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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2/2024

Open Access 28.03.2024 | Psychiatrische Therapieverfahren | Journal Club

Psychiatrischer Beitrag

Psychiatrische Wartelisten im Gefängnis im Rahmen der psychiatrischen „Bettenkrise“ in Irland

verfasst von: M. A. Psych. Isabella Krupp, Dr. med. Alexander Voulgaris

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 2/2024

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In Deutschland besteht ein deutliches Versorgungsdefizit in der Behandlung psychisch kranker Straftäter. So ist immer wieder die Rede vom „Maßregelvollzug am Limit“ (Möckel 2024; Arendt et al. 2024); die Einrichtungen kämpfen mit Überbelegung und Personalmangel. Die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Zeidler et al. 2024) legen nahe, dass eine angemessene Behandlung der Patienten so nicht gewährleistet werden kann, darüber hinaus werden sicherheitsrelevante Risiken für Patient:innen und Behandler:innen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko in den Einrichtungen begünstigen, deutlich. Auch die gefängnispsychiatrische Versorgung von psychisch kranken Inhaftierten, die z. B. erst während der Haftstrafe psychotische Symptome entwickeln, oder bei denen die Unterbringungsvoraussetzungen nicht erfüllt waren, ist vielerorts nur rudimentär gewährleistet und von einem Ressourcenmangel geprägt. Insbesondere psychotische Erkrankungen sind im Gefängnissetting weniger gut behandelbar und benötigen häufig die Voraussetzungen einer stationären psychiatrischen Behandlung, welche idealerweise am besten in einer speziell gesicherten Einrichtung erfolgt. Im Jahr 2022 wurde im Referat für Forensische Psychiatrie der DGPPN eine Task Force „Gefängnispsychiatrie“, die sich dem Thema der psychiatrischen Versorgung in den Justizvollzugsanstalten widmet, gegründet.
Während in Deutschland auf 100.000 Bewohner 10 forensische Betten kommen (Tomlin et al. 2021), weist Irland mit lediglich 2/100.000 Bewohner die drittniedrigste Ratio an forensischen Betten in Europa auf. Diese begrenzten Plätze werden eher von Personen mit verminderter Schuldfähigkeit, welche darüber hinaus längere Verweildauern aufweisen, besetzt. Diese Situation führte dazu, dass Inhaftierte, bei denen eine psychiatrische Behandlung indiziert war, diese in den letzten Jahren nicht sofort erhalten konnten, sondern stattdessen auf Wartelisten platziert wurden. Das irische Forschungsteam von Gallagher et al. (2023) untersuchte die klinischen Verläufe dieser „natürlichen“ Wartelistenstichprobe, wobei sich diese aus allen männlichen Inhaftierten in Irland, welche in den Jahren 2015–2019 auf eine Aufnahme in einer Psychiatrie warteten, zusammensetzte (n = 541). Sie widmeten sich dabei Fragen dazu, wer auf Wartelisten platziert wurde, wie lange Probanden dort verblieben oder schließlich psychiatrisch aufgenommen wurden, was mit jenen passierte, die nicht aufgenommen wurden, und inwiefern die Verläufe mit Risikobewertungen korrespondierten.
Insgesamt wurden 415 männliche Gefangene (bei 541 Einweisungsereignissen) im betreffenden 5‑Jahres-Zeitraum auf Wartelisten gesetzt. Von diesen 541 Fällen waren 134 (25 %) verurteilt, 387 (71 %) in Untersuchungshaft und 20 (4 %) sowohl in Untersuchungshaft als auch (in anderer Sache) verurteilt. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Platzierung auf der Warteliste betrug 36 Jahre. Über 90 % der 541 Fälle hatten zu diesem Zeitpunkt aktive psychotische Symptome. In 70 % der Fälle war eine schizophreniforme Störung (F20–29) diagnostiziert worden, bei 12 % eine bipolare Störung. Bei etwa einer Hälfte der Fälle lag eine Obdachlosigkeit zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Warteliste vor, von denen wiederum 96 % aktive psychotische Symptome aufwiesen. Die Hälfte der 541 Fälle war mit Gewaltdelikten assoziiert, wobei der Teil der Stichprobe, die in forensische Einrichtungen aufgenommen wurden, deutlich häufiger (85 %) Gewaltstraftaten begangen hatte, als jener Teil, der in nichtforensische Einrichtungen verlegt wurde (23 %).
Bis zum Ende der Untersuchung wurden 60 % aller Fälle in ein psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen, davon erfolgten 97 in ein forensisches Krankenhaus und 235 in nichtforensische Einrichtungen, wobei sich Letztere zu 84 % aus Umleitungen aus der Untersuchungshaft und zu 16 % aus Einweisungen nach Strafverbüßung zusammensetzten.
Ein beträchtlicher Teil der Personen auf den Wartelisten wurde nicht psychiatrisch aufgenommen. Für ein Viertel der Stichprobe war dies dem Umstand zu verdanken, dass diese sich mithilfe freiwilliger ambulanter Behandlung in Haft so weit stabilisieren konnten, dass keine psychiatrische Aufnahme mehr vonnöten war. Bei weiteren 6 % war die Verbesserung so groß, dass eine ambulante oder häusliche Versorgung anstelle einer Aufnahme vereinbart wurde. Weitere 6 % wurden unerwartet von Gerichten freigelassen, während 21 der 541 Fälle (4 %) am Ende des Studienzeitraums noch auf der Warteliste für eine Aufnahme verblieben.
Hinsichtlich der Frage, ob die Einweisungsformen mit dem Risiko korrespondierten, betrachteten die Autoren die Risikoeinschätzungen mittels DUNDRUM-Toolkit, einem multiaxialen „structured professional judgement“ (SPJ, strukturierte professionelle Beurteilung). Die mit DUNDRUM‑1 erfassten kriminogenen „needs“ derjenigen Inhaftierten, die in das forensische Krankenhaus eingewiesen wurden, waren deutlich höher als die der anderen Gruppen. Die Risikobewertungen zwischen dem Zeitpunkt der Wartelistenplatzierung und der Aufnahme unterschieden sich kaum. Diejenigen Inhaftierten, die bei der Entlassung nach Verbüßung ihrer Strafe noch auf Wartelisten standen, wiesen höhere Risiko-Scores auf als jene, die aus der Untersuchungshaft in nichtforensische Einrichtungen umgeleitet wurden. Bei denjenigen Inhaftierten, die sich unter freiwilliger Behandlung in Haft so weit stabilisierten, dass sie von der Warteliste genommen wurden, war auch die Risikobewertung bei Entfernung verbessert. Das DUNDRUM-Toolkit verfügt über eine Achse zur Dringlichkeitsbewertung (DUNDRUM-2). Die Dringlichkeitsbewertungen waren bei den Inhaftierten, die forensisch eingewiesen wurden, höher als bei jenen, die in nichtforensische Einrichtungen übergeleitet wurden. Die Patienten, die wegen guten Verlaufs von der Warteliste entfernt wurden, wiesen zu diesem Zeitpunkt auch einen geringeren Dringlichkeit-Score auf.
Innerhalb des Zeitraums von 2015 bis 2019 war es in den meisten Fällen möglich, eine stationär-psychiatrische Aufnahme zu gewährleisten, obwohl einige Patienten eine längere Verzögerung in Kauf nehmen mussten. Im Median warteten Inhaftierte, die in einer forensischen Psychiatrie aufgenommen wurden (n = 97, 18 %), 59 Tage, wobei der Mittelwert mit 101 Tagen Verzögerung deutlich höher lag. Diejenigen auf der Warteliste, die zum Ende ihrer Strafe in eine nichtforensische Einrichtung übergeleitet wurden (n = 37, 7 %), warteten durchschnittlich 69 Tage (Mittelwert: 97 Tage). Am häufigsten (n = 198, 37 %) fand eine direkte Überleitung aus der Untersuchungshaft in ein nichtforensisches stationäres Behandlungssetting statt, diese war im Mittel um 16,5 Tage (Mittelwert: 32 Tage) verzögert. Diejenigen, die sich psychopathologisch hinreichend stabilisierten (122, 23 %), wurden im Median nach 47 Tagen (Mittelwert: 112, also nahezu 4 Monate) von der Warteliste entfernt. Bis zum Ende des Untersuchungszeitpunkt blieben 21 Probanden der Stichprobe (4 %), die im Übrigen das höchste Risiko aufwiesen, auf der Warteliste; sie warteten im Median 76 Tage (Mittelwert: 214 Tage).
Teilweise kam es zu extrem langen Wartezeiten, insbesondere bei denjenigen, die auf der Warteliste verblieben, bei einem Range von 22 bis zu 368 Tagen. Die ohnehin auch schon im Durchschnitt sehr langen Wartezeiten bei schwer psychiatrisch erkrankten Personen stimmen äußerst bedenklich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei ersterkrankten Personen die Dauer der unbehandelten Psychose einen entscheidenden Risikofaktor für den weiteren Krankheitsverlauf darstellt. Somit wird hiermit auch dem künftigen Versorgungssystem eine Bürde auferlegt. Dass insbesondere diejenigen Inhaftierten davon betroffen waren, die ein erhöhtes Risiko aufwiesen, ist einerseits aus klinischer Perspektive vor dem Hintergrund der Versorgungssituation nachvollziehbar – so muss eine allgemeinpsychiatrische Klinik mit niedrigen Sicherheitsvoraussetzungen auch ihre Patient:innen und ihr Personal schützen –, andererseits benötigen ja gerade diese (psychotisch erkrankten) Patienten mit hohem Risiko eine adäquate psychiatrische Behandlung, damit ihr potenzielles Risiko gesenkt werden kann. Problematisch ist darüber hinaus, dass diejenigen Patienten möglicherweise in unbehandeltem Zustand entlassen werden und somit ein unverändert hohes Risiko für die Allgemeinheit bieten.
Inwiefern die Menschen auf der Warteliste auf einen normalen Haftraum oder unter Beobachtung standen, beispielsweise auf einer Sicherungsstation, oder wie häufig es innerhalb der Menschen auf der Warteliste zu Fehlhandlungen wie selbst- oder fremdschädigendem Verhalten kam, wird leider nicht berichtet. In keinem der Fälle wurde ein vollendeter Suizid begangen.

Interessenkonflikt

I. Krupp und A. Voulgaris geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Zurück zum Zitat Gallagher M, Smith D, Hickey P, Nolan M, Mhuircheartaigh EN, Murray M, Taylor E, Connaughton M, O’Neill C (2023) Men placed on waiting lists for psychiatric admission from Irish prisons over five years: clinical outcomes during a forensic “bed crisis”. Int J Law Psychiatry 91:101923CrossRefPubMed Gallagher M, Smith D, Hickey P, Nolan M, Mhuircheartaigh EN, Murray M, Taylor E, Connaughton M, O’Neill C (2023) Men placed on waiting lists for psychiatric admission from Irish prisons over five years: clinical outcomes during a forensic “bed crisis”. Int J Law Psychiatry 91:101923CrossRefPubMed
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Titel
Psychiatrischer Beitrag
Psychiatrische Wartelisten im Gefängnis im Rahmen der psychiatrischen „Bettenkrise“ in Irland
verfasst von
M. A. Psych. Isabella Krupp
Dr. med. Alexander Voulgaris
Publikationsdatum
28.03.2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 2/2024
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-024-00824-9

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