Schnittstelle 1
In unserem Kollektiv konnten 59,1 % aller beanstandeten Fälle durch Rücksprache mit dem ersten Leichenschauer für unbedenklich erklärt werden und mussten somit nicht an die Ermittlungsbehörden gemeldet werden. Verglichen mit einer aktuellen Studie zur Krematoriumsleichenschau aus Hamburg (43,4 % Unbedenklichkeit [
6]) oder etwa den Ergebnissen von Bajanowski et al. 2010 (9,8 % Unbedenklichkeit [
5]) ist dies ein hoher Anteil an primär zwar beanstandeten, im Ergebnis der Rücksprache jedoch freigegebenen Sterbefällen. Unterschiede in den Anteilen freigegebener und an die Ermittlungsbehörden gemeldeter Fälle können auf die weiter oben erwähnte unterschiedliche Vorgehensweise bei der zweiten Leichenschau zurückzuführen sein. Eine gewisse Subjektivität kann wohl auch bei der Freigabeentscheidung nach Einholung einer Auskunft beim erstleichenschauenden Arzt unterstellt werden [
32]. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Qualität der zweiten Leichenschau variieren kann [
10] und etwaige Qualitätsunterschiede zwischen amtsärztlicher und rechtsmedizinischer Leichenschau bislang nicht systematisch untersucht worden sind. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie ggf. eine Qualitätsangleichung erreicht werden könnte. Regelmäßige Schulungen von Ärzten der Kremationsleichenschau oder konkret und einheitlich definierte Kriterien, die eine Überprüfung der Todesart vor der Kremation implizieren, könnten hier Optimierungsmöglichkeiten darstellen.
In unserer Studie zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bestimmter Fehlerarten bzw. Beanstandungsgründe und der Quote an die Kriminalpolizei gemeldeter Fälle. Auf den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, dass Verstorbene mit Verletzungen in der weit überwiegenden Zahl der Fälle (71,3 %) nach Rücksprache mit dem Arzt der ersten Leichenschau freigegeben wurden. Es handelte sich hier i. d. R. um Fälle, in denen Verletzungen im Leichenschauschein nicht erwähnt bzw. durch die dort gemachten Angaben zunächst nicht einzuordnen waren. In der Praxis ergab sich hier regelmäßig die Situation, dass der Arzt der ersten Leichenschau am Telefon eine konkrete Erklärung für die Verletzung nannte (z. B. ein Bagatelltrauma) und sich aufgrund des klinischen Kontextes kein Hinweis auf einen relevanten Einfluss auf den Todeseintritt ergab
7. Auch bei Verstorbenen mit Zeichen medizinischer Eingriffe ohne hinreichende Erklärung in der Todesbescheinigung war nach Rücksprache mit dem Arzt der ersten Leichenschau in vielen Fällen eine Freigabe möglich (73,7 %). Im Düsseldorfer Einzugsgebiet wurde hier oftmals nachvollziehbar angegeben, dass es sich um einen Notfalleingriff („Ultima Ratio“) bei einem durch ein akutes inneres Krankheitsereignis bereits vital bedrohten Patienten gehandelt hatte. In anderen Fällen wurde geschildert, dass zwar ein Eingriff stattgefunden hatte, dieser aber bei klar vorliegender anderweitiger Todesursache keinen relevanten Einfluss auf den Todeseintritt gehabt hatte
7. Ein korrektes Vorgehen bei aus der Perspektive des ersten Leichenschauers derart klaren Verhältnissen wäre aus unserer Sicht die explizite Benennung der Verletzungsursache bzw. des vorgenommenen Eingriffs in der Todesbescheinigung in Verbindung mit einer Erklärung in der Epikrise, warum diese/dieser nicht relevant zum Todeseintritt beigetragen hat. Auf diese Weise würde die Todesbescheinigung bzw. der Todesfall für nachfolgende Disziplinen wie Amtsärzte, Rechtsmediziner, Kriminalbeamte oder Staatsanwälte nachvollziehbar werden. So ließen sich (insbesondere im Sinne der Hinterbliebenen) nicht nur Verzögerungen von Feuerbestattungen und Auslandsüberführungen vermeiden, sondern auch eine Zeit- und Ressourcenersparnis bei den nachgeschalteten Disziplinen erreichen. Nach eigenen, noch nicht veröffentlichen Daten benötigt der zweite Leichenschauer nur in einem Drittel der Fälle weniger als 5 min für eine erfolgreiche telefonische Kontaktaufnahme zum erstleichenschauenden Arzt. In etwa einem Sechstel der Fälle wird mehr als 15 min telefoniert und im Durchschnitt mit 3 Personen gesprochen, bevor der Arzt der zweiten Leichenschau die relevante Information zum Todesfall erhält [
19]. Dies ist bei einer Beanstandungsquote von 6,5 % und rund 5500 Leichenschauen im Jahr in Düsseldorf ein nichtunerheblicher Arbeitsaufwand.
Verzögerungen von Feuerbestattungen oder Auslandsüberführungen ließen sich oft vermeiden
Eine hohe Freigabequote nach Telefonat mit dem Arzt der ersten Leichenschau zeigte sich auch bei Fällen mit nichtplausibler oder zumindest nichtnachvollziehbarer Todesursachenkaskade (76,1 %). Hierbei handelte es sich häufig um Todesbescheinigungen mit sog. Verlegenheitsdiagnosen, wie „Demenz“ [
20], „Herzstillstand“ oder „Asystolie“, ohne weitere Erläuterung. Bei Nachfrage durch den Arzt der zweiten Leichenschau konnte in vielen Fällen dann doch eine plausible Todesursache mit nachvollziehbarer Kausalkette benannt werden. Unter diese Kategorie fielen auch andere typische Fehler, die die Nachvollziehbarkeit der Todesursachenkaskade erschwerten bzw. unmöglich machten (Tab.
1). Probleme bei der korrekten Wiedergabe der Todesursachenkaskade in der Todesbescheinigung sowie deren erhebliche Auswirkungen auf die Todesursachenstatistik, gesundheitspolitische Entscheidungen und Ressourcen sind bekannt [
8,
17]. Die Verfasser teilen die Ansicht anderer Autoren, dass sich gerade solche fachlich-inhaltlichen Mängel insbesondere durch eine Ausweitung von Fortbildungsmaßnahmen für leichenschauende Ärzte beheben lassen [
12,
14]. Die hohen Fehlerquoten, die auch aus aktuellen einschlägigen Leichenschaustudien bekannt sind, sprechen dafür, dass sich bezüglich des Fortbildungsstandes der Ärzteschaft noch keine wesentliche Veränderung eingestellt hat [
13,
26,
33].
Unterschiedliche Bewertungen ergeben sich vor allem bei Tod durch Unfall‑/Gewaltereignisse
Wenig überraschend konnte auch bei
Formfehlern in aller Regel durch Kontaktaufnahme zum Arzt der ersten Leichenschau eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt werden (93,0 %). Hierbei handelte es sich überwiegend um Mängel wie ein unlesbares Schriftbild oder ein vergessenes Kreuzchen bei Angabe der Todesart, die durch ein sorgfältiges Vorgehen vermeidbar gewesen wären. An dieser Stelle muss auf die fehleranfällige Form der Bescheinigung der Todesart in Nordrhein-Westfalen hingewiesen werden; die regelmäßig dazu führt, dass das Vorhandensein von Hinweisen auf einen nichtnatürlichen Tod zwar negiert, jedoch die Angabe vergessen wird, ob es sich stattdessen um einen natürlichen oder einen ungeklärten Tod handelt [
4].
Schnittstelle 2
Die Obduktionsquote aller von uns durchgeführten Krematoriumsleichenschauen lag bei 0,3 %. Diese ist nur bedingt vergleichbar mit anderen Studien, da Fälle mit Sterbeort außerhalb des Düsseldorfer Einzugsgebietes nicht exkludiert werden konnten (s. Erläuterung im Ergebnisteil). Bei den an die Kriminalpolizei gemeldeten Fällen betrug die Obduktionsquote 12,4 %. Unsere Sektionsquoten waren somit ähnlich niedrig wie in der oben erwähnten aktuellen Untersuchung aus Hamburg (0,3 % bzw. 13 % [
6]). Auch Tröger und Eidam (0,4 %) [
31], Heide et al. (1 %) [
15] sowie Bajanowski et al. (1,2 %) [
5] gaben vergleichbare Obduktionsfrequenzen in Relation zur Gesamtzahl durchgeführter Krematoriumsleichenschauen an. Der Anteil nichtnatürlicher Todesfälle an den Obduktionsfällen betrug in unserer Studie 28,1 % und war damit etwas höher als z. B. bei Tröger und Eidam (19 %) [
31], Heide et al. (21,9 %) [
15] oder Todt (14,2 %) [
30]. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der zweiten Leichenschau als Instrument der Qualitätssicherung.
Statistisch zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bestimmter Beanstandungsgründe und der Anordnung bzw. Nichtanordnung einer Obduktion. Bei Verstorbenen mit vorangegangenem Unfall- oder Gewaltereignis gemäß Todesbescheinigung fanden nur in 5,2 % der gemeldeten Fälle gerichtliche Leichenöffnungen statt. Dies steht in deutlichem Kontrast dazu, dass solche Fälle im ersten Schritt durch die Rechtsmedizin besonders häufig an die Ermittlungsbehörden gemeldet worden waren (Meldequote 77,1 %).
Die Tatsache, dass in unserem Kollektiv kein einziger Fall einer Aspiration obduziert wurde, ist erstaunlich, vor dem Hintergrund der hohen Obduktionsquoten bei anderen Fällen mit Fragestellung eines pflegerischen Fehlverhaltens, namentlich bei Vorliegen eines Dekubitus am Leichnam (25,5 %).
Für die Ermittlungsbehörden haben Fälle mit medizinischem Hintergrund Relevanz
Eine naheliegende Erklärung für die Diskrepanz zwischen rechtsmedizinischer und ermittlungsbehördlicher Einschätzung ist die unterschiedliche Schwerpunktsetzung der verschiedenen Berufsdisziplinen, die mitunter auch in der kriminalistischen Literatur thematisiert wird [
16]. Der hierfür sensibilisierte Rechtsmediziner erachtet den nichtnatürlichen Tod als ein von außen angestoßenes Ereignis, wobei auch Hinweise auf Unfälle, Selbsttötungen oder Berufserkrankungen einschlägig sind. Im Gegensatz dazu ist die Arbeit der Ermittlungsbehörden vorwiegend auf die Feststellung eines Fremdverschuldens ausgerichtet [
22]. Derart unterschiedliche Sicht- bzw. Vorgehensweisen können zu Konflikten zwischen den beteiligten Disziplinen führen. Typisches Beispiel wäre ein Sturzereignis, das sich in häuslicher Umgebung ohne Hinweise auf ein Fremdverschulden bei einem sturzgefährdeten älteren Menschen ereignet hat. Die genauen Sturzumstände können oft erst im Rahmen der Ermittlungsarbeit aufgeklärt werden, sodass die Anregung eines Todesermittlungsverfahrens aus rechtsmedizinischer Perspektive unerlässlich erscheint. Auf der anderen Seite sind die Obduktionsquoten insgesamt gering (bei uns, wie oben aufgeführt, nur 12,4 % aller gemeldeten Fälle), und bei Ärzten der Krematoriumsleichenschau kommt es hin und wieder zu Unverständnis, wie bestimmte Sachverhalte überhaupt ohne Obduktion zu klären sein konnten. Um solchen interdisziplinären Konflikten vorzubeugen, wären einheitliche gesetzliche Definitionen der Todesarten erstrebenswert – wenngleich dies vor dem Hintergrund einer bereits seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland in der Hand der Länder liegenden Gesetzgebung im Bestattungswesen schwer umsetzbar erscheint [
9]. Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch, dass die bestehenden landesrechtlichen Definitionen nicht von allen beteiligten Berufsdisziplinen gleichermaßen anerkannt werden. Das nordrhein-westfälische Bestattungsgesetz geht von einem nichtnatürlichen Tod aus, wenn „
Anhaltspunkte für einen Tod durch Selbsttötung, Unfall oder Einwirkung Dritter“ vorliegen oder „
sonstige Umstände“ darauf hindeuten [
2], ohne dass dies in der Praxis jederzeit konsequent anerkannt wird. Zu diskutieren ist an dieser Stelle, ob eine bundeseinheitliche Definition der Todesarten insgesamt eine höhere Akzeptanz fände. Weiter könnten konkret definierte Regeln zur polizeilichen Meldung von Sterbefällen bei der zweiten Leichenschau förderlich sein. In der Literatur wird zur Erhöhung der Obduktionsquoten zudem ein Indikationskatalog für Obduktionen diskutiert, wie es ihn etwa in Großbritannien gibt. Es handelt sich dabei um einen Katalog von Fällen, die dem Coroner zu melden sind, z. B. bei ärztlicher Behandlung innerhalb der letzten 14 Tage vor dem Tod [
24]. Als weiteres Beispiel wird in der Literatur die „
Anordnung über die ärztliche Leichenschau“ der DDR angeführt, die vorschrieb, in welchen Fällen eine Leichenöffnung vorzunehmen sei, etwa bei „
Verstorbenen, die bei Eintritt des Todes das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet“ hatten [
25]. Zweifellos wäre ein solches System aus rechtsmedizinischer Perspektive wünschenswert, diesbezügliche Personal- und Finanzierungsfragen bleiben aber offen.
Tröger und Eidam stellten bereits im Jahr 2000 einen hohen Anteil an Obduktionen mit der Fragestellung nach ärztlichen oder pflegerischen Fehlern (22,6 % bzw. 40,9 %) nach angehaltenen Kremationen fest [
31]. Germerott et al. beschrieben 2012 ebenfalls einen hohen Anteil solcher Fragestellungen in ihrem Obduktionsgut (57,9 %) [
12]. Fasst man die einschlägigen Fälle aus unserer Studie zusammen, so fanden 54,7 % aller Obduktionen nach angehaltener Kremation im Kontext des Verdachtes eines Pflege- oder Behandlungsfehlers statt. Die Obduktionsquoten solcher Fälle in Relation zu den gemeldeten Fällen waren gleichermaßen hoch. Offenbar sind Sterbefälle mit medizinischem Hintergrund von besonders hoher Relevanz für die Ermittlungsbehörden. Dies passt zu der Beobachtung, dass Fälle mit medizinischem Hintergrund sich auch im allgemeinen Obduktionsgut häufen, was Klusen und Püschel zu Recht mit einem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein für Fehler in der Medizin erklären [
18].