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Open Access 21.12.2023 | Forschungsforum

Therapeutische Eigenanteile in der Gegenübertragung

Ein systematischer Überblick über empirische Befunde

verfasst von: J. A. Berger, M.Sc. Psych., Dr. Dipl.-Psych. D. Kästner, Prof. Dr. A. Gumz

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse

Zusammenfassung

Gegenübertragung (GÜ) gilt mittlerweile als eines der wichtigsten Werkzeuge psychodynamischer Verfahren. Während die interpersonellen Muster des/r Patient:in, die sich in dieser wiederfinden, praktisch und theoretisch vielfach beachtet werden, ist noch wenig über die Eigenanteile des/r Therapeut:in in der GÜ bekannt. Eine Schwierigkeit in der Beforschung dieser besteht in der Erfassung eines Phänomens, das viele Forscher:innen als ich-synton und damit unbewusst begreifen. Eine Annäherung an das Thema erfolgte bisher überwiegend durch Fallberichte klinisch tätiger Autor:innen. Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die bisherige empirische Forschung zu dem Thema.
Die systematische Suche erfolgte über die elektronischen Datenbanken PsycINFO, PsycArticles, PubMed und PSYNDEX und bezog nach Titel- und Abstractscreening von 1037 Studien schließlich 10 Publikationen in die Auswertung ein. Dabei wurde deutlich, dass die eingeschlossenen Studien sowohl hinsichtlich der zugrunde liegenden Definitionen von Eigenanteil und GÜ sowie der Versuche, diese messbar zu machen, stark divergieren.
Um Eigenanteile im Kontext des GÜ-Geschehens zu erfassen, wird eine Erweiterung des Konzeptes von Hayes vorgeschlagen, das folgende Therapeut:innenanteile integriert: Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen, soziodemografische Merkmale und biografische Erfahrungen (subjektive Einschätzungen versus objektive Informationen).
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Betrachtete Freud (1910) die Gegenübertragung (GÜ) noch als Störvariable, avancierte sie im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Wirkfaktor im psychoanalytischen Prozess (Dreher et al. 2023). Die Studienlage zeigt, dass GÜ beide Potenziale in sich trägt (Bouchard et al. 1994): Gegenübertragungsgefühle können Aufschluss über interpersonelle Muster des/r Patient:in bieten (Kernberg 1965), aber auch schwierige Therapiesituationen (Missverständnisse, Sackgassen) und Brüche im Arbeitsbündnis bedingen (Kantrowitz 2002). Entscheidend für den konstruktiven Nutzen von GÜ ist der Umgang mit den entsprechenden Gefühlen. Gelingt dieser, kann das einen positiven Einfluss auf Therapieergebnis und therapeutische Beziehung haben (Hayes et al. 2011; Dahl et al. 2017; Faller 2000; Mang 1990; Obbarius 2012; Ligiero und Gelso 2002).
Im „klassischen“, auf Freud zurückgehenden Verständnis wird GÜ als „unbewusste Reaktion des Analytikers auf die Person des Analysanden und insbesondere auf dessen Übertragungen“ begriffen (Quindeau 2008, S. 40). Die dabei angenommene passive Rolle des/r Analytiker:in wird aus intersubjektiver Perspektive scharf kritisiert (Ogden 2004). Moderne intersubjektive bzw. interaktionelle und systemtheoretische Konzepte gehen davon aus, dass es Therapeut:innen nicht möglich ist, sich Verwicklungen in der therapeutischen Begegnung zu entziehen (Dreher et al. 2023). Die Vergangenheit des/der Patient:in aktualisiert sich diesen Konzepten nach nicht unabhängig von der/dem Therapeut:in, sondern Therapeut:innen werden in das aktuelle Beziehungsgeschehen – und so auch in schwierige Beziehungsmuster – unmittelbar involviert und verstrickt (Gumz 2020; Bettighofer 2022; Gumz et al. 2014). So betonen Jacobs (1986) und andere relationale Psychoanalytiker:innen, dass es sich um eine Verwicklung zwischen beiden Beteiligten handelt (Enactment), dass also die Persönlichkeit, die Gefühle und Beziehungsrepräsentanzen des/der Therapeut:in bei der Entwicklung der jeweiligen Szenen mitwirken, dass die beiden Beteiligten verbal und nonverbal verstrickt sind, auch wenn die Szenen primär von der/dem Patient:in initiiert sind. Eine breite bis heute gültige, „totalistische“ (Mertens 1991) Definition fasst unter GÜ „all the feelings which the analyst experiences towards his patients“ (Heimann 1950, S. 81). In Abkehr von einer Einperson- zu einer Zweipersonenpsychologie wird der/die Therapeut:in dabei zum/r aktiv Mitgestaltenden der therapeutischen Situation (Gill 1982; Thomä 1984). Unklar bleibt jedoch, inwieweit die Gefühle ihren Ursprung im/der Patient:in oder im/der Therapeut:in selbst haben. Mit diesem Aspekt beschäftigte sich Winnicott (1949) und prägte die Unterscheidung zwischen objektiver GÜ (durch interpersonelle Muster des/r Patient:in ausgelöst) und subjektiver GÜ (eigene maladaptive Tendenzen des/r Therapeut:in fließen ein). Heuft (1990) schlug für Letztere den Begriff der Eigenübertragung vor. Die wenigen empirischen Studien dazu legen nahe, dass der subjektive Anteil der GÜ deutlich größer zu sein scheint als der objektive, auch wenn zumeist beide Anteile bedeutsam sind (Hafkenscheid 2012; Hafkenscheid und Kiesler 2007; Löffler-Stastka et al. 2019). So werden nicht nur bei Patient:innen, sondern auch bei Therapeut:innen neurotische Strukturen und Selbstschutzmechanismen sichtbar (Bettighofer 2022). Rosenberger und Hayes (2002, S. 264) greifen in ihrer „moderaten“ Definition den subjektiven Aspekt auf, indem sie GÜ als „the counselors reactions to the client that are based on the counselors unresolved conflicts“ verstehen und deutlich bei der Person des/r Therapeut:in verorten.
Zum Thema GÜ liegt insgesamt eine noch recht begrenzte Anzahl empirischer Studien vor. Die Mehrheit dieser Studien beschäftigt sich mit der Untersuchung der objektiven GÜ und dem Zusammenhang zwischen GÜ-Gefühlen und Störungsbildern (unter anderem Howard et al. 1970; Rossberg et al. 2007; Obbarius 2012). Zunehmend rückt jedoch auch die subjektive GÜ und damit die Person des/r Therapeut:in, die durch ihre Persönlichkeit und eigene biografische Hintergründe die Behandlung mitgestaltet, in den Fokus wissenschaftlichen Interesses (Jacobson 2010; Kuchuck 2014; Thompson 1956; Wilson 2003). Die zur subjektiven GÜ publizierte Literatur beruht in erster Linie auf der therapeutischen Erfahrung der zumeist klinisch tätigen Autor:innen und dieser entnommenen Fallbeispielen. Hier mangelt es stark an empirischen Studien, die den Eigenanteil des/r Therapeut:in am Übertragungsgeschehen fokussieren. Mögliche Gründe dafür könnten in einem Widerstand liegen, sich gegenüber Forscher:innen mit eigenen Anteilen auseinanderzusetzen, aber auch in einem Operationalisierungsproblem.
Bettighofer (2022) vermutet, dass Eigenanteile ich-synton seien und sich durch ihre unbewusste Natur der Erfassung entzögen. Dass auch GÜ unterschiedlich definiert und operationalisiert wird, erschwert die Beforschung des Themas zusätzlich. Rosenberger und Hayes (2002) begegnen dieser Problematik durch die Formulierung eines theoretischen Bezugsrahmens, der eine einheitlichere Erfassung des Konstrukts ermöglichen soll. Demnach umfasst GÜ fünf Komponenten: „origins“ (ungelöste Konflikte), „triggers“ (Auslöser der ungelösten Themen), „manifestations“ (kognitiv, affektiv und verhaltensbezogene Erscheinungsformen), „effects“ (Auswirkungen auf Prozess und Ergebnis der Therapie) und „management“ (Strategien im Umgang; Hayes 1995). Die Autoren geben vor diesem Hintergrund einen Abriss über die Studienlage zur GÜ von 1977 bis 2002. Unseres Wissens war dies die letzte Übersichtsarbeit, die sich mit Anteilen des/r Therapeut:in an der GÜ beschäftigte. Das vorliegende Review stellt diese in das Zentrum. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen systematischen Überblick über die Forschungsergebnisse zu dem Thema der Eigenanteile von Therapeut:innen am Übertragungsgeschehen zu geben und dabei folgende Fragen zu beantworten:
1.
Welche Eigenanteile des/r Therapeut:in am Übertragung-Gegenübertragung(Ü-GÜ)-Geschehen werden in der empirischen Literatur untersucht?
 
2.
Wie wird der Eigenanteil des/r Therapeut:in am Ü‑GÜ-Geschehen in der empirischen Literatur erfasst?
 
3.
Wie wird GÜ in der empirischen Literatur definiert und messbar gemacht?
 
4.
Welche empirischen Befunde gibt es zu Eigenanteilen des/r Therapeut:in am Ü‑GÜ-Geschehen?
 

Methode

Das Review wurde in Übereinstimmung mit den Qualitätskriterien der „preferred reporting items for systematic reviews and meta-analyses“ (PRISMA; Liberati et al. 2009) durchgeführt und dokumentiert.

Suchstrategien

Die Literatursuche erfolgte über die elektronischen Datenbanken PsycINFO, PsycArticles, PubMed und PSYNDEX mit den folgenden zwei Suchstrategien:
Strategie 1: (unconscious countertransference OR personal countertransference OR intersubjective countertransference OR Eigenübertragung OR Ko-Übertragung) AND (analy* OR therap*);
Strategie 2: (contribution* of the therapist* OR feeling* of the therapist* OR mutual influence* OR therapist* contribution* OR therapist* feeling* OR contribution* of the analyst* OR feeling* of the analyst* OR analyst* contribution* OR analyst* feeling*) AND (*transference OR therapist* response* OR response* of the therapist* OR analyst* response* OR response* of the analyst*).
Die Suche wurde im August 2022 (Erstsicht) und im November–Dezember 2022 (Zweitsicht) durchgeführt.

Ein- und Ausschlusskriterien und Studienauswahl

Eingeschlossen wurde eine Studie, wenn sie
a.
sich mit dem Eigenanteil des/r Therapeut:in am Ü‑GÜ-Geschehen beschäftigte,
 
b.
auf Deutsch oder Englisch verfasst wurde,
 
c.
als Primärstudie oder Dissertation veröffentlicht wurde,
 
d.
sich auf ein Einzelsetting im psychotherapeutischen Kontext bezog und
 
e.
ausschließlich erwachsene Personen (mindestens 18 Jahre alt) einschloss.
 
Publikationen wurden ausgeschlossen, wenn sie
a.
im gruppentherapeutischen Kontext,
 
b.
im familientherapeutischen Kontext oder
 
c.
im Supervisionskontext
 
durchgeführt wurden.
Der Publikationszeitraum wurde nicht begrenzt. Im ersten Schritt wurden alle durch die Suchstrategien generierten Treffer anhand von Titel und Abstract im Hinblick auf Ein- und Ausschlusskriterien von der Erstautorin und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin unabhängig voneinander geprüft. Divergierende Einschätzungen wurden bis zur Konsensfindung diskutiert. Die als relevant eingestuften Publikationen wurden durch die Lektüre des Volltextes auf endgültige Eignung bewertet. Weitere relevante Studien wurden durch Screening der Literaturverzeichnisse der eingeschlossenen Studien (Schneeballprinzip; Greenhalgh und Peacock 2005) identifiziert.

Ergebnisse

Flowcharts

Die Flowcharts zur Studienauswahl sind in den Abb. 1 und 2 dargestellt.
Suchstrategie 1: Nach Entfernung von Dubletten wurden 263 Studien gefunden. Von diesen blieben nach Titel- und Abstractscreening 62 Studien übrig, die mithilfe der Volltextdurchsicht geprüft wurden. Von den analysierten Volltexten wurden 6 Studien eingeschlossen. (Ausgeschlossen wurden Studien, die keinen Eigenanteil von Therapeut:innen am Übertragungsgeschehen erfassten, k = 31; Fallberichte, k = 22; theoretische Übersichtsarbeiten, k = 3).
Suchstrategie 2: Nach Entfernung von Dubletten wurden 774 Studien gefunden. Von diesen blieben nach Titel- und Abstractscreening 48 Studien übrig, die mithilfe der Volltextdurchsicht geprüft wurden. Von den analysierten Volltexten wurden 4 Studien eingeschlossen. (Ausgeschlossen wurden Studien, die keinen Eigenanteil von Therapeut:innen am Übertragungsgeschehen erfassten, k = 13; Fallberichte, k = 26; theoretische Übersichtsarbeiten, k = 5).
Insgesamt wurden somit 10 Studien (6 Studien nach Suchstrategie 1 und 4 Studien nach Suchstrategie 2) in das Review eingeschlossen.

Datenauswertung

Eine deskriptive Darstellung der Eigenschaften der in das Review eingeschlossenen Studien ist Tab. 1 zu entnehmen. Die eingeschlossenen Studien stammen aus den USA (n = 8), Neuseeland (n = 1) und der Schweiz (n = 1).
Tab. 1
Charakteristika der Einzelstudien
Autor
Land
Design
Anzahl (n) der Therapeut:innen
Untersuchter Eigenanteil
Messung des Eigenanteils
Definition von GÜ
Messung der GÜ
Ergebnisse
Bandura et al. (1960)
USA
Beobachtungsstudie
12
Angst vor Feindseligkeit
Hostility Inhibition Scale
k. A.
k. A.
Therapeut:innen, die wenig Angst vor Feindseligkeit haben, ermutigen ihre Patient:innen eher zum Ausdruck dieser
Cain (2000)
USA
Qualitative Fragebogenstudie
10
Eigener Psychiatrieaufenthalt
Selbstauskunft
Persönliche Erfahrungen des/r Therapeut:in, die einen Einfluss darauf haben, wie er sich gegenüber dem/r Patient: in verhält
Selbstauskunft
Verwundete Heiler:innen haben ein unterschiedliches Maß an Identifikation mit den Patient:innen. Die eigene Psychiatrieerfahrung beeinflusst ihre GÜ sowie ihre Behandlungsphilosophien und -interventionen. Sie zeigen ein hohes Bewusstsein für das Stigma „psychische Krankheit“ und dessen Auswirkungen
Connery und Murdock (2019)
USA
Experimentelles Design
262
Differenzierung des Selbst in Bezug auf die Herkunftsfamilie (DoS)
Differentiation of Self Inventory – Short Form (DSISF)
Ergebnis der Interaktion zwischen Patient:in und Therapeut:in
Reaktionen auf analoge Videos (feindselig-unterwürfig vs. feindselig-dominant), Countertransference Behaviors Questionnaire (CBQ)
Therapeut:innen mit niedrigerem DoS berichten signifikant stärker involvierte GÜ-Reaktionen
Gelso et al. (1995)
USA
Experimentelles Design
68
Homophobie
Daly’s Attitude Scale – LG
Emotionale Reaktionen des/r Therapeut:in, die auch durch eigene Konflikte und Probleme mitbedingt werden
Countertransference Factor Inventory (CFI, modifizierte Version), Erinnerungsfähigkeit an Anzahl der sexuellen Wörter, Angstzustand während der Interaktion (State-Trait Anxiety Inventory, STAI-S), Annäherungs- vs. Vermeidungsverhalten (Beurteilung durch externe Rater)
Homophobie der Therapeut:innen ist mit Vermeidungsverhalten gegenüber lesbischen Patient:innen korreliert.
Weibliche Therapeuten haben größere Erinnerungsprobleme (Anzahl der sexuellen Wörter) als männliche Therapeuten bei der lesbischen Patientin, während männliche und weibliche Therapeuten bei der heterosexuellen Klientin gleich gute Erinnerungswerte hatten
Haarhoff (2006)
Neuseeland
Qualitative Fragebogenstudie mit 4 Gruppen
64
Therapeutische Schemata
Therapists’ Schema Questionnaire
Kognitive, emotionale und behaviorale Reaktionen der Therapeut:innen auf die Patient:innen, die bewusst und zugänglich sind
Therapists’ Schema Questionnaire
In allen vier Gruppen sind die häufigsten Schemata: hohe Ansprüche bezüglich Therapiestandards, sich selbst als überlegene besondere Person betrachten und übermäßige Selbstaufopferung
Hayes und Gelso (1991)
USA
Experimentelles Design
35
Ängstlichkeit
State-Trait Anxiety Inventory (STAI)
GÜ-Verhalten als Rückzug der persönlichen Beteiligung des/r Therapeut:in aus dem therapeutischen Geschehen
Reaktion auf zwei Tonbänder (verführerische vs. selbstunsichere Patientin)
State-Angst ist nur bei den männlichen Therapeuten positiv mit der GÜ-Reaktion (Rückzug) assoziiert
Plotkin (2000)
USA
Qualitative Fragebogenstudie
9
Elterliche Selbstobjekte
Selbstauskunft
k. A.
k. A.
In der Behandlung älterer Menschen können sich bei Therapeut:innen ungelöste Gefühle über das Altern, die Eltern und den Tod reaktivieren
Rhyn und von Wyl (2020)
Schweiz
Querschnittliche Onlineumfrage
409
Verliebtheitsgefühle gegenüber Patient:innen
Selbstauskunft
k. A.
k. A.
57,5 % der Therapeut:innen haben schon Verliebtheitsgefühle gegenüber Patient:innen gehabt. Die typenbildende Inhaltsanalyse ergibt u. a. den Verliebtheitstyp (Verliebtheitsgefühle als GÜ) und den Anziehungstyp (Gefühle als eigene Verliebtheit)
Rosenfield (2020)
USA
Qualitative Fragebogenstudie
7
Interkulturelle GÜ (Gefühle von amerikanischen Therapeut:innen europäische Herkunft gegenüber Patient:innen mit asiatischem Migrationshintergrund)
Selbstauskunft
Alles, was der/die Therapeut:in denkt und fühlt, sei es Wahrheit oder Verzerrung, bewusst oder unbewusst, vom/n Klient:in als Projektion kommend oder der Fantasie des/r Therapeut:in entsprungen
Selbstauskunft
In der Arbeit mit Patient:innen mit asiatischem Migrationshintergrund spielt Folgendes eine Rolle: Einfluss des persönlichen kulturellen Hintergrunds auf die GÜ (1), Auswirkung von Vorurteilen über die asiatische Kultur (2), Bedeutung kultureller Fragen in der Behandlung (3), Parallelen der Erfahrungen (4), negative Reaktionen auf die kulturellen Inhalte der Patient:innen (5) und Bewältigung der interkulturellen Behandlung (6)
Yulis und Kiesler (1968)
USA
Experiment mit Gruppenvergleich
24
Ängstlichkeit
Selbstinterview nach Gleser et al. wird von zwei unabhängigen Ratern auf Angstskala bewertet
Eigene Konflikte des/r Therapeut:in, die Ängste und Abwehrhaltungen hervorrufen können
Reaktion auf drei verschiedene Tonbandaufnahmen (sexuell, feindselig, neutral)
Niedrig-ängstliche Therapeut:innen zeigen weniger GÜ-Reaktion (Rückzug) als hoch-ängstliche Therapeut:innen
 Gegenübertragung, LG lesbian, gay
Davon waren 5 Publikationen Fragebogenstudien, 4 mit qualitativer Vorgehensweise (Cain 2000; Haarhoff 2006; Plotkin 2000; Rosenfield 2020), eine weitere folgte einem „Mixed-methods“-Ansatz (Rhyn und von Wyl 2020).
Vier Studien wiesen ein experimentelles Design auf (Connery und Murdock 2019; Gelso et al. 1995; Hayes und Gelso 1991; Yulis und Kiesler 1968); eine weitere Publikation war eine Beobachtungsstudie (Bandura et al. 1960).
Die Zahl der teilnehmenden Personen betrug 900 und schwankte zwischen 9 (Plotkin 2000) und 409 (Rhyn und von Wyl 2020). Diese Teilnehmenden waren in 6 Studien Studierende/Doktorand:innen bzw. Personen, die im Rahmen einer psychotherapeutischen Ausbildung praktizieren (Bandura et al. 1960; Gelso et al. 1995; Connery und Murdock 2019; Haarhoff 2006; Hayes und Gelso 1991; Yulis und Kiesler 1968) und in 4 Studien Personen, die therapeutisch arbeiten (Cain 2000; Plotkin 2000; Rhyn und von Wyl 2020; Rosenfield 2020). Verfahrens- und Ausbildungshintergründe waren bei Letzteren divers: Es nahmen Sozialarbeiter:innen (n = 11), Psycholog:innen (n = 3), ein Psychiater (n = 1), Psychoanalytiker:innen (n = 9), psychologische und ärztliche Psychotherapeut:innen (n = 409; keine Aussage zu theoretischer Ausrichtung) sowie Paar- und Familientherapeut:innen (n = 2) an den Studien teil. Für alle eingeschlossenen Studien erfolgten die Extraktion der zugrunde liegenden Begriffsbestimmungen von GÜ, die Operationalisierung dieser sowie die Bestimmung der untersuchten Eigenanteile und der verwendeten Instrumente zur Erhebung derselbigen.

Untersuchte Eigenanteile

In den 10 im Review berücksichtigten Studien wurden 8 unterschiedliche Eigenanteile von Therapeut:innen betrachtet: Ängstlichkeit (n = 3), eigener Psychiatrieaufenthalt (n = 1), Homophobie (n = 1), therapeutische Schemata (n = 1), elterliche Selbstobjekte (n = 1), Verliebtheitsgefühle gegenüber Patient:innen (n = 1), interkulturelle GÜ (Gefühle gegenüber Patient:innen mit asiatischem Migrationshintergrund von Therapeut:innen kaukasischer Abstammung; n = 1) und Differenzierung des Selbst (DoS) in Bezug auf die Herkunftsfamilie (n = 1).

Operationalisierung der Eigenanteile

Die Eigenanteile wurden in 5 Studien mithilfe etablierter Messinstrumente durch Selbstauskunft (Connery und Murdock 2019; Gelso et al. 1995; Hayes und Gelso 1991), in einem Fall durch Fremdbeurteilung (Bandura et al. 1960) erhoben. In 5 weiteren Studien erfolgte die Erfassung ebenfalls durch Selbstauskunft, durch ein Interview mit offenen und halbstrukturierten Fragen (n = 1), durch Anwendung eines qualitativen Fragebogens ohne Angaben von Gütekriterien (n = 1), durch ein Interview mit standardisierten offenen Fragen (n = 1), durch Einsatz eines internetbasierten Fragebogens mit geschlossenen Fragen (n = 1), durch Nutzung eines semistrukturierten Fragebogens (n = 1) und durch eine 5‑minütige Selbstinterviewaufgabe.

Definition und Operationalisierung von Gegenübertragung

In den 7 Studien, in denen eine Begriffsbestimmung stattfand, wurde GÜ definiert als:
  • persönliche Erfahrungen des Therapeuten, die einen Einfluss auf das Verhalten gegenüber der Patient:innen haben (Cain 2000; Hanna 1993; Winnicott 1949);
  • Ergebnis der Interaktion zwischen Patient und Therapeut (Connery und Murdock 2019: Interaktionshypothese, Gelso und Hayes 2007);
  • emotionale Reaktionen des Therapeuten, die auch durch eigene Konflikte und Probleme mitbedingt werden (Gelso et al. 1995);
  • Rückzug der persönlichen Beteiligung des Therapeuten aus dem therapeutischen Geschehen (Hayes und Gelso 1991);
  • kognitive, emotionale und behaviorale Reaktionen der Therapeut:innen auf die Patient:innen, die Therapeut:innen bewusst und zugänglich sind (Haarhoff 2006);
  • alles, was der/die Therapeut:in denkt und fühlt, unabhängig davon, ob diese Gefühle ihren Ursprung in der/m Therapeut:in oder der/m Patient:in haben (Rosenfield 2020: vgl. Atwood und Stolorow 1984; Mitchell 1988) und
  • eigene Konflikte der/s Therapeut:in, die Ängste und Abwehrhaltungen hervorrufen können (Yulis und Kiesler 1968).
Gegenübertragung wurde in 6 Studien erfasst: durch Selbstauskunft (n = 2), durch Reaktionen auf Tonbänder/Videoaufnahme (n = 3) und durch eine Kombination aus Selbst- und Fremdbeurteilung (n = 1). In 3 Studien wurde GÜ weder definiert noch operationalisiert (Bandura et al. 1960; Plotkin 2000; Rhyn und von Wyl 2020).

Empirische Befunde zu Eigenanteilen am Übertragung-Gegenübertragung-Geschehen

Der Eigenanteil wurde in 4 Studien als Prädiktor und die GÜ als abhängige Variable festgelegt (Connery und Murdock 2019; Gelso et al. 1995; Hayes und Gelso 1991; Yulis und Kiesler 1968). Ängstlichkeit von Therapeut:innen in unterschiedlichen Facetten (Angst vor Feindseligkeit, Angst als „trait“, Angst als „state“) hatte in allen Studien einen Einfluss auf ihre GÜ-Reaktion. Bandura et al. (1960) fanden heraus, dass Therapeut:innen, die wenig Angst vor Feindseligkeit hatten, ihre Patient:innen eher ermutigten, Feindseligkeit zu zeigen. Yulis und Kiesler (1968), die ein rückzügliches Verhalten aus der therapeutischen Situation als GÜ-Reaktion werteten, fanden dieses verstärkt bei hochängstlichen Therapeut:innen. Eine weitere Studie ergänzte diesen Befund um einen geschlechtsspezifischen Effekt: Trait-Angst war nur bei den männlichen Teilnehmern positiv mit einer rückzüglichen GÜ-Reaktion assoziiert (Hayes und Gelso 1991). Die Fähigkeit, mit Beziehungsgrenzen umzugehen, sich selbst wahrzunehmen und regulieren zu können (Differenzierung des Selbst, DoS) hatte einen Einfluss darauf, wie stark ein/e Therapeut:in in die GÜ-Reaktion involviert ist. Therapeut:innen mit niedrigerer DoS berichteten signifikant stärker involvierte GÜ-Reaktionen als Personen mit einer hohen DoS (Connery und Murdock 2019). Eine weitere Studie beschäftigte sich mit den Besonderheiten der therapeutischen Behandlung älterer Menschen und fand heraus, dass ungelöste Konflikte mit elterlichen Selbstobjekten diese insofern beeinflussen können, als dass bei Therapeut:innen Gefühle über das Altern, die Eltern, den Verlust und den Tod aktiviert werden können (Plotkin 2000). Rhyn und von Wyl (2020) untersuchten Verliebtheitsgefühle und damit assoziierte Phänomene von Therapeut:innen gegenüber Patient:innen. Die quantitativen Ergebnisse zeigten, dass 57,5 % der Teilnehmenden Verliebtheitsgefühle gegenüber Patient:innen berichteten, männliche Therapeuten im Vergleich zu weiblichen Therapeuten 3‑mal häufiger. Die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse differenzierte den Verliebtheitstyp, der diese Gefühle als GÜ und damit als von/m Patient:in verursacht betrachtet, und den Anziehungstyp, der seine Gefühle als eigene Verliebtheitsgefühle definiert. Eine Studie, die sich mit dem Einfluss von Homophobie auf die GÜ beschäftigte, konnte zeigen, dass homophobe Therapeut:innen bei der lesbischen Patientin mehr Vermeidungsverhalten als bei der heterosexuellen Patientin zeigten. Zudem hatten weibliche Therapeuten bei der lesbischen Patientin größere Schwierigkeiten, die Anzahl der verwendeten sexuellen Wörter zu berichten, als dies bei den männlichen Therapeuten der Fall war. Die Vermutung, dass die Teilnehmenden insgesamt mehr GÜ-Reaktionen in Bezug auf die lesbische Patientin zeigen würden, konnte nicht bestätigt werden (Gelso et al. 1995).
Haarhoff (2006) untersuchte als die Therapie beeinflussenden Eigenanteile therapeutische Schemata. Die gängigsten Schemata waren hohe Ansprüche bezüglich Therapiestandards, sich selbst als überlegene besondere Person betrachten und übermäßige Selbstaufopferung. Cain (2000) fand durch Interviews mit Therapeut:innen mit eigener Psychiatrievergangenheit heraus, dass die Erfahrung eines Psychiatrieaufenthaltes Behandlungsphilosophien und -interventionen beeinflusste und das Bewusstsein für das Stigma der „psychischen Krankheit“ erhöhte. Rosenfield (2020) konnte zeigen, dass in der Arbeit von Therapeut:innen kaukasischer Abstammung mit Patient:innen mit asiatischem Migrationshintergrund 6 Themen von allen Befragten Bedeutung zugemessen wurde: dem Einfluss des persönlichen kulturellen Hintergrunds auf die GÜ (1), Auswirkung von Vorurteilen über die asiatische Kultur (2), Bedeutung kultureller Fragen in der Behandlung (3), Parallelen der Erfahrungen (4), negative Reaktionen auf die kulturellen Inhalte der Patient:innen (5) und Bewältigung der interkulturellen Behandlung (6).

Diskussion

Das Review zielte darauf ab herauszufinden, welche therapeutischen Eigenanteile am GÜ-Geschehen in der empirischen Literatur untersucht und wie diese operationalisiert werden. Zudem sollten das den Studien zugrunde liegende begriffliche Verständnis von GÜ sowie die Operationalisierung derselbigen beleuchtet werden.
Die empirischen Befunde zeigen, dass Eigenanteile sowohl einen positiven als auch einen negativen Einfluss auf die therapeutische Beziehung haben können: Biografische Parallelen zum/r Patient:in können eine stärkere emotionale Verbundenheit erzeugen, wenn aber aufgrund eigener Konflikte der Umgang mit aversiven GÜ-Gefühlen misslingt, kann ein Rückzug aus der Beziehung resultieren. Die Studien unterscheiden sich deutlich darin, was unter therapeutischem Eigenanteil verstanden sowie ob und inwiefern GÜ definiert und erfasst wird. Dass Eigenanteile und GÜ begrifflich nicht unbedingt trennscharf sind, zeigt die Studie von Haarhoff (2006). Er betrachtet das Phänomen der GÜ aus einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Perspektive und betont aus dieser heraus, dass die therapeutischen Reaktionen dem/der Therapeut:in bewusst zugänglich sind. Als alternativen Begriff für GÜ spricht er von „therapeutischen Schemata“ als persönliche Überzeugungen der Therapeut:innen.
Diese sind aber nicht nur ein Synonym für GÜ, sondern stellen ebenso einen therapeutischen Eigenanteil dar, nämlich hohe Ansprüche bezüglich Therapiestandards, sich selbst als überlegene besondere Person betrachten und übermäßige Selbstaufopferung. Zieht man die eingangs erwähnte und von Rosenberger und Hayes (2002) geprägte Unterscheidung zwischen „klassischer“ (unbewusste neurotische Reaktion des/r Therapeut:in auf die Übertragung des/r Patient:in), „totalistischer“ (alle Reaktionen des/r Therapeut:in, ob bewusst oder unbewusst, auf Übertragung des/r Patient:in oder durch andere Aspekte ausgelöst) und „moderater“ (Reaktion des/r Therapeut:in als Ausdruck ungelöster Konflikte) Definition von GÜ heran, zeigt sich in den Studien folgendes Muster: In den 7 Studien, in denen eine Begriffsbestimmung von GÜ stattfand, wurde 4‑mal ein moderates (Cain 2000; Gelso et al. 1995; Hayes und Gelso 1991; Yulis und Kiesler 1968) und 2‑mal ein totalistisches (Haarhoff 2006; Rosenfield 2020) Begriffsverständnis zugrunde gelegt. Connery und Murdock (2019) verstehen GÜ als Ergebnis der Interaktion zwischen Patient:in und Therapeut:in und beziehen sich auf die Interaktionshypothese von Gelso und Hayes (2007). Einzig der „Verliebtheitstyp“ in der Studie von Rhyn und von Wyl (2020), der seine Verliebtheit als GÜ-Reaktion und als vom/n Patient:in „übertragen“ verstand, kann im Sinne einer klassischen GÜ-Definition gedeutet werden. Keine/r der Autor:innen definierte GÜ im „klassischen“ Freud’schen Sinne, wonach diese als „unbewusste Reaktion“ des/r Therapeut:in konzeptualisiert wurde. Dies ist insofern wenig überraschend, als dass die Beschäftigung mit Eigenanteilen bereits die Annahme eines therapeutischen Anteils impliziert, der sich durch seine bewusste Wahrnehmung empirisch erfassen lässt.
Folgt man der Konzeptualisierung von Hayes (1995, S. 265) liegt es nahe, Eigenanteile als Origins („areas of unresolved conflict within the counselor“) zu bezeichnen und als eine bestimmte GÜ mitverursachend zu verstehen.
Betrachtet man nun die therapeutischen Eigenanteile der in das Review eingegangenen Studien, wird jedoch deutlich, dass die Begriffsbestimmung von Origins zu kurz greift, da es sich bei den Eigenanteilen nicht ausschließlich um konflikthafte, ungelöste Themen handelt. Die Studie von Cain (2000) zeigte, dass die Erfahrung eines eigenen Psychiatrieaufenthaltes dazu führen kann, dass sich der/die Therapeut:in eher mit dem/der Patient:in identifiziert und sich dadurch auch sein/ihr Verständnis für den/die Patient:in verbessert. In eine ähnliche Richtung weist die Studie von Rosenfield (2020), die Therapeut:innen mit kaukasischer Abstammung hinsichtlich ihrer Überzeugungen, ihrer Gefühle und ihrer Verbundenheit mit Patient:innen mit asiatischem Migrationshintergrund befragt hat. Auch hier wird deutlich, dass die geteilte Migrationserfahrung eine stärkere Einfühlung in den/die Patient:in ermöglichen kann, jedoch auch konflikthafte Inhalte (zum Beispiel Vorurteile) auftauchen können. Nah an dem Verständnis von Hayes bewegt sich die Studie von Plotkin (2000), die zeigt, dass ungelöste Konflikte mit elterlichen Selbstobjekten bei der Arbeit mit älteren Patient:innen reaktiviert werden können. Ebenso lässt sich die von Gelso et al. (1995) untersuchte Homophobie als konflikthaftes Thema betrachten, das die Autor:innen wie folgt definieren: „prejudicial attitudes and negative stereotypes toward gay men and lesbian women, generally seen as arising from fear, dislike, or hatred of homosexuality“ (S. 357) (vgl. Daly 1990; Fassinger 1991; Martin 1982). Diese Studie weist deutliche Parallelen zu den Publikationen von Bandura et al. (1960), Hayes und Gelso (1991) sowie Yulis und Kiesler (1968) auf, die unterschiedliche Ausprägungen von Ängstlichkeit untersuchten. Zum einen ist der Affekt der Angst auch bei der Homophobie basal, zum anderen scheint es sowohl bei ängstlichen als auch bei homophoben Therapeut:innen eine Tendenz zu geben, sich bei aversivem Patient:innenverhalten aus dem therapeutischen Geschehen zurückzuziehen. Das Patient:innenverhalten dient diesen Studien als Trigger („actual counseling events that touch upon or elicit counselors’ unresolved issues“, Hayes 1995). Ob und inwiefern das Gegenüber des/r Therapeut:in berücksichtigt wurde, stellt einen weiteren Punkt dar, in dem sich die Publikationen unterscheiden. In 3 Studien wurde das Patient:innenverhalten als Trigger für ein bestimmtes Verhalten betrachtet, in 3 weiteren bestimmte Merkmale von Patient:innen definiert (Alter, Homosexualität, asiatischer Migrationshintergrund), in 4 Studien spielte die Patient:innenseite keine Rolle. Wie schon die verschiedenen den Studien zugrunde liegenden GÜ-Definitionen gezeigt haben, deutet auch dieser Aspekt darauf hin, dass die Autor:innen eine unterschiedliche Haltung dazu zu haben, wie bedeutsam Patient:innenvariablen hinsichtlich der GÜ sind.
Die uneinheitliche Studiengestaltung verdeutlicht, dass es an einem Konzept, das Eigenanteile im Kontext des GÜ-Geschehens begreift, mangelt. Wir schlagen vor, das Konzept von Hayes (1995) um den Aspekt der Eigenanteile zu erweitern. Diese als Origins zu konzeptualisieren erscheint, wie bereits festgestellt, problematisch, da eine derartige begriffliche Einengung der Komplexität und Vielgestaltigkeit dieser nicht gerecht wird.
Sinnvoller ließen sich Eigenanteile als eigenen Unterpunkt fassen und in folgende drei Aspekte aufteilen: Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen, soziodemografische Merkmale, biografische Erfahrungen (subjektive Einschätzungen vs. objektive Informationen).
Eine GÜ würde sich demnach zusammensetzen aus: Eigenanteilen, Triggern/Auslösern, kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Manifestationen, Auswirkungen auf Prozess und Ergebnis der Therapie und Strategien im Umgang.
Die geringe Anzahl der in das Review eingegangenen Studien lässt sich damit begründen, dass viele Studien Fallberichte darstellen und es, wie einleitend vermutet, an empirisch hochwertigen Untersuchungen zu dem Thema mangelt.

Stärken und Limitationen

Positiv ist hervorzuheben, dass die vorliegende Arbeit auf einer systematischen Suche und Auswahl von Studien beruht, die nicht auf eine zeitliche Spanne begrenzt war. Die therapeutischen Eigenanteile und deren Einfluss auf das Übertragungsgeschehen sind ein bislang noch zu wenig (systematisch) betrachtetes Thema, obgleich Übertragung zu den wichtigsten psychodynamischen Konzepten gehört. Eine weitere Stärke besteht darin, dass Therapeut:innenfaktoren in den Blick genommen wurden. Wie Studien der jüngeren Vergangenheit gezeigt haben, unterscheiden sich Therapeut:innen hinsichtlich der durchschnittlichen Qualität ihrer Therapiebeziehungen, der Wahrscheinlichkeit von Therapieabbrüchen und der Therapieergebnisse ihrer Patient:innen und hinsichtlich ihrer individuellen interpersonellen Fähigkeiten (Anderson et al. 2009; Baldwin und Imel 2013; Del Re et al. 2012; Gries et al. 2020; Gumz 2020). Es lässt sich vermuten, dass der Umgang mit GÜ-Gefühlen ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Therapeut:innen ist, das die Qualität der therapeutischen Arbeit maßgeblich beeinflusst. Die Befunde aus dem Review deuten zudem darauf hin, dass Eigenanteile und GÜ sinnvollerweise assoziiert betrachtet werden sollten.
Einschränkend muss erwähnt werden, dass die Studiensuche auf englische und deutsche Artikel begrenzt war.
Zudem stellte bereits die Formulierung der Suchstrategien eine Herausforderung dar, da die Eigenanteile von Therapeut:innen am Ü‑GÜ-Geschehen mit unterschiedlichen und nicht zwangsläufig vom Deutschen ins Englische zu übersetzenden Begrifflichkeiten gefasst werden (zum Beispiel Begriff der Eigenübertragung). Auch, dass an den ausgewählten Studien nur relativ wenig ausgebildete Analytiker:innen teilgenommen haben, kann kritisch angemerkt werden. Weitere Limitationen stellen die uneinheitliche Studiengestaltung sowie der in einigen Studien unklare fachliche Hintergrund dar, was die Vergleichbarkeit der Studien deutlich einschränkt. Vier Studien erfassten GÜ nicht explizit. Die 6 Studien, die GÜ berücksichtigten, operationalisierten diese sehr unterschiedlich (qualitativ durch Selbstauskunft, quantitativ durch Fragebogen bzw. Reaktionen auf Tonbänder).
Auch die untersuchten Eigenanteile waren – trotz inhaltlicher Überschneidung in Bezug auf die Ängstlichkeit von Therapeut:innen – eher heterogen.

Fazit und Ausblick

Das Review hat gezeigt, dass es noch einigen Forschungsbedarf auf dem Gebiet der Eigenanteile gibt. Hinsichtlich unserer vorgeschlagenen Modifikation der Konzeption von Hayes (1995) könnten sich Forscher:innen mit der Frage beschäftigen, ob therapeutische Eigenanteile noch weitere Unterpunkte umfassen und das theoretische Modell um diese erweitern. Zudem erscheint es wichtig, die Zusammenhänge von Eigenanteilen und GÜ besser zu verstehen.
Wie reflektieren Therapeut:innen über Eigenanteile am Ü‑GÜ-Geschehen, welche Haltung wird hierzu vertreten? Wie stark ist eine GÜ-Reaktion bzw. ein GÜ-Gefühl durch Eigenanteile des/r Therapeut:in bestimmt? In welchen Konstellationen haben Eigenanteile eine größere Bedeutung am Ü‑GÜ-Geschehen? Gibt es so etwas wie „harte“ und „weiche“ Eigenanteile?
Zukünftige Forschungsvorhaben sollten auch Kontextbedingungen miterfassen und somit das Thema, in welchen Therapiesituationen welche Eigenanteile aktiviert werden, beleuchten.
Um die komplexe therapeutische Beziehung besser zu verstehen und um berufsethische Prinzipien einzuhalten (zum Beispiel Vermeidung von Machtmissbrauch durch den/die Therapeut:in) erscheint es von hoher Relevanz, die therapeutischen Eigenteile weiterzubeforschen. Voraussetzung dafür ist eine konsistente und eindeutige Definition, was unter Eigenanteilen im Kontext der GÜ verstanden wird. Für die Operationalisierung der Konzepte, aber auch für die theoretische und klinische Vermittlung der Inhalte im Psychotherapiestudium wird es nützlich sein, die Begriffe zu vergleichen, zu systematisieren und einen Konsens zu finden (Gumz 2020; Gumz et al. 2014; Gumz und Geyer 2021). Wie Hayes et al. (2011) betonen, sind nicht GÜ-Gefühle problematisch, sondern ein misslungener Umgang mit diesen. Dementsprechend sollte bereits in der Psychotherapieausbildung im Rahmen von Selbsterfahrung und Supervision besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, welche eigenen Anteile die therapeutische Situation mitgestalten.

Interessenkonflikt

J. A. Berger, D. Kästner und A. Gumz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Therapeutische Eigenanteile in der Gegenübertragung
Ein systematischer Überblick über empirische Befunde
verfasst von
J. A. Berger, M.Sc. Psych.
Dr. Dipl.-Psych. D. Kästner
Prof. Dr. A. Gumz
Publikationsdatum
21.12.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-023-00525-9

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