Inhaltliche Unterschiede in den Reaktionen
Stellt man Bezüge zwischen den Kategorien der Reaktionsmuster und fachwissenschaftlicher Literatur über Traumatisierung her, wird deutlich, dass es nur wenige spezifische Reaktionsmuster auf die Patienten mit Gewalterfahrung gibt, die auch in der fachwissenschaftlichen Literatur beschrieben werden (beispielsweise Loyalität zum Täter; Wöller
1998). Einige Phänomene, die in der Literatur nur in Bezug auf Menschen mit einer Traumatisierung genannt werden, finden sich dagegen als Reaktionsmuster in beiden Kategoriensystemen (wenig fühlen beziehungsweise Gleichgültigkeit; Gast und Wabnitz
2017). Zudem tauchen in der Literatur häufig genannte Gegenübertragungsreaktionen (beispielsweise die quasitraumatische Gegenübertragung) in den Reaktionsmustern auf die Berichte nicht auf. Dies könnte daran liegen, dass bisherige Artikel sich überwiegend auf die direkt erlebte Gegenübertragung bezogen, die notwendigerweise immer nur von einer Person erlebt und beschrieben werden kann. In unserem Fall hingegen handelte es sich um Reaktionen auf Berichte – dies unterscheidet sich in mehrfacher Weise von „normaler“ Gegenübertagung: a) Wir beschäftigten uns mit Texten über Psychotherapien, waren also dem Sturm der Emotionen, die im analytischen Raum entstehen können, nicht so ausgesetzt. Insofern waren wir einerseits freier, andererseits auch begrenzter. b) Während normalerweise nur eine Person (die Therapeutin, der Therapeut) über ihre Gedanken und Gefühle während der Sitzung reflektiert, waren wir zu zweit und haben uns über unsere Reaktionsmuster ausgetauscht. c) Normalerweise wird über Gegenübertragung einzelnen Patienten gegenüber berichtet, in unserer Studie stellten wir aber die Reaktionen auf mehrere Patienten zusammen, insofern gingen wir überindividuell vor.
Im Einklang mit der fachwissenschaftlichen Literatur über Gewalterfahrungen (Van der Kolk
1996; Peichl
2018; Aakvaag et al.
2016; Gast und Wabnitz
2017) steht, dass sich nur im Kategoriensystem der Berichte von Patienten mit Gewalterfahrung Aussagen über Sprachlosigkeit, die Loyalität zum Täter, Schuld/Buße und das Gefühl, etwas sei „nicht echt“, finden lassen.
Sprachlosigkeit ist als konkordante Reaktion auf das Erleben des Kindes nach und während einer Gewalterfahrung zu verstehen und laut Van der Kolk (
1996) und Hull (
2002) ein Kernmerkmal traumatischer Erfahrungen, da diese anders verarbeitet werden und deshalb nicht wie nichttraumatische Ereignisse versprachlicht werden können (Streeck-Fischer
2006). Auch Assoziationen zum Themenkomplex Tod werden zwar nicht explizit in der Forschung zur Gegenübertragung genannt, erscheinen aber als konkordante Reaktion auf traumatisierte Patienten nachvollziehbar, da langjährige, traumatische Erfahrungen Menschen häufig immer wieder in ein Gefühl der Todesnähe und der Todesangst stürzen; sie erleben sich als abgestumpft und wie lebendig-tot (Kapfhammer
2008).
In der Literatur zur Gegenübertragung bei traumatisierten Patienten finden sich Aussagen darüber, sich komplementär mit dem Täter zu identifizieren (Davies und Frawley
1992), was sich in der vorliegenden Untersuchung in der Kategorie „Loyalität zum Täter“ wiederfinden lässt.
In der Literatur wird Schuld als ein häufiges Gefühl in der Gegenübertragung geschildert (Danieli
1988; Dobberkau
2013). Das Thema Schuld ist zwar in unserer Untersuchung als Reaktionen auf Berichte von Patienten mit Gewalterfahrung virulent, allerdings gibt es dazu nur zwei Assoziationen, davon eine dazu, dass das Erleben von Schuldgefühlen bei der Patientin nicht nachvollziehbar sei. Warum unsere Ergebnisse hier so deutlich von der Literatur abweichen, kann nur vermutet werden. Denkbar ist, dass dies damit zusammenhängt, dass wir nicht direkt in die therapeutische Beziehung involviert waren, uns also weniger verantwortlich fühlten und deshalb auch keine Schuld empfanden.
In der von den Untersucherinnen entwickelten Kategorie „nicht echt“ wird geschildert, dass die Patienten wie von ihrer Gefühlswelt abgeschnitten wirken. Dabei erlebten die Untersucherinnen keine eigene Derealisation in seiner vollen affektiven Ausprägung, erspürten aber konkordant und mit einer gewissen kognitiven Distanz, dass der Patient derealisiert wirkt. Derealisation ist ein häufiges Merkmal traumatisierter Patienten (Hunter et al.
2004). Vermutlich besteht durch den nur indirekten Kontakt über den Bericht und die Reaktion auf die Patient-Therapeut-Dyade (und nicht den Patienten allein) so viel Distanz, dass die Untersucherinnen keine ausgeprägte Derealisation spürten.
Sprachlosigkeit und Assoziationen zum Thema Tod als Teil der Gegenübertragung werden in der Literatur selten geschildert. In unserer Studie hingegen kamen solche Gedanken relativ häufig vor. Es wäre daher interessant, weiter zu untersuchen, inwieweit sich solche Gefühle im Kontakt mit traumatisierten Patienten finden lassen, zum Beispiel anhand von qualitativen Interviews mit Therapeuten.
In der Literatur wird auch beschrieben, dass in der Arbeit mit traumatisierten Menschen häufig Gegenübertragungsgefühle wie intensives Mitgefühl und negative Gefühle gegenüber Patienten auftreten (Fischer und Riedesser
2009; Dobberkau
2013). Diese sind im Kontext von Abwehrprozessen zu verstehen. Natürlich tritt auch bei Menschen ohne Gewalterfahrung eine Vielzahl von Gegenübertragungsgefühlen, wie beispielsweise Ärger, Mitgefühl oder Ablehnung, auf (Faller
1999). All diese Affekte finden sich in der vorliegenden Untersuchung sowohl bei den Patienten mit als auch bei den Patienten ohne Gewalterfahrung.
Allerdings ist bemerkenswert, dass sich – wie in der Literatur beschrieben – auch eine etwas stärkere affektive Qualität in den Assoziationen auf die Berichte von Patienten mit Gewalterfahrung finden lässt. Sowohl bei den positiven Reaktionen wie Mitgefühl als auch bei den negativen Emotionen wie Ärger oder Ablehnung zeigen sich solche Differenzen. Dieses Erleben steht im Einklang mit zahlreichen Abhandlungen, die darstellen, dass die Gegenübertragungsgefühle aufgrund unterschiedlicher Defizite wie mangelnder Mentalisierungsfähigkeit häufig intensiver als bei nichttraumatisierten Patienten sind. Auch Täter-Introjekte können bei starken affektiven Reaktionen eine Rolle spielen, wie Peichl (
2013) ausführlich schildert. Insbesondere bei der Kategorie „Abwertung/Härte“ werden diese starken Introjektionen sichtbar, die sich, im Gegensatz dazu, nur in einem Fall der Berichte der Patienten ohne Gewalterfahrung zeigen. An der Kategorie „Ablehnung/Härte“ wird beispielhaft deutlich, dass die Untersucherinnen in Gefahr stehen, sich ähnlich hart wie der Täter zu verhalten. Dieses Ergebnis steht im Kontrast zu einer Untersuchung, die fand, dass Therapeuten im therapeutischen Kontakt vorwiegend adaptiv auf Patienten reagieren und diese nicht abwerten (Adams und Riggs
2008), jedoch im Einklang mit der Untersuchung von Dalenberg (
2000), in der deutlich wurde, dass Therapeuten gegenüber Menschen mit Traumatisierungen ihre aggressiven Gefühle teilweise ausagieren.
Daneben gibt es einige unspezifische Reaktionsmuster, die sich in Bezug auf beide Patientengruppen finden lassen. Die Kategorie „zwei Seiten/Ambivalenz“ beinhaltete signifikant häufiger die Wahrnehmung zweier konträrer Gegensätze („Hakenkreuz und Christuskreuz“ [B022]); („Reinheit vs. Dämon“ [A082]). In 2 Berichten (18 %) derer ohne genannte Gewalterfahrung gab es Assoziationen zu der Kategorie „zwei Seiten/Ambivalenz“, dagegen in 8 Berichten (73 %), in denen von Gewalterfahrung berichtet wurde (vgl. Abschn. „Quantitative Unterschiede“). Diese Tendenz, in starken Gegensätzen zu denken und zu fühlen, wird in der Literatur häufig mit dem Erleben von Patienten assoziiert, die auf struktureller Ebene beeinträchtigt sind. Diese strukturellen Störungen resultieren wiederum aus Gewalterfahrungen als Kind (Peichl
2018). Vermutlich kann man die von den Untersucherinnen in beiden Kategoriensystemen etablierte Kategorie nicht vollständig mit Spaltungstendenzen bei Borderline-Patienten gleichsetzen. Dass starke Dichotomien in der Kategorie „zwei Seiten/Ambivalenz“ im Kategoriensystem der Patienten mit Gewalterfahrung häufiger auftreten, könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass sich solche Spaltungen übertragen können.
Die Kategorie „Gleichgültigkeit“ beziehungsweise „wenig fühlen“ findet sich auch in beiden Kategoriensystemen. Allerdings tritt das Thema der inneren Gleichgültigkeit viel häufiger bei den Patienten mit Gewalterfahrungen auf. Die Kategorie „mangelnde Kohärenz/Abspaltung“ hat in beiden Gruppen ähnlich viele Assoziationen.
Beide Kategorien könnte man mit dem Begriff „Dissoziation“ in Verbindung bringen. Dass Prozesse wie Abspaltung und geringe emotionale Resonanz in Bezug auf beide Patientengruppen als Reaktionsmuster auftauchen, ist insofern kein Widerspruch zur Literatur, als dass schwere Dissoziation zwar im Kontext von Traumatisierungen beschrieben wird, leichte Dissoziationen aber häufig sind und auch in nichttraumatischen Situationen auftreten können (Priebe et al.
2013). Die stärkeren Reaktionen, die man als eine Art dissoziatives Erleben werten könnte, finden sich – im Einklang mit der untersuchten Literatur – im Kategoriensystem der Patienten mit Gewalterfahrung („Leere im Kopf“ [B028]; „Watte im Kopf“ [A070]). Wenn Traumata sehr früh erlebt werden, also vor der Zeit, in der das autobiografische Gedächtnis etabliert ist, können die Patienten nicht über ihre Erlebnisse berichten. Entsprechend groß sind dann die Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit (Döll-Hentschker et al.
2020). Denkbar ist, dass sich diese sprachlose Angst auch in den Assoziationen auf Psychotherapieberichte solcher Patienten wiederfindet. Unklar bleibt, wieso sich starke Gefühle wie Panik nicht über den Bericht transportieren, aber dissoziatives Erleben schon. Hier kann spekuliert werden, dass starke Gefühle wie Panik des konkreten Kontakts mit dem Patienten „bedürfen“ und das Lesen eines Berichts nicht ausreicht, um diese zu übertragen. Schwer fassbare, unterschwellig „wabernde“ Phänomene wie Dissoziation könnten sich dagegen eventuell leichter – auch über einen indirekten Kontakt wie einen Bericht – transportieren.
In beiden Kategoriensystemen findet sich das Reaktionsmuster „nichtverstehen/Verwirrung“, es taucht sogar häufiger in Bezug auf die Berichte von Patienten ohne Gewalterfahrungen auf. Dieses Gefühl der Verwirrung könnte auf ein diffuses Affekterleben und eine chaotische innere Welt als konkordante Reaktion auf den Patienten beziehungsweise auf eine komplementäre Reaktion auf Bindungspersonen hindeuten. Über solch diffuses Erleben wird in der Literatur eher bei Patienten mit langjähriger Gewalterfahrung geschrieben, die unter strukturellen Defiziten leiden und sich deshalb schlecht regulieren können (Fischer und Riedesser
2009). Diese Ausprägungen der Reaktionsmuster stehen also im Gegensatz zu Angaben in psychotraumatologischer Literatur und sind wenig erklärbar. Das Gefühl, etwas nicht zu verstehen, könnte allerdings auch daraus resultieren, dass die Autorinnen etwas Wichtiges nicht verstanden haben.
Vielfach in der Literatur in Bezug auf häufige Gegenübertragungsgefühle bei traumatisierten Patienten geschildert, aber von den Untersucherinnen nicht wahrgenommen beziehungsweise kategorisiert, ist das Gefühl der Angst (Dobberkau
2013). Auch stärkere Emotionen wie Panik beziehungsweise emotionale Überflutung wurden nicht als Reaktion geschildert. Das Fehlen dieser Gefühle könnte darin begründet sein, dass der Bericht nur einen indirekten Kontakt herstellt, der durch die Schilderungen des Therapeuten und die Vorgaben des Berichtaufbaus zusätzlich gefiltert wird. Dadurch werden die Affekte vermutlich abgemildert. Angst wird eventuell nicht als Gegenübertragungsgefühl erlebt, da die Untersucherinnen keine Verantwortung gegenüber den Patienten erleben und deutlich ist, dass der Patient sich nun bereits in einer Psychotherapie befindet, was die Sorge um ihn und die Entwicklung seiner Symptomatik ebenfalls abschwächen könnte. Indirekt könnten Angstgefühle in Assoziationen in den Kategorien „Tod“, „unheimlich“ oder „verstecken/verkriechen“ deutlich werden.
Die Assoziationen zu den Kategorien „Sprachlosigkeit“ und „verstecken/verkriechen“ lassen sich aus der Gewalterfahrung heraus erklären. Gewalt wird in der überwiegenden Mehrheit der Fälle anders verarbeitet als andere Lebenserfahrungen, das heißt unter Umgehung des expliziten Gedächtnisses beziehungsweise des präfrontalen Kortex (Fischer und Riedesser
2009). Damit ist es nicht möglich, das Erfahrene zu symbolisieren, was sich auch in den Assoziationen der Untersucherinnen zeigte, beispielsweise „Irgendwie bin ich sprachlos, das Gefühl jedes Wort wäre zu viel, wird ihr nicht gerecht“ (C057).
Emotionale Varianz und Mentalisierungsfähigkeit
Das Phänomen der mangelnden emotionalen Varianz bei den Patienten mit Gewalterfahrung kann als konkordante Reaktion auf das Erleben des Patienten beziehungsweise des Patienten und des in die Übertragung involvierten Therapeuten verstanden werden. Es könnte sich hierhin eine geringere Mentalisierungsfähigkeit der Patienten widerspiegeln (Taubner
2015). Diese Autorin fand, dass Patienten mit frühen Gewalterfahrungen weniger ausdifferenziert wahrnehmen und fühlen, also eine mangelnde Mentalisierungsfähigkeit haben. Die Bindungspersonen, die gleichzeitig Täter sind, können meist selbst nicht gut mentalisieren, sonst könnten sie – wenn sie nicht psychopathisch sind – erstens ihre Affekte regulieren und verbalisieren und würden diese nicht gewaltvoll ausagieren. Zweitens hätten sie eine innere Vorstellung davon, was die Gewalt psychisch für ihr Kind bedeutet, was sie vor erneuter Gewaltausübung schützen würde (Allen
2018). Von Eltern, die selbst strukturelle Defizite wie eine mangelnde Mentalisierungsfähigkeit haben, können Kinder jedoch nicht lernen, emotionale Schattierungen und ausdifferenzierte Facetten einer Vielzahl von Affekten zu spüren beziehungsweise zu benennen (Klöpper
2005). Folglich ist das Affekterleben der misshandelten Kinder und späteren Patienten „roher“ – im Sinne der Beta-Elemente von Bion (
1992) – das heißt, erlebte Affektzustände können weniger gut verarbeitet und reguliert werden. Die Affekte sind weniger ausdifferenziert beziehungsweise werden diffuser erlebt (Klöpper
2005).
Das Vorliegen mangelnder affektiver Vielfalt bei den Patienten mit Gewalterfahrung könnte mit Bezug auf neurowissenschaftliche Fachliteratur auch so erklärt werden, dass traumatische Erfahrungen anders gespeichert und repräsentiert werden (Brenneis
1998). Aufgrund dieser anderen Speicherung bleiben die Erfahrungen und die damit zusammenhängenden Affektzustände häufig nicht benennbar beziehungsweise diffus. Dieses Phänomen zeigt sich dann in einer geringeren affektiven Vielfalt und dem Erleben diffuser Affekte der Untersucherinnen. Es gibt zahlreiche Studien, die nachweisen, dass Traumata in der Kindheit mit Regulationsstörungen, zu denen auch unklare Affektzustände gehören, in Verbindung stehen (Dunn et al.
2018; Wöller
2006). Damit stehen die tendenziell geringere Affektvarianz und die Hinweise auf teilweise diffuses Erleben der Untersucherinnen im Einklang mit Angaben in der Literatur zum Erleben langjährig traumatisierter Patienten.