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22.03.2022 | Allgemeine Diagnostik | Nachrichten

US-Studie legt nahe:

Wer unsicher ist, macht mehr Diagnostik

verfasst von: Dr. Elke Oberhofer

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Ob ein Arzt mit diagnostischen Tests sehr schnell bei der Hand ist oder sie eher sparsam einsetzt, hängt offenbar stark von seinen persönlichen Eigenschaften ab. Eine Fragebogenstudie aus den USA legt nahe: Wer sich selbst oft unsicher fühlt, mit Ungewissheiten schlecht zurechtkommt und kein Freund von Zahlen ist, testet im Zweifel mehr.

Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels.

In der niedergelassenen Praxis gibt es immer wieder Situationen, in denen der Arzt damit hadert, ob er einen diagnostischen Test einsetzen soll oder nicht. Ein zu aggressives Vorgehen kann Überdiagnostik und Übertherapie nach sich ziehen. Auf der anderen Seite läuft man bei zu sparsamem Einsatz diagnostischer Mittel Gefahr, dass eine relevante Diagnose übersehen wird. Aber welche Rolle spielt eigentlich die eigene Persönlichkeit bei der Entscheidung über das Ausmaß der Diagnostik?

Um herauszufinden, ob sich Ärzte dabei von Charaktermerkmalen leiten lassen, hat Dr. Deborah Korenstein vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York mit ihrem Team vier Fallvignetten mit relativ großem Entscheidungsspielraum kreiert. Diese legten sie insgesamt 552 Ärzten und Praxishelfern aus acht US-Bundesstaaten vor.

Fallvignetten mit diagnostischem Spielraum

In einem Fall ging es z. B. um eine 43-jährige Frau mit atypischen Brustschmerzen und normalem EKG-Befund, bei der es zu entscheiden galt, ob ein Belastungs-EKG sinnvoll ist. In einem anderen sollte beurteilt werden, ob bei einem 65-jährigen Arthrosepatienten, der über „übelriechenden Urin“ berichtet, eine Urinkultur angezeigt ist, wenn der Streifentest Spuren von Blut im Urin zeigt, der Patient mit dem Wasserlassen aber kein Problem hat.

Zusätzlich wurde abgefragt, wie häufig bei Patienten, die Statine einnehmen, Leberfunktionswerte und Lipide abgenommen werden.

Aus den Antworten der Teilnehmenden bildeten die Forscher einen Score, der die Wahrscheinlichkeit, mit der in der jeweiligen Praxis diagnostische Tests durchgeführt werden, in Prozent angibt (von 0% bis 100%). Dieser „Testing Likelihood Score“ wiederum wurde in Relation gesetzt mit einer Reihe persönlicher Charakteristika, die die Ärzte in einem Fragebogen angegeben hatten.

„Medical Maximizer“ testen mehr

Höhere Werte im Score und damit eine höhere Gesamt-Testwahrscheinlichkeit erreichten demnach Ärzte,

  • die sich häufig Sorgen über einen ungünstigen Verlauf machten, 
  • die ein hohes Maß an Unsicherheit und Furcht vor Behandlungsfehlern angaben, 
  • die schlecht akzeptieren konnten, dass es in der Medizin immer gewisse Unsicherheiten gibt,
  • die sich als schlecht im Umgang mit Zahlen bezeichneten und
  • die einen hohen Wert in der sogenannten Medical Maximizer Scale erzielten.

Die Kategorie des Medical Maximizers beschreibt, wie sehr jemand dazu tendiert, immer das Maximum der medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Um dies zu ermitteln, wurden den Teilnehmenden acht Aussagen vorgelegt, zu denen sie Stellung nehmen sollten. Eine lautete z. B.: „Es ist wichtig, eine Krankheit zu behandeln, auch wenn sich daraus kein Unterschied für die Lebensqualität ergibt.“

Das mediane Alter der Studienteilnehmer lag bei 32 Jahren, 53% waren Frauen. In den geschilderten Fallvignetten hatten 20% ein EKG angefordert und 50% eine Urinkultur veranlasst. Leberwerte und Lipide wurden im Mittel alle zwölf Monate gemessen. Letztere wurden von Ärzten mit den o. g. Charakteristika im Mittel häufiger bestimmt.

Alter spielt keine Rolle

Überraschend war für Korenstein und ihr Team die große Bandbreite der Antworten. Median wurde im Test Likelihood Score ein Wert von 54 erzielt, bei einer Spanne zwischen 43 und 69. Dabei waren bemerkenswerterweise weder Alter noch Praxiserfahrung der Ärzte nennenswert mit dem Ergebnis verknüpft – außer bei den Leberwerten, die von älteren Teilnehmern häufiger herangezogen wurden. „Erfahrung führt nicht etwa dazu, dass jemand weniger testet“, so die Forscher. Die Studie zeige vielmehr, dass sich früh eingespielte Muster in der Regel fortsetzen. Allerdings neigten z. B. Arzthelferinnen und Praxisassistenten mehr zum Testen als Mediziner und Medizinerinnen mit einem Doktortitel.

Ob sich die grundsätzliche Testbereitschaft eines Arztes oder einer Ärztin mit den genannten Methoden exakt ermitteln lässt, ist fraglich, vor allem auch, weil Angaben zu ganz unterschiedlichen Praxissituationen zusammengefasst bewertet wurden. Prinzipiell hängt das ärztliche Vorgehen immer vom Einzelfall ab.  Den Studienautoren kam es jedoch darauf an, „das Spektrum der möglichen Ursachen für den Übergebrauch medizinischer Tests“ darzulegen. Kognitive Faktoren tragen nach Ansicht der Autoren erheblich dazu bei. Um hier etwas zu verbessern, sei es wichtig, mehr über die persönlichen Einstellungen und Ansichten von Ärzten zur Verwendung von Tests zu erfahren.

Das Wichtigste in Kürze

Frage: Welche Faktoren auf Behandlerseite beeinflussen das Maß, in dem in der primärärztlichen Praxis diagnostische Tests eingesetzt werden?

Antwort: Ein hoher Grad an Unsicherheit, Angst vor Behandlungsfehlern, ein hoher Medical Maximizer Score, mangelnde Akzeptanz von medizinischen Ungewissheiten sowie Schwächen im Umgang mit Zahlen sind mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu testen assoziiert.

Bedeutung: Ein besseres Verständnis für eigene Verhaltensmuster kann dazu beitragen, die Patientenversorgung zu verbessern.

Einschränkung: Selbstberichtete Angaben; optimale Testhäufigkeit nicht bekannt; zur Ermittlung des Test Likelihood Scores wurden verschiedene Praxissituationen zusammengefasst bewertet.

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Literatur

Korenstein D et al. Clinician attitudes and beliefs associated with more aggressive diagnostic testing. Am J Med 2022; https://doi.org/10.1016/j.amjmed.2022.02.036

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