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Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin 1/2024

Open Access 02.12.2022 | Begutachtung | Konzepte – Stellungnahmen – Perspektiven

Präklinische Notfallthorakotomie in der Berliner Notfallrettung – Darstellung der Umsetzung im Land Berlin und Diskussion erster Erkenntnisse

verfasst von: Dr. med. Tom Malysch, Dr. med. Florian Breuer, Justus Wolff, Dr. med. Stefan Poloczek, Dr. med. Janosch Dahmen

Erschienen in: Notfall + Rettungsmedizin | Ausgabe 1/2024

Zusammenfassung

Im Jahr 2015 fand das Thema „traumatisch bedingter Herz-Kreislauf-Stillstand“ erstmalig Einzug in die aktualisierten Reanimationsleitlinien des European Resuscitation Council. Neben dem speziell anzuwendenden Maßnahmenbündel mit Atemwegsmanagement, Therapie der Hypovolämie, externer Blutungskontrolle und beidseitiger Thoraxentlastung sollte auch eine Notfallthorakotomie bei geeigneten Patienten erwogen werden. Um dieses Vorgehen systematisch in der Berliner Notfallrettung zu etablieren und standardisieren, hat die Ärztliche Leitung Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr verschiedene Maßnahmen unternommen, um die optimale Ausnutzung der Schlüsselfaktoren Expertise, „elapsed time“, Equipment und „environment“ sicherzustellen. Dabei konnten im Laufe der ersten 2,5 Jahre auch bereits wichtige Erfahrungen aus der neuen Versorgungsstruktur dieser schwerstverletzten Patienten gewonnen werden.
Hinweise
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Hintergrund

Die präklinische Versorgung schwerstverletzter Patienten wird seit vielen Jahren kontrovers diskutiert. Bereits 2010 konnte anhand von rechtsmedizinischen Erkenntnissen aufgezeigt werden, dass mehr als die Hälfte der Todesfälle nach Trauma in der Präklinik stattfinden und diese Patienten niemals ein Krankenhaus erreichen. Dabei stellte sich in den entsprechenden Untersuchungen ein relevanter Anteil der Todesfälle als potenziell vermeidbar dar, wenn bereits präklinisch eine suffiziente Traumaversorgung erfolgt wäre [1]. Nicht entlastete Spannungspneumothoraces wurden dabei als potenziell reversible Ursache vergleichbar häufig wie eine nicht entlastete Perikardtamponade festgestellt [1, 2]. Im Jahr 2015 fand das Thema „traumatisch bedingter Herz-Kreislauf-Stillstand“ („traumatic cardiac arrest“ [TCA]) erstmalig Einzug in die aktualisierten Reanimationsleitlinien des European Resuscitation Council (ERC; [3]). In diesen wurde nun ein klarer Handlungsstrang definiert, dessen zielgerichtete Abarbeitung zum raschen und konsequenten Beheben der reversiblen Ursachen nach traumatisch bedingtem Herz-Kreislauf-Stillstand führen soll (Infobox 1). Neben der Priorisierung eines speziell beim TCA anzuwendenden Maßnahmenbündels mit Atemwegsmanagement, Therapie der Hypovolämie, externer Blutungskontrolle und beidseitiger Thoraxentlastung führte das „Erwägen einer Notfallthorakotomie“ („prehospital and emergency department resuscitative thoracotomy“ [PERT]) zu einer großen Kontroverse innerhalb der Notfallmedizin [4]. Mittels kritischer Betrachtungen als „heroische Einzeltat“ bis hin zu „chirurgischem Vandalismus“ wurde zunächst oftmals fernab der Fachlichkeit diskutiert. Allerdings spiegelte dies im Grunde allenfalls die bisher im deutschsprachigen Raum fehlende systematische Auseinandersetzung und Erfahrung mit dieser Thematik wider [4]. International konnte wiederholt ein neurologisch intaktes Überleben nach traumatisch bedingtem Herz-Kreislauf-Stillstand, insbesondere auch in extremis nach Notfallthorakotomie, beschrieben werden [510]. In einem internationalen systematischen Review konnte inzwischen gezeigt werden, dass bis zu 12 % der Patienten nach TCA und präklinischer Notfallthorakotomie („prehospital resuscitative thoracotomy“ [PHRT]) bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus überleben, davon überwiegend mit gutem neurologischem Outcome [11]. Aus den Daten der vermeidbaren Traumatodesfälle von 2010 war darüber hinaus bereits zu schlussfolgern, dass bei gegebener Indikation ein invasives Vorgehen konsequent bereits in der Präklinik erfolgen muss, so auch die präklinische Durchführung der PHRT. Schlussendlich führte dies in der Aktualisierung der „ERC guidelines“ 2021 zu einer weiteren Festigung des TCA-Algorithmus, insbesondere aber auch des Stellenwerts der Notfallthorakotomie (Abb. 1; [12]).
In der Berliner Notfallrettung werden durchschnittlich 3–4 Reanimationen nach TCA pro Woche begonnen. Neben den schweren stumpfen Traumata mit potenziell reversiblen Blutungsursachen in Thorax und Abdomen zeigte sich ebenso, dass penetrierende Verletzungen, vorwiegend in Form scharfer Gewalt, keine Seltenheit darstellten [13]. Bei Homiziden kam es demnach vermehrt zu Verletzungen des Körperstamms, insbesondere des Thorax, sodass auch hier neben der Entlastung von Spannungspneumothoraces ebenso die Entlastung von Perikardtamponaden und Kontrolle von Blutungen (auch intrathorakal und intraabdominell) in den Fokus genommen werden müssen. Um diesen oft jungen Patienten eine reale Überlebenschance zu bieten, muss aufgrund der bestehenden Leitlinien und Datenlage das Vorgehen des TCA-Algorithmus einschließlich einer PHRT (wenn indiziert) in der Notfallrettung systematisch implementiert werden.

Darstellung der Umsetzung in Berlin

Die Ärztliche Leitung Rettungsdienst im Land Berlin trägt gemäß Berliner Rettungsdienstgesetz (RDG) die medizinische und organisatorische Gesamtverantwortung für den Rettungsdienst im Land Berlin. In dieser Verantwortung ist sie zur Umsetzung des jeweils aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft und Technik in der präklinischen Notfallmedizin gesetzlich verpflichtet. Damit unter Berücksichtigung der „ERC Guideline“ zum traumatisch bedingten Herz-Kreislauf-Stillstand ein funktionierendes Konzept zur Verbesserung der Patientenversorgung flächendeckend etabliert werden kann, müssen verschiedene Komponenten berücksichtigt und integriert werden. In der Leitlinie selbst werden die unmittelbaren Voraussetzungen zur Notfallthorakotomie durch das Prinzip der „4 E“ (Expertise, „elapsed time“, Equipment, „environment“) abgebildet, welches sich aus konzeptioneller Sicht nach Ansicht der Autoren auch insgesamt auf den Reanimationsalgorithmus nach Trauma anwenden lässt. Die Durchführung der Notfallthorakotomie selbst scheint zwar die markanteste Maßnahme des Algorithmus zu sein, ist ohne Einbettung in den Gesamtablauf jedoch nicht sinnvoll und sollte nur erfolgen, wenn alle anderen Punkte des Algorithmus schnell und sachgerecht adressiert worden sind. Dabei können die 4 E nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern auch übergreifend als Leitfaden für die Umsetzung einer Versorgungsstruktur für den TCA in Organisationsverantwortung dienen. Dies soll nachfolgend exemplarisch für die Berliner Notfallrettung Erläuterung finden.

Expertise

Um die entsprechende Expertise in der Berliner Notfallrettung zu etablieren, galt es zuerst, sowohl den Ablauf einer Reanimation nach traumatisch bedingtem Herz-Kreislauf-Stillstand als auch die damit verbundenen Maßnahmen in den medizinischen Handlungsanweisungen in Form von „standard operating procedures“ (SOP) zu verankern (Abb. 2 und 3) und entsprechend zu schulen. Begonnen wurde dies im Jahre 2020 für das Rettungsdienstfachpersonal im Rahmen der jährlich notwendigen Rezertifizierung. Hierbei stand der Ablauf der Reanimation insgesamt und die Auseinandersetzung mit dem Material im Vordergrund. Im nächsten Schritt sollte das notärztliche Personal auf diese Maßnahmen vorbereitet werden, wobei mit mehr als 500 Notärzten verschiedenster Erfahrungsstufen im Berliner Notarztdienst zunächst einmal keine flächendeckende, qualitativ ausreichende Schulung in Bezug auf die PHRT möglich schien. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit bezogen auf den einzelnen Notarztstandort sehr gering ist, sodass eine regelhafte praktische Durchführung und damit „Routine“ unwahrscheinlich ist. Somit wurde entsprechend den Empfehlungen des Bundesverbands der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst für kritische Maßnahmen unter schwierigen Bedingungen auf das „System des gestaffelten Nachrückens“ zurückgegriffen, um besonders erfahrenere Notärzte zusätzlich an die Einsatzstelle zu bringen [14]. Da ein Nachrücken im wörtlichen Sinne bei einem Zeitverzug von nur wenigen Minuten bei der PHRT schon eine Kontraindikation zur Durchführung der Maßnahme darstellen kann, war es notwendig, Strukturen für eine unmittelbare Parallelalarmierung zu etablieren, sodass hierfür die Luftrettung und der Oberarzt vom Dienst (OAvD) vorgesehen wurden [15]. Für die Anforderungen an Notärzte in der Luftrettung wird ein entsprechendes Kursformat zur Schulung in PHRT gefordert, ebenso für die Oberärzte der Berliner Feuerwehr. Fachliche Vorerfahrungen oder gar eine chirurgische Weiterbildung spielen dabei eine untergeordnete Rolle, da die PHRT nach Teilnahme an entsprechenden Schulungsformaten suffizient durch Notärzte verschiedenster Grundfachrichtungen durchgeführt werden kann [11].

„Elapsed time“

Zusätzlich wurde die Alarm- und Ausrückeordnung der Berliner Notfallrettung entsprechend angepasst. Aufgrund der gemäß Berliner Rettungsdienstgesetz vorhandenen standardisierten Notrufabfrage mit differenziertem Protokoll und sich daraus ergebenden möglichen 4608 „dispatch codes“ kann eine sehr differenzierte Anbindung der vor Ort benötigten Einsatzmittel erfolgen. Somit kann hierdurch indirekt neben der erforderlichen Expertise bei gegebener Komplexität auch die Qualifikation oder Ausstattung, die am Einsatzort benötigt wird, berücksichtigt werden. Auf Basis dessen erfolgt seither regelhaft die additive Alarmierung des OAvD und/oder eines Luftrettungsmittels (RTH oder ITH) bei entsprechenden Einsatzanlässen (Infobox 2). Hierdurch ist auch gewährleistet, dass die notwendigen Einsatzmittel frühzeitig, möglichst sogar noch vor Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstands am Einsatzort eintreffen.

Equipment

Neben der Etablierung der Expertise zu TCA und PHRT zeigte sich ebenso die zwingende Notwendigkeit, das Equipment zur Durchführung dieser Maßnahmen zu optimieren. Beim Blick in andere Berufsfelder abseits des Rettungsdiensts ist dabei hinreichend belegt, dass das Arbeitsplatzdesign sowohl die Performance als auch die Mitarbeiterzufriedenheit stark beeinflusst [16, 17]. Demnach ist es entscheidend, dass auch das medizinische Equipment inkl. der Notfallrucksäcke/Notfalltaschen mit entsprechend großer Sorgfalt konzeptioniert wird, um schlussendlich als wichtige Systemvoraussetzung eine Versorgung der Patienten auf bestmöglichem Niveau zu gewährleisten.
Als Nachfolger für die zuvor vorhandenen Thoraxdrainage-Sets wurde 2020 nach Veröffentlichung der neuen SOP ein umfassenderes chirurgisches Set, ähnlich einem OP-Sieb, an alle bodengebundenen notarztbesetzten Rettungsmittel ausgeliefert. Das „chirurgische Notfallset Berlin für C‑Problem“ oder kurz „C-Set Berlin“ beinhaltet ein erweitertes chirurgisches Instrumentarium (u. a. atraumatische Gefäßklemmen, Hautklammergerät, Rippensperrer, Gigli-Säge). Das neue Set soll im Rahmen der Versorgung eines TCA bis hin zur PHRT benutzt werden, aber auch bei anderen Indikationen, welche schwerpunktmäßig ein C‑Problem darstellen und invasiv versorgt werden müssen, zum Einsatz kommen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im Modul für das Atemwegsmanagement ebenso ein „chirurgisches Notfallset für A‑Problem“ (A-Set) vorhanden ist.
Im Rahmen der Probephase mit dem neuen „C-Set Berlin“ zeigte sich allerdings, dass aufgrund des Umfangs und der Komplexität des Sets vor allem Nachbesserungsbedarf hinsichtlich besserer Übersichtlichkeit sowie stärkerer Modularität entlang einzelner Arbeitsschritte und Interventionen bestand. Ebenso mussten aber auch ökonomische Aspekte mehr Berücksichtigung finden, damit auch bei „kleineren“ Maßnahmen wie einer Thoraxdrainagenanlage nicht das gesamte Set/Instrumentarium geöffnet und anschließend verworfen werden muss. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein modularer Aufbau im Vergleich zu einem großen Set maßgeblich die Organisation der Materialien und damit die intuitive Benutzbarkeit verbessert [18, 19]. Im Rahmen der weiteren Planung wurden somit schließlich die in Infobox 3 dargestellten primären Designziele für die neu zu konzeptionierende Tasche festgelegt.
Im Endergebnis wurde eine Tasche entwickelt (Projekttitel PERT-Tasche), die in 4 Abschnitte gegliedert ist und auch ein im Inhalt deutlich optimiertes „C-Set Berlin“ enthält, wie in Tab. 1 dargestellt (Abb. 4 und 5).
Tab. 1
Inhaltsverzeichnis „C-Set Berlin“ in PERT Tasche
Abschnitt „GRÜN“:
Persönliche Schutzausrüstung, Vorbereitung auf Maßnahmen
Modul 1
1 × sterile Handschuhe Gr. M
1 × sterile Handschuhe Gr. L
1 × Schutzbrille
1 × Markierungsstift zum Anzeichnen der Schnittführung bei Clamshell-Thorakotomie
Abschnitt „GELB“: Fingerthorakostomie ± Thoraxdrainagenanlage
Modul 2
2 × Skalpell Figur 10
1 × Präparierschere nach Metzenbaum gebogen, 200 mm
1 × Kornzange nach Meier, gebogen, 260 mm
Modul 3
2 × Thoraxdrainagebeutel mit Heimlich-Ventil
2 × Schlauchverbinder
Abschnitt „ROT“ – Deckelfach: Naht und externe Blutungskontrolle
Modul 4
1 × Nadelhalter nach Mayo, 150 mm
1 × chirurgische Pinzette, 140 mm
1 × Fadenschere, 130 mm
2 × chirurgischer Faden, Polyester, Stärke 0
2 × chirurgischer Faden, Polyester, Stärke 2‑0
Modul 5
1 × Hautklammergerät
Abschnitt „ROT“ – Bodenfach: maximal-invasive Maßnahmen
Modul 6
1 × Blasenkatheter, Ch 16
1 × Rettungsschere TACShears (Lifeguard Emergency Products, Wesel, Deutschland)
1 × Präparierschere nach Metzenbaum, gebogen, 200 mm
1 × chirurgische Pinzette, 140 mm
4 × Arterienklemme nach Leriche, gerade, 150 mm
1 × Arterienklemme nach Halsted, gerade, 120 mm
2 × Hakengriffe für Gigli-Säge
1 × Gigli-Drahtsäge, fein – 1,4 mm
1 × atraumatische Gefäßklemme nach De Bakey, 220 mm
1 × atraumatische Gefäßklemme nach De Bakey abgew. 60°, 280 mm
1 × Rippensperrer nach De Bakey, einzeln ohne Blätter, 250 mm
2 × Sternotomieblätter nach De Bakey, Paar Blätter mit Aufnahmedorn mittig, 50 × 60 mm
2 × chirurgischer Faden, Polyester, Stärke 0
2 × chirurgischer Faden, Polyester, Stärke 2‑0
2 × Einmalskalpell Figur 10
10 × Mullkompresse 16fach, 100 × 100 mm
5 × Bauchtuch 4‑lagig mit Schlaufe und X‑Ray, weiß, 450 × 450 mm
1 × Filmdrape, transparent, 750 × 750 mm
C-Set Berlin chirurgische Notfallset Berlin für C‑Problem, PERT prehospital and emergency department resuscitative thoracotomy

„Environment“

Ein sicheres Umfeld („environment“) zur Durchführung einer Reanimation nach Trauma inkl. PHRT erhofften die Autoren durch die zuvor genannten Maßnahmen zu erreichen, unabhängig von den Umfeldfaktoren während des eigentlichen Einsatzes, die es jeweils individuell zu bewerten gilt. Umfeldfaktoren im größeren Kontext bedeuteten für die Autoren aber auch, Bedingungen zu schaffen, die vor oder nach einer PHRT zur Qualitätsverbesserung beitragen. So wurden viele der Reanimationen nach Trauma, in jedem Fall sämtliche zu einer PHRT führenden, mithilfe des elektronischen Einsatzdokumentationssystems nachträglich ausgewertet. Weiterhin wurden diese in Zusammenarbeit mit der Berliner Rechtsmedizin in einer regelmäßigen Fallkonferenz („clinico-forensic correlation meeting“ [CFCM]) nachbesprochen. Darüber hinaus fanden regelmäßige Fallkonferenzen („trauma review meeting“) unter anderem mit dem Berliner Polytraumazentrum mit kardiochirurgischer Anbindung statt.

Sachstand nach den ersten 2,5 Jahren

Seit Einführung der neuen SOP in 2020 kam es zu 11 PHRT durch Notärzte der Berliner Notfallrettung, wobei diese ungefähr hälftig nach stumpfem oder penetrierendem Trauma durchgeführt worden sind. Die Mehrzahl wurde durch den OAvD begleitet. Es zeigt sich, dass ein arztbesetztes Rettungsmittel fast immer in < 10 min am Patienten eintraf, das zusätzliche „Spezialrettungsmittel“ in Form des OAvD oder der Luftrettung jedoch meist erst nach > 15 min vor Ort war. Die Fallauswertungen konnten in diesem Zeitraum durch 4 CFCM unterstützt werden, zudem durch monatliche „trauma review meetings“, wobei diese aktuell leider noch nicht mit allen Kliniken etabliert sind, die eine PHRT weiterversorgt haben.

Diskussion

Unter Beachtung der 4 E als Leitstruktur lässt sich die Maßnahme PHRT in einem Rettungsdienstbereich grundsätzlich etablieren. Es bedarf aber sowohl im Vorhinein einer intensiven Planung und darüber hinaus auch anschließend im laufenden Prozess eines engmaschigen Monitorings mit kurzfristigen Anpassungsmöglichkeiten im Sinne einer funktionierenden „clinical governance“. So zeigte sich u. a., dass selbst im großstädtischen Bereich bei Verlust der Lebenszeichen nahe dem Alarmierungszeitpunkt und/oder zu ungezielten Maßnahmen im Hinblick auf den TCA-Algorithmus es bis zum Eintreffen eines Spezialrettungsmittels kaum möglich ist, ein adäquates Zeitfenster zur PHRT zu erreichen. Nach Ansicht der Autoren muss erwartet werden können, dass alle Rettungsmittel in der Lage sind, eine Reanimation nach Trauma entsprechend den fachlichen Standards einzuleiten. Zukünftig sollten idealerweise aber auch sämtliche arztbesetzten Rettungsmittel befähigt sein, die Entscheidung für oder gegen eine PHRT zu treffen sowie diese zumindest beginnen zu können, bevor ein zusätzliches Spezialrettungsmittel eintrifft.
Um dieses Kompetenzniveau bei der großen Anzahl an Notärzten im Berliner Rettungsdienst zu ermöglichen, hat die Ärztliche Leitung Rettungsdienst bereits Maßnahmen vorgenommen, um die Anzahl der sich im System befindlichen Notärzte drastisch zu reduzieren sowie die Expertise der im System verbleibenden zu erhöhen [15]. Insbesondere für die weiteren PHRT-Maßnahmen nach erfolgtem Clamshell-Zugang (Damage-control-Techniken und -Strategien), Transfusion von Blutkonserven und weiterem Management des Gesamteinsatzes (Struktur und Ablauf an der Einsatzstelle, Koordinierung der erhöhten Anzahl von Einsatzkräften, Auswahl und Voranmeldung der geeigneten Zielklinik, PSNV-Anbindung usw.) bleibt die additive Alarmierung eines Spezialrettungsmittels mit höherer Expertise nach Ansicht der Autoren weiterhin essenziell. So stellen die bisher international vorhandenen Systeme zur Durchführung einer PHRT (bspw. London’s Air Ambulance oder Sydney HEMS) ebenfalls die Zuführung eines hochqualifizierten Spezialrettungsmittels dar. Die professionelle Traumaversorgung (exklusive maximal-invasiver Maßnahmen) bis zum Eintreffen ist dabei in allen Systemen grundlegend gewährleistet.
Unter Betrachtung von aktuellem Stand der Wissenschaft, notfallmedizinischen Leitlinien, aber auch medikolegalen Aspekten müssen notärztliche Fähig- und Fertigkeiten auch im Umgang mit seltenen, hochkomplexen Szenarien und maximal-invasiven Maßnahmen wie etwa PHRT, aber auch Reanimation von Schwangeren, Kindernotfällen oder dem schwierigen Atemweg zunehmend im Bereich des „Beherrschens“ sichergestellt werden. Dabei zeigt die inhaltliche Auswertung von Fällen mit Anwendung maximal-invasiver Maßnahmen deutlich, dass es nach Kursen mit reiner Demonstration der Maßnahmen und kurzer selbstständiger Übungsphase zu keiner ausreichenden Handlungsstabilität der Notärzte in solchen Situationen kommt. Vielmehr müssen geeignete Kursformate klar umschriebene Themen didaktisch sinnvoll gegliedert abbilden (bspw. „Reanimation nach Trauma“ oder „präklinisches Atemwegsmanagement“) und von Basiswissen über konzeptionell-strukturelle Inhalte auch praktische Übungen optimalerweise mit Fallsimulationen und -besprechungen beinhalten. Die Verantwortung zur Sicherstellung dieser erweiterten notärztlichen Expertise ist nicht nur individuell, sondern insbesondere auch bei den Organisationsverantwortlichen des jeweiligen Rettungsdiensts zu suchen. Eine entsprechende Struktur, beispielsweise im Rahmen eines gestuften Notarztsystems mit verschiedenen Ausbildungs- und Erfahrungsstufen, muss in den meisten Rettungsdienstbereichen erst noch etabliert werden. Beispielhaft kann dafür die Neuordnung des Berliner Notarztwesens angeführt werden [15]. Da für diese Neustrukturierung, vor allem im ländlichen Bereich, bereichsübergreifende Ressourcen wie die Luftrettung notwendig erscheinen, müssten entsprechende Überlegungen gemeinsam auf Landes- und/oder Bundesebene erfolgen.
Infobox 1 Reversible Ursachen des traumatisch bedingten Herz-Kreislauf-Stillstands (TCA)
  • Hypoxie
  • Hypovolämie (Hämorrhagie)
  • Spannungspneumothorax
  • Perikardtamponade
Infobox 2 Exemplarische Einsatzanlässe Trauma für Parallelalarm OAvD/Luftrettung
Einsatzanlass
  • Stichverletzung zentrale Wunde
  • Schussverletzung zentrale Wunde
  • Kreislaufstillstand nach Körperverletzung
  • Sturz aus extremer Höhe
  • Kreislaufstillstand nach Sturz
  • Pfählungsverletzung
  • Kreislaufstillstand nach Verkehrsunfall
Infobox 3 Designziele für überarbeitetes „C-Set Berlin“
  • Modularer Aufbau, Material gruppiert zur Durchführung bestimmter definierter Interventionen:
    • Fingerthorakostomie
    • Thoraxdrainagenanlage
    • Naht und Blutungskontrolle
    • Clamshell-Thorakotomie/Notamputation/Crash-Sectio und andere maximal-invasive Maßnahmen
  • Intuitive Benutzung durch schlichtes Design mit Farbcodierungssystem, das auch unter schlechten Belichtungsverhältnissen klar erkennbar ist
  • Module in Reihenfolge der Verwendung bei einem typischen Einsatzablauf organisiert. Inhalte, die zuerst gebraucht werden, sollten intuitiv im Deckel der Tasche (z. B. PPE) vorzufinden sein, im weiteren Verlauf benötigtes Material im Bereich des Taschenbodens.
  • Klare Nummerierung und Beschriftung auf jedem Modul zur einfachen Identifizierung und vereinfachten Wiederbestückung nach Verbrauch
  • Nur einfache sterile Umverpackung pro Modul, um überflüssige Arbeitsschritte zu vermeiden und die Wiederauffüllung zu erleichtern
  • Möglichst einfacher Zugriff auf Inhalte der Kompartimente
  • Leichte Säuberung und Desinfektion der gesamten Tasche, auch vor dem Hintergrund der besonderen Einsatzanlässe, bei denen die Tasche zur Wirkung kommen soll
  • Möglichst geringes Volumen und Gewicht des Tascheninhalts, Verzicht auf alle nichtessenziellen Materialien
  • Sinnvoller Teil eines Gesamtkonzepts und kleine Außenmaße der Tasche bei Verlastung der neu zu konzeptionierenden Tasche im bereits bestehenden NEF-Rucksacksystem

Fazit für die Praxis

Die zusätzliche Durchführung einer PHRT zum Beheben reversibler Ursachen beim TCA entspricht dem aktuellen Stand der Wissenschaft und den entsprechenden internationalen Leitlinien. Um die PHRT präklinisch sinnvoll zu etablieren, braucht es ein organisatorisches Maßnahmenbündel, welches das Prinzip der 4 E grundsätzlich und für alle Reanimationsmaßnahmen nach TCA sicherstellt. Im Schulungsprozess sollte auf ein handlungszielorientiertes Gesamtkonzept (vom stabilen mentalen Modell bis zur Fallsimulation) gesetzt werden. Neben dem Einsatz der nächstmöglich verfügbaren (arztbesetzten) Rettungsmittel ist die Unterstützung durch zusätzliche Spezialrettungsmittel für eine mögliche PHRT zur optimalen Patientenversorgung grundsätzlich erforderlich.

Danksagung

Wir möchten uns bei Hr. Hayo Funk (Hamburg) bedanken, auf dessen Grundidee das Konzept der PERT-Tasche beruht, dessen erfolgreiche Entwicklung ebenfalls nur durch sein Engagement möglich war.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Malysch, F. Breuer, J. Wolff, S. Poloczek und J. Dahmen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
4.
Zurück zum Zitat Malysch T, Leidel BA, Macke C, Rudolph M, Kanz K‑G, Dahmen J (2020) Leserbrief zu Buschmann C et al. Traumaassoziierte Reanimation und vermeidbare Todesfälle bei Trauma. Notarzt 36:293–302 ((in De), Der Notarzt, vol. 36, no. 06, pp. 357–358 2020)CrossRef Malysch T, Leidel BA, Macke C, Rudolph M, Kanz K‑G, Dahmen J (2020) Leserbrief zu Buschmann C et al. Traumaassoziierte Reanimation und vermeidbare Todesfälle bei Trauma. Notarzt 36:293–302 ((in De), Der Notarzt, vol. 36, no. 06, pp. 357–358 2020)CrossRef
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Zurück zum Zitat Wilcox SR, Bittner E, George E, Buckley VF, Schmidt UH (2010) Improvement in emergency airway equipment transport. Respir Care 55(7):852–857PubMed Wilcox SR, Bittner E, George E, Buckley VF, Schmidt UH (2010) Improvement in emergency airway equipment transport. Respir Care 55(7):852–857PubMed
Metadaten
Titel
Präklinische Notfallthorakotomie in der Berliner Notfallrettung – Darstellung der Umsetzung im Land Berlin und Diskussion erster Erkenntnisse
verfasst von
Dr. med. Tom Malysch
Dr. med. Florian Breuer
Justus Wolff
Dr. med. Stefan Poloczek
Dr. med. Janosch Dahmen
Publikationsdatum
02.12.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Notfall + Rettungsmedizin / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 1434-6222
Elektronische ISSN: 1436-0578
DOI
https://doi.org/10.1007/s10049-022-01104-x

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