ICD-11: Die Zeit ist reif für die Implementierung

Plötzlich ist sie da und wir sind aufgefordert, zu handeln: Die elfte Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) ist seit Anfang des Jahres 2022 auch in Deutschland gültig, aber politisch und medizinisch noch kaum präsent. Dabei bringt sie Neuerungen, die Dokumentation, Forschung und auch Krankenversorgung verbessern sollen. Zwingend genutzt werden muss die ICD-11 ab dem Jahr 2027. Bis dahin sind noch einige konzertierte Vorbereitungen nötig. Die ICD-11 nimmt in Deutschland jetzt Fahrt auf, prognostizierte der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Professor Karl Broich. Seit die Politik dem BfArM das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information einverleibt hat, sind Broich und sein Team auch für Klassifikationen und damit für die Einführung der ICD-11 zuständig. Stand und Herausforderungen dieses Großprojekts waren Thema beim 22. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung und insbesondere beim Symposium „ICD-11 als Chance für ein nachhaltiges Gesundheitssystem“ (s. Abb.). Ziele und Neuerungen der ICD-11 Mit der ICD-11 will die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die ICD-10 ablösen [1]. Letztere gilt als inhaltlich renovierungsbedürftig und auch als eine „vordigitale“ Klassifikation, die den modernen Ansprüchen an Flexibilität und digitale Verarbeitbarkeit nicht mehr genügt. Ein wichtiges Ziel der ICD-11 ist es dementsprechend, die digitalen Möglichkeiten besser zu nutzen und ein lebendigeres, damit auch deutlich langlebigeres Klassifikationssystem zu erreichen, das Änderungen dank systematischer Online-Kataloge leichter ermöglicht, als die ICD-10 dies tut [2]. Ein weiteres Ziel ist die internationale Einheitlichkeit: Die ICD-10 hat sich in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich entwickelt, was die Vergleichbarkeit enorm erschwert. Die ICD-11 soll robuster gegenüber nationalen Alleingängen sein bzw. dank digitaler Hinterlegung nationale Besonderheiten stimmiger abbilden können [2]. Letztlich geht es der WHO auch darum, die Codierung durch umfassendere Nutzung digitaler Tools zu vereinfachen bzw. die Datenqualität bei konstantem Aufwand qualitativ besser zu machen, als sie es derzeit ist. Helfen soll dabei ein teilweise neuer Aufbau der ICD-11. Neben die hierarchische Struktur der Diagnose-Codes treten zusätzliche Dimensionen (Symptome, Körperstellen, Funktionsdefizite, Komplikationen), die mit den Diagnosen bei der Codierung in Beziehung gesetzt werden können. Für ärztliche Fachpersonen, aber auch für Betroffene sind bei der ICD-11 nicht zuletzt inhaltliche Neuerungen relevant. Es gibt insbesondere zwei völlig neue Kapitel, nämlich das Kapitel 7 „Schlaf-Wach-Störungen“ und das Kapitel 17 „Bedingungen im Zusammenhang mit sexueller Gesundheit“. Mit diesen Kapiteln erhalten Gesundheitszustände eine klassifikatorische Eigenständigkeit, die bisher in den psychiatrischen F-Diagnosen „versteckt“ waren, was eine adäquate Codierung enorm erschwert hat. Professor Christoph Schöbel vom Zentrum für Schlaf- und Telemedizin, Universitätsmedizin Essen, nannte beispielhaft die Insomnie, an der in Deutschland etwa sechs Millionen Menschen leiden [3]. Hier kann insbesondere die chronische Insomnie in der ICD-10 nur als F-Diagnose „nicht-organische Insomnie“ (F51.0) codiert werden. Das werde aber nur selten gemacht, auch um die Betroffenen nicht zu stigmatisieren und ihnen behördliche Schwierigkeiten zu ersparen, so Schöbel. Entsprechend unterrepräsentiert sei die chronische Insomnie in der Versorgungsforschung. Mit der ICD-11 seien Schlaf-Wach-Störungen dagegen keine Untergruppierung psychiatrischer Erkrankungen mehr. Eigenständige Schlafstörungen würden damit besser abgrenzbar: „Wir können künftig Schlafstörungen richtig codieren, damit werden wir auch besser die richtigen Therapien einleiten können“, sagte Schöbel. Stand der Umsetzung Um dorthin zu gelangen, muss die ICD-11 freilich erst implementiert werden. Einige Länder sind da schon weiter als Deutschland, etwa Israel und Finnland. Seit Februar 2022 ist die Übersetzung der ICD-11 in Deutschland als Vorabversion verfügbar [4]. Die Übersetzung werde in Kürze weitgehend abgeschlossen sein, so Broich. Eine wichtige Deadline ist das Jahr 2027: Ab dann müssen Todesfälle ICD-11-codiert an die WHO übermittelt werden. Die nächsten Schritte sind Broich zufolge jetzt eine konkrete Umstiegsanalyse sowie die Erstellung einer Roadmap. Zurückgreifen könne man dabei unter anderem auf Erfahrungen im Zusammenhang mit der Implementierung der Alpha-IDs für seltene Erkrankungen im Krankenhaus. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums v. l. n. r.: Professor Karl Broich (BfArM), Dr. Jürgen Malzahn (AOK-Bundesverband), Dr. Christine Mundlos (ACHSE e. V.), Hauke Gerlof (Ärzte Zeitung), Dr. Johanna Callhoff (DRFZ), Professor Christoph Schöbel (Ruhrlandklinik, Universitätsmedizin Essen), Privatdozent Dr. Christoph Kowalski (Deutsche Krebsgesellschaft), Dr. Peter Kaskel (Idorsia) Thomas Kierok × Roadmap für die Umstellung von ICD-10 auf ICD-11 priorisieren Eine medizinische Klassifikation wechselt man nicht so einfach wie ein Kleidungsstück. Daher sollte alles für eine effektive Implementierung getan werden. Es gibt Vorschläge, wie der Umstieg auf die ICD-11 erleichtert werden kann. Wer Dr. Johanna Callhoff, Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin, über die ICD-11 reden hört, der würde die neue Klassifikation lieber heute als morgen einführen. Eine typische Fragestellung der rheumatologischen Versorgungsforschung – „Wie gut ist die Versorgung von Betroffenen mit rheumatoider Arthritis (RA) mit einem spezifischen Medikament?“ – lasse sich auf Basis von ICD-10-Daten schon deswegen schlecht beantworten, weil in der ICD-10 der Code für die seronegative RA erst als Unterpunkt der „sonstigen chronischen Polyarthritis“ auftaucht und kaum codiert wird. Die ICD-11 bietet hier eine klarere Struktur, und sie könne der Diagnose auch Gelenke und Folgeerkrankungen zuordnen, so Callhoff. Bis das geschieht, muss jedoch noch einiges an Vorarbeit geleistet werden. Einen klaren Aufruf zur Beteiligung richteten die Teilnehmenden des Symposiums an die medizinischen Fachgesellschaften und deren Dachverband, die AWMF. Diese müssten in ihren Gebieten die Qualitätssicherung der ICD-11 und ihrer Übersetzung (s. Abb.) übernehmen und könnten für die Implementierung der ICD-11 wertvolle Impulse geben, so die Gruppe. Callhoffs Beispiel zeigt deutlich, wo es herausfordernd wird: Die sehr detaillierte Codierung, die die ICD-11 ermöglicht, muss irgendjemand vornehmen. WHO, BfArM, Gesundheitspolitik und Fachgesellschaften sind sich einig, dass hier Software benötigt wird, die bei der Codierung unterstützt bzw. sie in weiten Teilen automatisiert. Das stehe politisch auch hoch auf der Agenda, so Broich. Coding-Tools und Schnittstellen für die klinischen IT-Systeme, die die Anwendung der ICD-11 erleichtern, seien anvisiert. So richtig konkret seien die Pläne diesbezüglich allerdings noch nicht. Eine denkbare Möglichkeit sei es, die Codierung finanziell zu fördern, sagte Dr. Jürgen Malzahn vom AOK-Bundesverband. Angesichts der derzeitigen finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung könne diese nur ausgabenneutral in einem Zu-/Abschlagsmodell erfolgen. Für vielversprechender hält es Malzahn, der auch schon den Übergang von der ICD-9 zur ICD-10 begleitet hat, über die Software-Zertifizierung zu gehen. Sowohl Praxisverwaltungssysteme als auch stationäre Diagnosis-Related-Groups (DRG)-Grouper seien bereits heute zertifizierungspflichtig. Entsprechend könne hier Druck ausgeübt werden, sofern die entsprechenden Anforderungen durch das BfArM formuliert und vorangetrieben würden. Der Anstoß für solche und ähnliche Initiativen werde letztlich vom Gesetzgeber kommen müssen. Davon sei bisher aber wenig zu sehen. Insbesondere das derzeit diskutierte Digital-Gesetz setze hier bislang noch keine Impulse. Springer Medizin Verlag GmbH × Die Struktur der ICD-11 Die Kapitelnummerierung in der ICD-10 erfolgte mit römischen Ziffern, in der ICD-11 sind es arabische Zahlen. Die Kategorien haben vier statt bisher drei Zeichen, wobei die erste Zeichenposition dem Kapitel zugeordnet, aber nicht immer die Kapitelnummer ist. Die zweite Position ist immer ein Buchstabe. So kann man ICD-10- und ICD-11-Codes leicht unterscheiden [5]. Es bleibt bei einem hierarchischen System für die Codierung, das „Linearisierung“ genannt wird. Foundation ermöglicht Zuordnung Das neue System der „Foundation“ ermöglicht eine klarere Zuordnung und kann Komorbiditäten erfassen. Hierfür wurden sogenannte Erweiterungs- oder Zusatzcodes entwickelt. ICD-11-Codes sind mindestens vier- und maximal sechsstellig und alphanumerisch. Vor der fünften Stelle steht ein Punkt. Zwei Beispiele: 7A00 steht für chronische Insomnie im neuen Kapitel 7 „Schlaf-Wach-Störungen“; GB60.1 steht für akutes Nierenversagen im Stadium 2 im Kapitel 16 „Krankheiten des Urogenitalsystems“ [5]. Fazit: Was ist zu tun? Die ICD-11 kommt 2027/2028. Mit hohem Nutzen für die Versorgung der Betroffenen und die Digitalisierung BfArM sollte Umstiegsanalyse und Roadmap-Erstellung für gemeinsames Verständnis bei allen Akteuren nutzen. Digitale Einbettung frühzeitig planen Literatur https://www.who.int/news-room/spotlight/international-classification-of-diseases (letzter Zugriff: 17.10.23) https://icd.who.int/browse11/l-m/en (letzter Zugriff: 17.10.23) Heidbreder A, InFo Neurologie 2023, 25:38–49 https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html (letzter Zugriff: 17.10.23) https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/aufbau.html (letzter Zugriff: 17.10.23) Impressum „ICD-11 als Chance für ein nachhaltiges Gesundheitssystem“ Symposium im Rahmen des 22. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung, Berlin, 4.–6. Oktober 2023 Bericht: Philipp Grätzel von Grätz, Berlin Artikel gedruckt in: Ärzte Zeitung Nr. 47, 23. November 2023 Mit freundlicher Unterstützung der Idorsia Pharmaceuticals Germany GmbH, München Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Martin Zeeb Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: ICD-11: Die Zeit ist reif für die Implementierung

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