Das Politische der Reproduktion dürfte seit der Berufung der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin auf Grundlage des Koalitionsvertrages im März 2023 ein breiter diskutiertes Thema geworden sein. Zwei Fachkommissionen sind bis März 2024 mit der Formulierung eines Grundlagenpapiers beschäftigt, das sich mit drei komplexen Themen auseinandersetzt, die viele Fragen aufwerfen, u. a.: Wie sollen in Deutschland zukünftig Schwangerschaftsabbruch, Eizellspende und Leihmutterschaft geregelt werden? Die Themen rund um reproduktive Selbstbestimmung sowie der Umgang mit fortschreitender Technologisierung und Medikalisierung von Reproduktion flankieren seit Jahrzehnten die feministische Theoriebildung und politische Bewegung. Gleichsam sind sie auch genuin medizinethische Themen. Der 2022 erschienene Band Politiken der Reproduktion vereint – unter anderen – auch diese disziplinären Gefilde und büßt in diesem Sinne zwei Jahre nach dem Erscheinen an Aktualität nichts ein.
Mit einer eindrücklichen Spannbreite disziplinärer Verortung und methodischer Vielfalt zeigt der Band in den insgesamt zwanzig Texten, die thematisch auf fünf Kapitel verteilt sind, verschiedene Ausprägungen politischer Felder der Reproduktion auf. Politiken der Reproduktion begreifen die Herausgebenden als „Praktiken, Regulierungen, Vorstellungen, Normen und Wissensbestände, die sich auf menschliche Fortpflanzung beziehen“ (S. 15). Gemeint sind damit etwa staatliche Regulierungen der Fortpflanzung – beispielsweise in Recht und Arbeitsmarkt – aber auch die Festlegung ethischer und wissenschaftlicher Rahmenbedingungen oder unter welchen Bedingungen professionsspezifisches Handeln rund um Schwangerschaft, Geburt und Familie stattfindet.
Eine besondere Leistung des Bandes ist es, die offensichtlichen Topoi der Reproduktion wie Schwangerschaft, Verhütung, Abbrüche, Geburt, Wochenbett etc. mit jenen ins Gespräch zu bringen, die nicht vordergründig Aspekte der medizinischen Versorgung betreffen, aber immer auch mit diesen verschränkt sind – man denke an das einkommensabhängige Elterngeld, die Gender Pay Gap oder die Regulierung von Migration und Aufenthaltsstatus. Somit werden vor allem die Bedeutungszusammenhänge und die Tragweite des Themenspektrums der Reproduktion verdeutlicht. Der Band hat es sich zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche Verhältnisse, Personengruppen und thematische Lücken in der Debatte um Reproduktion sichtbar zu machen, die in diesem weiten Feld sonst eher marginal diskutiert werden. Ein weiterer roter Faden lässt sich durch die Einführung des Konzepts
Reproduktiver Gerechtigkeit erkennen, welches reproduktive Rechte in Bezug auf soziale Gerechtigkeitsfragen verortet. Zum einen geschieht dies durch ein Manifest des im deutschsprachigen Raum vertretenen Netzwerks Reproduktive Gerechtigkeit selbst, welches das US-amerikanische Konzept Schwarzer Feminist*innen adaptiert. Zum anderen durch die Anwendung vieler Beitragenden des Konzepts als Analyserahmen. Gerade auch mit Blick auf die eingangs erwähnten politisch brisanten Themen der Eizellspende und Leihmutterschaft werden dadurch insbesondere die Bedingungen reproduktiver Autonomie kontextualisiert und betrachtet. Besondere Praxisrelevanz zeigt der Band durch Einblicke in Versorgungszusammenhänge und Professionen. In der kritischen Diskussion von vier Interview-Studien zur ärztlichen Beratungspraxis zum Schwangerschaftsabbruch und zur Pränataldiagnostik sowie mit Schwangerschaftskonfliktberatenden und Hebammen wird zudem die Anwendbarkeit intersektional-feministischer Zugänge demonstriert. Diese sind trotz ihrer professionsethischen Sinnhaftigkeit weiterhin nur marginal in der Medizinethik vertreten (Faissner et al.
2022).
In seiner disziplinären und methodischen Fülle fordert der Band die Leser*innenschaft zu einer anspruchsvollen Lektüre auf, die für ein weniger geistes- und sozialwissenschaftlich geschultes Publikum sicherlich ihre Hürden bietet. Nichtsdestotrotz lohnt sich die Anstrengung für wissenschaftlich Tätige, Studierende und praktisch Tätige, für die insbesondere veranschaulicht werden kann, inwiefern die verschiedenen Felder in einen interdisziplinären Dialog von theoretischen und praktischen Ansätzen treten. Es ist eine empfehlenswerte Lektüre zur umfassenden Orientierung innerhalb der aktuellen Debatten rund um die Bedingungen von Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft. Der Band zeigt, dass Reproduktion unter Berücksichtigung von Entscheidungsprozessen, Versorgungsstrukturen, der technologischen Unterstützung und Sorgearbeit auch als komplexe soziale Praxis begriffen werden kann, die unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen stattfindet. „Politiken der Reproduktion“ ist ein passender Titel für einen Sammelband, der überaus breit informiert und dazu auffordert, sich über das technisch Machbare hinaus mit den ethischen und politischen Dimensionen der Reproduktion auseinanderzusetzen.
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