NFL-Anstieg kündigt MS-Progression schon ein Jahr im Voraus an

Kommt es bei MS-Kranken zu einer Behinderungsprogression, lässt sich dies ein bis zwei Jahre zuvor anhand steigender NFL-Werte feststellen. Dies gilt sowohl für die schubabhängige als auch die schubunabhängige Progression. Daraus ergeben sich neue Chancen zur Prävention. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Der Biomarker Leichtkettenneurofilament (NFL) etabliert sich zunehmend als Sensor für die Krankheitsaktivität bei MS: Steigt der Wert, gehen Axone zugrunde. Bei relativ jungen Menschen mit MS ist das ein sicheres Zeichen, dass die Neurodegeneration durch ein Aufflammen der Erkrankung bedingt ist. Eine hochwirksame krankheitsmodifizierende Therapie (DMT) wiederum senkt die NFL-Werte besonders deutlich – der Rückgang korreliert dabei gut mit einer gebremsten oder gestoppten Krankheitsprogression. Doch offenbar lässt sich aus dem NFL-Wert noch mehr ablesen: Steigt die NFL-Konzentration bei bislang stabilen MS-Kranken, ist die Gefahr einer Krankheitsprogression in den folgenden Jahren deutlich erhöht. Dann würde es sich mitunter lohnen, die MS-Therapie zu intensivieren – bevor ein größerer Schaden entstanden ist. Möglicherweise lässt sich die Behinderungsprogression auf diese Weise sogar verhindern. Knapp 13.000 Blutproben analysiert Dass ein NFL-Anstieg der Behinderungsprogression ein bis zwei Jahre vorausgeht, haben jetzt Neurologinnen und Neurologen um Dr. Ahmed Abdelhak vom Weill Institute for Neurosciences an der Universität San Francisco sowie ein Team um Professor Jens Kuhle vom MS-Zentrum der Universität Basel entdeckt. Dazu haben sie Blutproben von MS-Kranken aus zwei großen MS-Kohorten analysiert – zum einen der EPIC-Studie (Expression, Proteomics, Imaging, Clinical) aus den USA sowie der Schweizer MS-Kohorte (Swiss Multiple Sclerosis Cohort, SMSC). In beiden Kohorten spenden die Teilnehmenden in der Regel jährlich etwas Blut für Biomarkeranalysen – so steuerten 609 MS-Kranke aus EPIC und 1290 aus SMSC Proben für insgesamt 12.800 NFL-Messungen bei. Bei der Aufnahme in die jeweiligen Kohorten waren die MS-Kranken im Mittel 42 Jahre alt, seit sieben Jahren erkrankt und hatten einen EDSS-Wert von 2,0. In EPIC erhielten die meisten Beteiligten ältere MS-Basistherapeutika, in SMSC über die Hälfte Antikörper oder orale DMT, etwa ein Drittel in beiden Kohorten war unbehandelt. Im Laufe der mittleren Nachbeobachtungsdauer von zehn Jahren (EPIC) und sieben Jahren (SMSC) entwickelten rund 7% eine schubabhängige Behinderungsprogression – hier hatte sich der EDSS-Wert zwischen zwei Untersuchungen mit einem MS-Schub dazwischen verschlechtert. Deutlich mehr – etwa ein Viertel – waren von einer schubunabhängigen MS-Progression betroffen. Bei ihnen wurde zwischen zwei Visiten eine EDSS-Zunahme beobachtet, ohne dass die Betroffenen einen MS-Schub bemerkt hatten. Schauten sich die Forschenden die BMI- und alterskorrigierten NFL-Werte in der EPIC-Kohorte für MS-Kranke mit schubabhängiger Progression an, so begann rund 25 Monate vor der Behinderungsprogression ein Anstieg, der etwa ein Jahr davor sein Maximum bei 1,2 Standardabweichungen (SD) erreichte und 0,71 SD über dem Wert der MS-Kranken mit stabiler MS lag, dann jedoch wieder etwas zurückging. In der Schweizer Kohorte stiegen die NFL-Werte hingegen recht linear ab Monat 20 vor der Progressionserfassung an und lagen zum Zeitpunkt der Progression bei rund 1 SD und damit 0,53 SD über den Werten von MS-Kranken mit stabiler MS. Die Unterschiede beim Verlauf lassen sich dadurch erklären, dass in der Schweizer Kohorte der Schub näher am Zeitpunkt der festgestellten EDSS-Progression lag, in der US-Kohorte eher dazwischen – vermutlich beim NFL-Maximum. NFL-Werte korrelieren mit Progressionsrisiko Bezogen auf die schubunabhängige EDSS-Verschlechterung, ergab sich eine andere Dynamik: Dabei wurden in beiden Kohorten im zweiten und ersten Jahr vor der Progression erhöhte NFL-Werte festgestellt (absolut 0,5–0,7 SD, relativ 0,3 SD über den Werten stabiler MS-Kranker), bei der Diagnose der EDSS-Progression hingegen nicht mehr. Bei etwa 40% der Personen mit schubunabhängiger Progression waren ein und zwei Jahre zuvor auch neue oder sich vergrößernde MRT-Läsionen detektiert worden. Die Höhe der NFL-Werte korrelierte zudem mit dem Progressionsrisiko: Bei einer Abweichung von absolut 1 SD war in der Schweizer Kohorte die Rate einer schubbedingten EDSS-Progression ein Jahr später um 70% und in EPIC um 90% erhöht, das Risiko einer schubunabhängigen Progression jeweils um 49% und 40%. Die Forschenden um Abdelhak und Kuhle sehen NFL daher als frühen Biomarker, der auf ein erhöhtes Risiko einer Behinderungsprogression weist. NFL-Messungen zum Zeitpunkt einer bestätigten EDSS-Progression seien vielleicht nicht mehr sehr aussagekräftig, weil die Prozesse, die sich dann klinisch bemerkbar machen, schon längere Zeit abgeschlossen sein könnten. Sie vermuten das beste therapeutische Fenster zur Verhinderung einer EDSS-Progression ein bis zwei Jahre zuvor, wenn die pathologischen Prozesse noch aktiv sind und sich über erhöhte NFL-Werte bemerkbar machen. Dass eine intensivierte Therapie dann besonders hilfreich ist, müsste nun aber in kontrollierten Interventionsstudien gezeigt werden. Das Wichtigste in Kürze Frage: Geht einer Behinderungsprogression bei MS-Kranken ein Anstieg der NFL-Werte voraus? Antwort: Die Serum-Werte von Leichtkettenneurofilament (NFL) sind rund ein bis zwei Jahre vor der Diagnose sowohl einer schubabhängigen als auch einer schubunabhängigen EDSS-Progression erhöht. Bedeutung: Möglichweise markiert der NFL-Anstieg ein therapeutisches Fenster, in dem sich die MS-Progression durch eine intensivierte Therapie noch verhindern lässt. Einschränkung: Messintervalle in beiden Kohorten recht groß: Wann genau der NFL-Anstieg beginnt, lässt sich schwer sagen.

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