Rezidivtherapie angewendet werden [3]. Bei dem Patienten wurde die TTFields-Therapie somit fortgesetzt, kurz unterbrochen lediglich während der Rezidiv-Operation und der folgenden Bestrahlung mit stationärem Aufenthalt. Der Patient nutzte die TTFields-Therapie im Gesamtdurchschnitt über 71% der Zeit, in einem exemplarischen, mehrmonatigen Zeitraum ohne Therapiepausen (04/19–04/20) sogar über 85% der Zeit (Abb. 1). Um eine optimale Therapie sicherzustellen, wurde die Tumorlokalisation nach dem Progress bei dem Patienten neu bestimmt und die Position der Arrays entsprechend angepasst. Als unerwünschte Ereignisse traten Hautirritationen vor allem im Bereich der Operationsnähte auf. Zur Behandlung wurde erfolgreich eine über den Hautarzt verschriebene Wund- und Heilsalbe, Kortison niedrigdosiert 0,1%, und ein Antihistaminikum angewendet. Evidenzgrundlage TTFields Die TTFields-Therapie wurde auf Basis der Ergebnisse der internationalen, randomisierten Phase-III-Multizenterstudie EF-14 in nationale sowie internationale Leitlinien aufgenommen [1–3, 5]. Die 695 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer mit neu diagnostiziertem Glioblastom# erhielten bis zum ersten Rezidiv entweder eine Erhaltungstherapie mit TTFields plus Temozolomid (n=466) oder Temozolomid allein (n=229). Nach dem ersten Rezidiv wurde nach lokaler Praxis eine Zweitlinientherapie angeboten, TTFields wurde beibehalten [3, 6]. Unter der Therapie mit Temozolomid und TTFields wurde nach einem medianen Follow-up von 40 Monaten eine signifikante Verlängerung des medianen progressionsfreien Überlebens (PFS; primärer Endpunkt; 6,7 versus 4,0 Monate; Hazard Ratio [HR] 0,63; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,52–0,76; p<0,001) und des medianen Gesamtüberlebens (OS) erreicht (20,9 versus 16,0 Monate; HR 0,63; 95%-KI 0,53–0,76; p<0,001) [3]. Auf einen signifikanten Überlebensvorteil einer Behandlung auch nach dem ersten Rezidiv deutete eine post hoc Analyse hin (medianes OS 11,8 versus 9,2 Monate; HR 0,70; 95%-KI 0,48–1,00; p=0,049) [6]. Zudem war das mediane OS bei einer TTFields-Anwendungsdauer ≥18 Stunden/Tag signifikant länger als bei kürzerer Anwendungsdauer (22,6 versus 19,1 Monate; HR 0,65; 95%-KI 0,49–0,85; p=0,009) [3]. Eine post hoc Analyse weist auf einen Überlebensvorteil bereits ab einer Anwendung von 50% der Zeit hin (HR 0,67; 95%-KI 0,45-0,99) [7]. Die Anwendung von TTFields zusätzlich zu Temozolomid wurde gut vertragen und führte zu keiner Zunahme von systemischen Nebenwirkungen im Vergleich zur alleinigen Temozolomid-Therapie. Hautreaktionen auf der Kopfhaut unter den Arrays waren das häufigste unerwünschte Ereignis (52% mild/moderat, 2% schwer) [3]. Beurteilung und Fazit für die Praxis Der geschilderte Fall untermauert, dass die Therapie mit TTFields Menschen mit neu diagnostiziertem Gliom WHO-Grad 4 ein längeres Überleben ermöglichen kann – auch über den ersten Progress hinaus. Bei dem Patienten war die Anwendungsdauer sehr gut, was zum guten Verlauf beigetragen haben könnte. Die lange Anwendungsdauer lässt sich mit darauf zurückführen, dass der Patient TTFields reibungslos in seinen Alltag integrieren kann. Damit ist es ihm möglich, aktiv Einfluss auf den Verlauf seiner Krankheit zu nehmen, was wiederum zu einer hohen Akzeptanz der Therapie und dem Erhalt der Lebensqualität beiträgt. Da der Fall den Kriterien des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Verordnungsfähigkeit entspricht, werden die Kosten erstattet. # Die EF-14-Studie, die zur Zulassung von Optune® (TTFields) beim neu diagnostizierten Glioblastom führte, untersuchte Patientinnen und Patienten mit histologisch bestätigtem Glioblastom, sowohl mit IDH-Mutation(en) als auch IDH-Wildtyp, nach der WHO-Klassifikation 2016. Dies entspricht einem Gliom des WHO-Grades 4 der WHO-Klassifikation 2021. TTFields in der Gliomtherapie In Europa sind TTFields unter dem Handelsnamen Optune® zur Therapie des neu diagnostizierten und rezidivierenden WHO-Grad-4-Glioms bei Erwachsenen zugelassen. Bei der nicht-medikamentösen Therapie handelt es sich um ein CE-zertifiziertes Medizinprodukt. TTFields sind elektrische Wechselfelder, die über vier so genannte Arrays (INE Transducer Arrays) abgegeben werden, die mit integrierten, sensiblen Temperatursensoren ausgestattet sind und direkt auf der rasierten Kopfhaut platziert werden. Die exakte und individualisierte Position der Arrays wird anhand von aktuellen magnetresonanztomografischen (MRT) Aufnahmen zu Therapiebeginn und erneut nach Progress berechnet, um die Wirkung der TTFields auf den Tumor zu maximieren. Ansatzpunkt von TTFields ist die schnelle, unkontrollierte Zellteilung von Tumoren. Die antimitotische Therapie der elektrischen Wechselfelder stört u.a. den biologischen Zellteilungsprozess und hemmt so gezielt das Tumorwachstum, ohne gesunde Zellen zu schädigen. In Laboruntersuchungen konnte sogar gezeigt werden, dass Tumorzellen durch die Behandlung absterben können. Ein kleines, tragbares Gerät, das entweder über ein Netzteil oder mit einer wiederaufladbaren Batterie betrieben werden kann, die zwei bis drei Stunden hält, erzeugt die elektrischen Wechselfelder mit niedriger Intensität und intermediärer Frequenz (200 kHz). Erkrankte werden für die Anwendung geschult und können das Gerät als Rucksack oder Tasche tragen, bleiben damit mobil und können die ambulante Therapie in ihren Alltag integrieren. Weitere Informationen bietet die Website www.optune.de. Literatur https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/gliome-im-erwachsenenalter/ Letzter Aufruf: 12.4.2023 Wick W et al., Gliome, S2k-Leitlinie, 2021. www.dgn.org/leitlinien. Letzter Aufruf: 28.4.2023 Stupp R et al., JAMA 2017, 318: 2306–2316 https://www.g-ba.de/beschluesse/4216/. Letzter Aufruf: 28.4.2023 National Comprehensive Cancer Network Clinical Practice Guidelines in Oncology®. Central Nervous System Cancers (Version 1.2023) Kesari S et al., CNS Oncol 2017, 6: 185–193 Toms SA et al., J Neurooncol 2019, 141: 467–473 Impressum „Kasuistik: TTFields-Therapie bei einem Gliom WHO-Grad 4. Längeres Überleben bei Erhalt der Lebensqualität“ Literaturarbeit und Kasuistik Bericht: Dr. Silke Wedekind, Frankfurt a.M. Report gedruckt in „Strahlentherapie und Onkologie“, Band 199, Heft 6, Juni 2023 Mit freundlicher Unterstützung der Novocure GmbH, München Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Teresa Windelen Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: Kasuistik: TTFields-Therapie bei einem Gliom WHO-Grad 4 - Längeres Überleben bei Erhalt der Lebensqualität

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