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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 1/2024

13.02.2024 | Angst | Originalarbeit

Hypochondrie – ein traumatisches Nicht-Trauma?

verfasst von: Dr. Bernd Nissen

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 1/2024

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Zusammenfassung

Diese Arbeit versucht, frühere Überlegungen zur Hypochondrie zu vertiefen. Die Hypochondrie wird als autistoide Aktualneurose begriffen, deren Kern ein früher Objektverlust, der mit der Aufgabe objektaler Hoffnungen einhergeht, darstellt. In der Folge breiten sich unpsychisierte Zustände aus. Doch wie lässt sich dieser Kern begreifen? Als namenloser Zustand der Nicht-Existenz oder als unrepräsentierter Zustand? Wie organisieren sich die wichtigsten Abwehren, autistoide und perverse Formationen? Es wird gezeigt, dass diese autistoiden und perversen Abwehren zunehmend um ihrer selbst willen gesucht werden, die, selbsterzeugt und ins Aktive gewendet, den Rückzug solcher Dynamiken zementieren. Unter anderem diese Konstellation macht es so schwer, Hypochondrie zu behandeln, auch wenn die behandlungstechnischen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte Möglichkeiten eröffnet haben.
Fußnoten
1
Das Konzept der Interpenetration von Luhmann scheint mr für das Verständnis solcher Prozesse von Bedeutung: „Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. In genau diesem Sinne setzen soziale Systeme Leben voraus. Interpenetration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, dass sie ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität in das jeweils andere einbringen. Im Fall von Penetration kann man beobachten, dass das Verhalten des penetrierenden Systems durch das aufnehmende System mitbestimmt wird … Im Fall von Interpenetration wirkt das aufnehmende System auch auf die Strukturbildung der penetrierenden Systeme zurück; es greift also doppelt, von außen und von innen auf dieses ein. Dann sind trotz (nein: wegen!) dieser Verstärkung der Abhängigkeiten größere Freiheitsgrade möglich. Das heißt auch: dass Interpenetration im Laufe von Evolution das Verhalten stärker individualisiert als Penetration“ (Luhmann 1987, S. 290). (Komplexität bedeutet vereinfacht, dass „auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann“ [Luhmann 1987, S. 46], das heißt, Elemente nur selektiv verknüpft werden können.).
 
2
Siehe auch Rosenfeld (1989 [1964]), der mehrere Projektions- und Introjektionszyklen beschreibt.
 
3
Die beschriebene Regression passt fast lehrbuchhaft auf Abrahams Regressionstheorie (Abraham 1916–1917).
 
4
Siehe Fenichel (1982), der auf die konkret-körpernahe Introjektion bei Hypochondrie hinweist.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Hypochondrie – ein traumatisches Nicht-Trauma?
verfasst von
Dr. Bernd Nissen
Publikationsdatum
13.02.2024
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Angst
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-024-00530-6

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