5.1.1 Betagte Pflegeheimbewohnende – Menschen mit komplexem Versorgungsbedarf
Rund 700.000 Menschen und damit ein Fünftel (20,7 %) aller gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen in Deutschland leben in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege (BMG
2022). Sie sind i. d. R. hochbetagt – 77 % der vollstationär gepflegten Frauen und 50 % der Männer sind mindestens 80 Jahre alt (Matzk et al.
2022) – und von multiplen Beschwerdebildern betroffen. Körperliche ebenso wie psychische Beeinträchtigungen sowie Verhaltensstörungen und deren oftmals progrediente Verläufe führen zu einem hohen Grad an Fragilität und Vulnerabilität. Potenziert ist damit auch der Bedarf und die Komplexität einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung, die auf den Erhalt einer bestmöglichen Lebensqualität und eines höchstmöglichen Grades an Autonomie der Bewohnenden abzielt.
Die hohe Prävalenz der Demenz
ist dabei eine zentrale Herausforderung für alle Beteiligten: Im Schnitt gelten rund zwei Drittel aller Bewohnenden (69,0 %) in deutschen Pflegeheimen als dementiell erkrankt (Behrendt et al.
2022a). Im Laufe ihrer Erkrankung tritt bei der Mehrzahl von ihnen das sogenannte
herausfordernde Verhalten (BPSD – Behavioral and Psychological Symptoms in Dementia) auf – und damit Apathie, Depressionen, Angststörungen, Aggressivität, Hinlauftendenzen oder auch gestörte Tag-Nacht-Rhythmen (Preuss et al.
2016; vgl. auch Brodaty und Arasaratnam
2012; DGPPN und DGN
2016; DGPPN). In welcher Intensität und Art dieses herausfordernde Verhalten bei den Betroffenen in Erscheinung tritt, unterscheidet sich je nach Status und Art der dementiellen Erkrankung – und unterstreicht den Anspruch an eine angemessene (nicht-) pharmakologische Prävention und Reaktion (DGPPN und DGN
2016; DGPPN).
Als weitere zentrale Herausforderung seitens der Bewohnenden und gleichermaßen Bedingungsfaktor eines angemessenen Arzneimitteleinsatzes sei hervorzuheben, dass der Umzug in eine Pflegeeinrichtung für diese Menschen in der Regel den Einzug an den Ort der letzten Lebensphase darstellt – und damit auch des Sterbens. Eine aktuelle Analyse mit Routinedaten der AOK zeigt: Ein Drittel aller im Jahr 2019 verstorbenen AOK-Versicherten (31,0 %) lebte in einem Pflegeheim (Schwinger et al.
2022).
Die Versorgung von Bewohnenden meint dabei nicht nur die Pflege und die Arzneimittelversorgung, sondern auch die haus- und fachärztliche Performanz. Eine im Kontext des Pflege-Reports 2017 durchgeführte Befragung von Pflegekräften zum Einsatz von Antipsychotika
bei dementiell erkrankten Pflegeheimbewohnenden unterstreicht das Ineinandergreifen von pflegerisch und medizinisch Versorgenden: Ein Viertel (26,7 %) der Befragten wirkte demnach regelmäßig, etwas mehr als die Hälfte (57,4 %) gelegentlich auf die Verordnung von Psychopharmaka hin (Schwinger et al.
2017). Die Arzneimittelversorgung von Bewohnenden in deutschen Pflegeheimen gliedert sich ein in eine komplexe, berufsgruppen- und auch sektorenübergreifende Gesamtversorgung durch ambulant tätige Haus- und Fachärztinnen und -ärzte, Pflegekräfte, therapeutische Fachleute, Apothekerinnen und Apotheker oder auch den Rettungsdienst und das Krankenhauspersonal. Sie bringt erhebliche Herausforderungen für die gesundheitlich Versorgenden ebenso wie für die Bewohnenden selbst und ihre Angehörigen mit sich. Das Pflegeheim ist dabei ein Setting, in dem diese Menschen wohnen und die Arzneimittelversorgung mehrheitlich stattfindet (Behrendt et al.
2022b).
5.1.2 Potenziell kritische Arzneimitteleinsätze und ihre Risiken für betagte Pflegeheimbewohnende
Insbesondere die Morbidität und das Alter von Pflegeheimbewohnenden wirken in der Summe wie ein Verstärker der ohnehin mit zahlreichen Wirkstoffen assoziierten unerwünschten Arzneimittelwirkungen.
Als ursächlich für dieses Risikoniveau gelten vor allem altersbedingte physiologische Veränderungen wie eine zunehmende Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und eine beeinträchtigte Nieren- und Leberfunktion (Bain et al.
2017; Clegg et al.
2013; Glaeske et al.
2012). Die sich verändernde Verstoffwechselung (Pharmakokinetik bzw. Pharmakodynamik) bei betagten Menschen führt zu einer höheren Empfänglichkeit für sedierende und anticholinerge Nebenwirkungen (Holt et al.
2010). Hinzu kommen unter anderen medikamentöse Wechselwirkungen aufgrund der häufig praktizierten Polymedikation
(Leitliniengruppe Hessen und DEGAM
2021). Mit zunehmendem Alter und abnehmender Immunabwehr steigt ferner das Risiko für Infektionskrankheiten, die ebenso i. d. R. medikamentös behandelt werden – und in der Summe damit auch das Risiko für unerwünschte Arzneimittelinteraktionen (Corsonello et al.
2015).
Die Gabe von antipsychotischen Wirkstoffen bei dementiell erkrankten Bewohnenden bezeichnet einen wichtigen Aspekt der Arzneimittelversorgung im Pflegeheim – nicht zuletzt angesichts der beträchtlichen Prävalenz der Demenz. So gelten Antipsychotika nach Analgetika als die am zweithäufigsten verordneten Arzneimittel bei diesen Bewohnenden (Huber et al.
2012; Jacob et al.
2017). Der klinische Nutzen wird hier – im Abgleich mit den erheblichen Risiken – als moderat eingeschätzt (Kirkham et al.
2017). So erhöhen sich bei einer Antipsychotika-Einnahme insbesondere die Risiken für zerebrovaskuläre, d. h. die Gehirndurchblutung betreffende Störungsbilder, für einen rascheren Abbau kognitiver Fähigkeiten und letztlich für eine erhöhte Mortalität bei betagten dementiell erkrankten Menschen (ausführlicher in Behrendt et al.
2022a). Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) formulieren in der Leitlinie
Demenzen (
2016) explizit: Antipsychotika seien bei erheblicher und persistierender BPSD-Symptomatik nur als letztes Mittel der Wahl, kurzfristig, niedrig dosiert und engmaschig kontrolliert zu verabreichen. Eine Gabe von Antipsychotika sei darüber hinaus, so das britische Pendant, bei Verbesserung ebenso wie bei Ausbleiben der BPSD-Symptomatik zu beenden (NICE
2018).
Ebenso kann die Dauereinnahme von Benzodiazepinen
und Z-Substanzen
– hierzu zählen Anxiolytika, aber auch Hypnotika und Sedativa wie bspw. Zolpidem und Zopiclon – zu vielfältigen somatischen, psychiatrischen und neuropsychologischen Beschwerden führen. Insbesondere aufgrund ihres hohen Risikos für eine Toleranz- und Suchtentwicklung sind diese Wirkstoffe maximal vier Wochen verordnungsfähig (G-BA
2020; Schröder
2013). Ein großer Teil der Medikamentenabhängigkeit bezieht sich auf genau diese Arzneimittel (Buth et al.
2019; Janhsen et al.
2015; Verthein et al.
2013; Wolter
2017; Wucherer et al.
2017). Kurzfristig können sie jedoch u. a. bei Angst- und Schlafstörungen, bei Epilepsie oder auch bei Spasmen indiziert sein (Azermai et al.
2011a; Bourgeois et al.
2012; Verthein et al.
2016). Während die Verordnungsprävalenz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen in vielen Ländern zurückgeht, ist diese Reduktion bei Älteren wesentlich geringer ausgeprägt und die Prävalenz des (langfristigen) Einsatzes sehr hoch (Jackson et al.
2014; Kurko et al.
2015).
Bei Pflegeheimbewohnenden bzw. generell bei betagten Menschen zählen diese Wirkstoffe zu den häufigsten Verordnungen potenziell inadäquater Medikation
(u. a. Allegri et al.
2017; Anrys et al.
2018; Barnett et al.
2011; Herr et al.
2017; Hillen et al.
2019; Parsons et al.
2012; Schwabe und Paffrath
2015). Gemeint sind hiermit Arzneimittel, deren Nutzen bei Betagten aus klinischer Sicht als geringer einzuschätzen ist als deren Risiken und Nebenwirkungen (Thiem
2012). Relevante Risiken betreffen hierbei unter anderen ansteigende Leberwerte und gastrointestinale Blutungen (DEGAM
2017). Die in Deutschland seit 2010 etablierte und aktuell überarbeitete Zusammenstellung von 83 kritischen Wirkstoffen und ihren sichereren Behandlungsalternativen ist die PRISCUS-Liste (Holt et al.
2010).
Als stärkster Prädiktor für die Verordnung einer potenziell inadäquaten Medikation für Ältere gilt die Polymedikation (Morin et al.
2016; Nothelle et al.
2017; Pohontsch et al.
2017). Die Definitionen in der Forschung variieren jedoch von mindestens fünf bis mindestens zehn in einem bestimmten zeitlichen Rahmen und Setting verordneten unterschiedlichen Wirkstoffen (Masnoon et al.
2017). Zu den schwerwiegenden Folgewirkungen der Polymedikation zählen u. a. eine Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten (Peron et al.
2011), das Auftreten von Delirien (Bohlken et al.
2017) und somatische Funktionsbeeinträchtigungen (Maher et al.
2014). Das Risiko für Arzneimittelinteraktionen kann neue Beschwerdebilder und damit weitere Verordnungen hervorrufen. Polymedikation gefährdet nicht zuletzt die Adhärenz der Patientinnen und Patienten (Leitliniengruppe Hessen und DEGAM
2021). Die Auswertung von Routinedaten einer deutschen Krankenkasse identifizierte Polymedikation als stärksten Risikofaktor für den Kontakt zu Akutversorgenden, die den Bereitschaftsdienst, den Besuch der Notaufnahme und ungeplante Krankenhauseinweisungen von Pflegeheimbewohnenden umfassten (Fassmer et al.
2020; weitere Befunde zur erhöhten Hospitalisierungswahrscheinlichkeit vgl. Cherubini et al.
2012; Lalic et al.
2016; Wang et al.
2018).
Der Beitrag möchte vor diesem Hintergrund, dekliniert an vier Beispielen häufiger und als potenziell kritisch einzuschätzender Arzneimitteleinsätze die Herausforderungen, die Praxis und die Beeinflussbarkeit der medikamentösen Behandlung von Pflegeheimbewohnenden vorstellen und diskutieren:
-
den dauerhaften Einsatz von Antipsychotika bei Demenz,
-
den dauerhaften Einsatz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen,
-
die Verordnung potenziell für Ältere ungeeigneter Wirkstoffe gemäß PRISCUS-Liste sowie
-
die häufig praktizierte Polymedikation.
Ein erhöhtes Risiko für Stürze (Berry et al.
2013; Bor et al.
2017; DEGAM
2017; Endres et al.
2016; Henschel et al.
2015; Landreville et al.
2013; Olazaran et al.
2013; Rojas-Fernandez et al.
2015; Seppala et al.
2018; Wang et al.
2018) sowie eine durch die entsprechenden Neben- und Folgewirkungen der Medikation reduzierte Lebensqualität (DGPPN und DGN
2016; Harrison et al.
2018; Leitliniengruppe Hessen und DEGAM
2021) ist allen hier betrachteten vier Arzneimitteleinsätzen gemein.
Die aus strukturierten Literaturrecherchen und Auswertungen von AOK-Routinedaten gewonnenen Erkenntnisse gehen insbesondere auf das im Juli 2021 beendete Innovationsfonds-Projekt
Qualitätsmessung mit Routinedaten in der Pflege (QMPR) zurück (Behrendt et al.
2022a; Behrendt et al.
2022b). Eine Analyse zum Auftreten multipler kritischer Arzneimitteleinsätze in bestimmten Einrichtungen wurde eigens für diesen Beitrag ergänzt.