Gibt es eine Therapie der ersten Wahl?

In Deutschland sind etwa fünf Millionen Männer von einem Benignen Prostatasyndrom (BPS) betroffen, rund die Hälfte von ihnen befindet sich in ärztlicher Behandlung. In den meisten Fällen ist eine medikamentöse Therapie langfristig erfolgversprechend. Doch ist auch jedes von der aktuellen S2e-Leitlinie empfohlene BPS-Präparat für jeden Patienten geeignet? Prof. Dr. Dr. Thomas Bschleipfer, Weiden, und PD Dr. Malte Rieken, Basel, Schweiz, berichteten über typische Fallstricke in der täglichen Praxis und gaben Empfehlungen für einen langfristig guten Behandlungserfolg. Prof. Dr. Dr. Thomas Bschleipfer, Vorsitzender BPS-Arbeitskreis der Akademie der Deutschen Urologen, Chefarzt Klinik für Urologie, Andrologie und Kinderurologie, Klinikum Weiden/Kliniken Nordoberpfalz AG Bertram Solcher × Herr Prof. Bschleipfer, gibt es für Patienten mit BPS eine medikamentöse Therapie der ersten Wahl? Bschleipfer: Diese Frage kann man ganz klar mit „nein“ beantworten. Es gibt kein Standardmedikament, da das BPS sehr facettenreich ist. Vielmehr sollte eine patientenindividuelle Therapie durchgeführt werden, die sich u. a. am Prostatavolumen, der Art der Symptomatik – eher irritativ oder eher obstruktiv –, am Therapiewunsch bzw. der Erwartungshaltung des Patienten orientiert. Das Spektrum der medikamentösen Therapie ist breit. Verfügbar sind Phytotherapeutika und verschiedene chemisch synthetische BPS-Präparate, so dass man dem einzelnen Patienten sehr gut eine quasi maßgeschneiderte Therapie empfehlen kann. Im Vorfeld ist aber unbedingt zu klären, ob der Patient überhaupt für eine medikamentöse Therapie in Betracht kommt. Zu berücksichtigen sind absolute Operationsindikationen wie rezidivierende Harnwegsinfekte, wiederholter Harnverhalt, Makrohämaturie oder prostatabedingte Schädigungen im oberen und unteren Harntrakt. Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob eine klinisch relevante Obstruktion vorliegt, die eine Indikation für operativ-desobstruierende Verfahren darstellt. Was sollte bei der Wahl eines laut aktueller S2e-Leitlinie empfohlenen BPS-Präparats Ihrer Ansicht nach beachtet werden? Bschleipfer: Ich denke, dass eine Leitlinie nur eine grobe Richtschnur sein kann. Sie legt nicht unumstößlich fest, was man einem Patienten verordnen sollte. Sie stellt vielmehr einen Optionsbaum bei unterschiedlicher Befundkonstellation dar, wobei sich der behandelnde Arzt sehr kritisch mit den Wirkungen und Nebenwirkungen der unterschiedlichen Therapieoptionen auseinandersetzen und diese im persönlichen Gespräch diskutieren und dokumentieren sollte. Einige unerwünschte Wirkungen gängiger BPS-Präparate sind in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus gerückt, so z. B. Angst und depressive Störungen nach Einnahme von 5-α-Reduktasehemmern. Ebenfalls werden kognitive Störungen bei Alphablockern und Antimuskarinika diskutiert. Darüber hinaus führen fast alle synthetischen BPS-Präparate zu einer gewissen Einschränkung der sexuellen Funktion. Dies sollte mit den Patienten sehr individualisiert besprochen werden, zumal es sich in der Regel um eine Langzeittherapie handelt. In Kürze soll eine aktualisierte Fassung der BPS-Leitlinie erscheinen. Gibt es hierzu Neuigkeiten? Bschleipfer: Es gibt spannende neue Aspekte zur Diagnostik und es hat sich viel getan in der BPS-Therapie. So werden künftig auch die verschiedenen minimal invasiven Verfahren Eingang in die Leitlinie finden. Die bereits erwähnten Nebenwirkungen einiger synthetischer BPS-Präparate werden stärker in den Fokus rücken und wir müssen uns mehr um den geriatrischen Patienten kümmern. Unser Wunsch wäre es, die nächste Fassung der Leitlinie bis zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) 2020 vorliegen zu haben. Wie sehen Sie den Stellenwert der Phytotherapie bei BPS, z. B. der gut dokumentierten Sabal-Urtica-Kombination PRO 160/120? Bschleipfer: Phytopharmaka haben definitiv einen Stellenwert in der BPS-Therapie. Sie eignen sich besonders für den Therapieeinstieg bei Patienten mit milder bis moderater Symptomatik (International Prostate Syndrom Score [IPSS] bis maximal 18), die vorerst noch nicht auf synthetische BPS-Präparate eingestellt werden wollen. PRO 160/120 ist tatsächlich ein BPS-Präparat, dessen Daten sehr gut dokumentiert sind. Ich denke, dass es vor allem bei jüngeren, sexuell aktiven BPS-Patienten eine gute Wahl ist, da es im Gegensatz zu den meisten Synthetika nicht mit sexuellen Funktionsstörungen einhergeht, gut verträglich ist und keine Wechselwirkungen mit anderen Präparaten zeigt. Welche Orientierungshilfe können Sie zur geeigneten Therapiewahl geben? Bschleipfer: Wichtige Entscheidungskriterien nach Ausschluss der absoluten Operationsindikationen sind Leidensdruck und Therapiewunsch des Patienten, Prostatavolumen und Grad der Obstruktion. Anders als die Europäische Leitlinie, die den Restharn in den Fokus stellt, haben wir in der Deutschen Leitlinie die klinisch relevante Obstruktion als wesentlichen Entscheidungsknoten gesetzt. Die beste Grundlage für eine gezielte Therapie ist, denke ich, immer eine detaillierte Anamnese und Diagnostik. Man sollte die BPS-Medikamente nicht nach dem Gießkannenprinzip bei allen Patienten gleichermaßen unkritisch anwenden. PD Dr. Malte Rieken, Mitglied BPS-Arbeitskreis der Akademie der Deutschen Urologen, Facharzt für Urologie, niedergelassen in Praxis alta uro AG Basel, Privatdozent der Universität Basel, Schweiz PD Dr. Malte Rieken × Herr Dr. Rieken, man kann den Eindruck gewinnen, dass das Gros der BPS-Patienten in der täglichen Praxis häufig nach „Schema F“ behandelt wird – wie beurteilen Sie die Situation? Rieken: Betrachtet man die Daten der Verordnungsstatistik, fällt auf, dass α-Blocker tatsächlich am häufigsten verordnet werden. Ich glaube, hier müssen wir die Diskrepanz zwischen unserem Wunsch nach einer individualisierten Therapie und den Rahmenbedingungen sehen, die unser Gesundheitssystem vorgibt. Natürlich ist eine Therapie nach „Schema F“ nicht optimal. Uns stehen verschiedenste Therapieoptionen zur Verfügung, so dass wir sehr wohl eine patientenfokussierte Behandlung einschlagen könnten. Dieser Weg benötigt aber Zeit; Zeit, die manchen Ärzten in der täglichen Routine nicht zur Verfügung steht. So werden häufig α-Blocker verordnet, weil sie eine erwiesene Wirkung, einen raschen Wirkungseintritt und ein vergleichsweise überschaubares Nebenwirkungsspektrum haben. Welches Vorgehen ist in Ihren Augen der Schlüssel für eine langfristig erfolgreiche Therapie? Rieken: Langfristig am erfolgreichsten ist letzten Endes eine individualisierte Entscheidungsfindung, die Wünsche und Erwartungen des Patienten integriert und als Fundament eine gründliche Anamnese und Diagnostik hat. Je gezielter ich den Patienten behandle, desto zufriedener wird er sein und desto länger wird er die Therapie beibehalten. Wichtig ist, dass der Patient mehr Nutzen als Nebenwirkungen aus der Therapie zieht. Welche Kernfragen klären Sie mit einem Patienten, der Sie erstmals wegen BPS-Beschwerden in Ihrer Praxis aufsucht? Rieken: „Was belastet Sie am meisten im Alltag?“ Diese Frage stelle ich meinen Patienten regelmäßig. Hierbei zeigt sich, dass die Abschwächung des Harnstrahls für viele Männer gar nicht so entscheidend ist. Was die Patienten viel mehr stört und sie in ihrer Lebensqualität einschränkt, sind Nykturie und Harndrang. In meiner Sprechstunde bekommen alle Patienten, die unter nächtlichem Harndrang leiden, für drei Tage das Miktionstagebuch. So lässt sich das Ausmaß der Drangsymptomatik besser verifizieren. Liegt eine führende Speichersymptomatik vor, beginne ich eventuell mit einem Antimuskarinikum oder einem Beta-3-Agonisten. Tipps für die Praxis Klären Sie vor Therapiebeginn, ob überhaupt eine medikamentöse Behandlung in Betracht kommt. Fragen Sie, welche(s) Symptom(e) den Patienten im Alltag am meisten belastet(en). Fragen Sie nach möglichen sexuellen Funktionsstörungen. Berücksichtigen Sie bei Ihrer Entscheidungsfindung Prostatavolumen, Obstruktionsgrad, Leidensdruck, Sexualfunktion, Komorbiditäten und Therapiewunsch des Patienten. Besprechen Sie Vor- und Nachteile der einzelnen BPS-Präparate und dokumentieren Sie dies. Bestellen Sie Ihren Patienten vier bis sechs Wochen nach der initialen Verordnung erneut in Ihre Praxis ein. Weiterhin frage ich, ob eine begleitende erektile Dysfunktion besteht. In diesem Fall kommt der PDE-5-Hemmer Tadalafil in Betracht. Wichtig ist außerdem, zu klären, ob die Patienten ein synthetisches oder eher ein pflanzliches BPS-Präparat bevorzugen. Ich habe einen nicht unerheblichen Anteil an Patienten, die hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen von BPS-Präparaten bereits sensibilisiert sind und gegenüber dieser Medikation sehr kritisch eingestellt sind. Viele Männer wollen deshalb erst einmal „etwas Pflanzliches“ versuchen. Wie wichtig ist es, den Patienten nach Verordnung eines BPS-Medikamentes erneut einzubestellen? Rieken: Das ist meines Erachtens ein ganz essenzieller Aspekt. Meine Verordnung ist ja letzten Endes erst der Einstieg in die Betreuung des Patienten. Da ist es natürlich entscheidend, den Behandlungserfolg zu evaluieren, abzufragen, ob die Erwartungen des Patienten erfüllt werden konnten, ob Nebenwirkungen oder Hinweise auf eine Progression aufgetreten sind. Deshalb bestelle ich meine Patienten etwa vier bis sechs Wochen nach der initialen Verordnung erneut ein. Dann kann ich entscheiden, ob die medikamentöse Therapie beibehalten werden kann oder ob ein Wechsel auf ein anderes Präparat oder gegebenenfalls ein operatives Verfahren angezeigt ist. Grundsätzlich bitte ich jeden Patienten, sich bereits vor dem nächsten Arzttermin zu melden, falls Probleme auftreten. Fazit Bei Patienten mit benignem Prostatasyndrom (BPS) gibt es keinen Standardverlauf und deshalb auch keine Standardtherapie. Jeder Patient sollte – abhängig von seinen Komorbiditäten, seiner Sexualfunktion, Begleitmedikation und seinen Therapieerwartungen – speziﬁsch behandelt werden. Dabei kommen grundsätzlich alle von der aktuellen S2e-Leitlinie empfohlenen Wirkstoffe zum Einsatz, einschließlich gut untersuchter Phytopharmaka. Das in Deutschland am meisten verordnete BPS-Phytopharmakon PRO 160/120 (Prostagutt® forte) eignet sich besonders für sexuell aktive Patienten mit milder bis moderater BPS-Symptomatik. Es ist gut verträglich und hat insbesondere keine zentralnervösen Wirkungen und keine unerwünschten Wirkungen auf die sexuelle Funktion. Wichtig für eine gute Compliance und einen langfristigen Therapieerfolg ist es, die Behandlung mit dem Patienten ausführlich zu besprechen und aktiv nachzuverfolgen. Impressum „Benignes Prostatasyndrom: Gibt es eine Therapie der ersten Wahl?” Interview anlässlich der Expertenrunde „Stellenwert Phytotherapie bei BPS“, Zürich, Schweiz, 29. Oktober 2019 Berichterstattung: Dr. Martina-Jasmin Utzt, Fürstenfeldbruck Artikel gedruckt in Der Urologe, Band 120, Heft 2, Februar 2020, MMW – Fortschritte der Medizin, Band 162, Heft 2, Februar 2020 Mit freundlicher Unterstützung der Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Friederike Holthausen Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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