9.2.1 Steigende Eigenanteile für pflegebedingte Kosten
Bei der Einführung der Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber insbesondere aus finanziellen Gründen darauf verzichtet, die Bedarfe in der Langzeitpflege umfassend abzusichern. Der Leistungsanspruch ist deutlich weniger weitreichend als etwa in der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese insbesondere aus fiskalischen Erwägungen gewählte Konstruktion äußert sich vor allem an drei zentralen Stellen (Greß und Jesberger
2020).
Erstens haben Pflegebedürftige in der ambulanten pflegerischen Versorgung ein Wahlrecht zwischen Sachleistungen zur Finanzierung professionell erbrachter pflegerischer Leistungen oder Geldleistungen in Form des Pflegegeldes zur finanziellen Unterstützung. Positiv formuliert unterstützt der Gesetzgeber mit dieser Wahlmöglichkeit subsidiäre Ansätze in Form der Angehörigenpflege und der ehrenamtlichen Pflege. Diese Argumentation verschleiert allerdings, dass eine umfassende Finanzierung der ambulanten Pflege durch professional erbrachte Dienstleistungen bei der Einführung der Pflegeversicherung vor allem aus fiskalischen Gründen politisch wahrscheinlich kaum durchsetzbar gewesen wäre.
Zweitens war schon bei der Einführung der Pflegeversicherung klar, dass in der stationären Langzeitpflege nur die pflegebedingten Kosten von der Versichertengemeinschaft übernommen werden würden. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung waren weiterhin von den Pflegebedürftigen selbst zu finanzieren. Dies ist folgerichtig, da diese Kosten unabhängig von einer Pflegebedürftigkeit anfallen. Aus Sicht des Bundesgesetzgebers sollten die Pflegebedürftigen allerdings auch bei der Finanzierung der Investitionskosten entlastet werden. Hier sah der Bund die Bundesländer in der Pflicht, um die Sozialhilfeträger bei der Hilfe zur Pflege zu entlasten. Aus dieser Intention resultiert § 9 SGB XI, in dem die Länder für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur verantwortlich gemacht werden. Im Gesetz wird weiter ausgeführt, dass zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen.
Der zunehmende Teilleistungscharakter der Pflegeversicherung wird drittens dadurch deutlich, dass die Kosten für das Angebot professioneller pflegerischer Leistungen seit Einführung der Pflegeversicherung schneller steigen als die Dynamisierung des Leistungsanspruchs für die Pflegebedürftigen (Paquet
2020). In der ambulanten professionellen Pflege stehen die Pflegebedürftigen als Konsequenz vor der Wahl, auf einen Teil der pflegerischen Leistungen zur verzichten oder einen höheren Eigenanteil
zu übernehmen. In der vollstationären Pflege wird dies etwa an den seit Jahren steigenden Eigenanteilen deutlich, die im Jahr 2022 daher im Zuge des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) einmalig abgesenkt wurden. Insbesondere steigende Personalkosten führen dazu, dass bei einem Fortschreiten dieses Trends die pflegebedingten Kosten zunehmend nur noch anteilig von der Pflegeversicherung finanziert werden (Schwinger et al.
2022). Hinzu kommen substanzielle Eigenanteile zur Finanzierung der Investitionskosten
, weil die Bundesländer ihrer Finanzierungsverantwortung in diesem Bereich nicht nachkommen (Greß und Jesberger
2022).
In der Konsequenz stehen Pflegebedürftige bei der Inanspruchnahme von pflegerischen Leistungen zunehmend vor existenziellen Entscheidungen mit weitreichenden finanziellen Konsequenzen. Zudem müssen diese Entscheidungen häufig unter Zeitdruck und bei erheblichen körperlichen und mentalen Einschränkungen getroffen werden, insbesondere dann, wenn keine hinreichende Unterstützung seitens der Angehörigen gegeben ist. Es spricht wenig dafür, dass unter diesen Rahmenbedingungen die Entscheidungen der Pflegebedürftigen vor allem durch die Qualität der pflegerischen Leistungen determiniert werden (Greß
2017). Dies lässt sich beispielhaft an drei Entscheidungssituationen illustrieren.
Erstens fällt bei der Wahl zwischen Pflegegeld und Pflegesachleistung die Entscheidung häufig zu Gunsten des Pflegegelds aus. Diese Wahl lässt sich damit erklären, dass Pflegebedürftige die Angehörigenpflege einer professionellen Pflege vorziehen. Diese Entscheidung ist einerseits nachvollziehbar, andererseits jedoch vermutlich nicht im Sinne einer qualitätsgesicherten ambulanten pflegerischen Versorgung. Dies gilt umso mehr, je komplexer die jeweilige Pflegesituation ist.
Wenn zweitens dann doch die Wahl zu Gunsten professioneller ambulanter pflegerischer Versorgung ausgefallen ist, dann können Pflegebedürftige bei preisgünstigen Anbietern mehr Leistungen einkaufen als bei weniger preisgünstigen ambulanten Pflegediensten. Zwar sind hohe Kosten allein noch kein Qualitätsmerkmal. Anbieter mit einer hohen Fachkraftquote haben allerdings in der Regel einen deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber solchen Anbietern, die die pflegerische Versorgung vor allem durch Hilfskräfte sicherstellen und damit ihre Leistungen preiswerter anbieten können.
Vergleichbare Anreize bestehen drittens bei der Wahl zwischen verschiedenen stationären Anbietern. Die seit September 2022 geltenden gesetzlichen Regelungen zur Tariftreue dürften Unterschiede in der Bezahlung des Personals reduziert haben, ohne sie vollständig beseitigen zu können (Evans und Szepan
2023; Schwinger et al.
2022). Preisunterschiede in Form unterschiedlich hoher einrichtungseinheitlicher Eigenanteile
werden daher primär durch Unterschiede in der Personalausstattung bestimmt. Für Pflegebedürftige bedeutet dies, dass stationäre Anbieter mit einer überdurchschnittlichen Personalausstattung für sie teurer sind als andere Anbieter. Eine bessere Personalausstattung – und damit vermutlich auch eine verbesserte Qualität der pflegerischen Versorgung – muss damit durch höhere Eigenanteile finanziert werden. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund eines nach wie vor erheblichen Fachkräftemangels, bei dem Pflegeeinrichtungen um qualifiziertes Personal konkurrieren. Bei massiv steigenden Eigenanteilen besteht somit auch an dieser Stelle die Gefahr, dass Wahlentscheidungen vor allem auf der Basis finanzieller Erwägungen erfolgen.
Zusammenfassend führt die steigende finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen dazu, dass die Wahlentscheidungen der Pflegebedürftigen zu erheblichen Folgewirkungen führen. Diese hohe finanzielle Eigenverantwortung bei teilweise existenziellen Entscheidungen setzt für die Pflegebedürftigen wenig Anreize, bei den angesprochenen Wahlentscheidungen die Qualität pflegerischer Leistungen in den Vordergrund zu stellen. Erschwerend kommt hinzu, dass verlässliche und verständliche Informationen über die Qualität von Leistungsanbietern bisher nicht flächendeckend vorliegen (vgl. den Beitrag Meyer und Berg,
Kap. 6 in diesem Band). Weitgehend transparent sind dagegen die Preise.
9.2.2 Verzicht auf Kassenwettbewerb
Auch im Dreieck zwischen Kostenträgern, Anbietern und Versicherten bzw. Pflegebedürftigen wirken ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen bei der Einführung der Pflegeversicherung bis heute nach. Diese bestanden erstens darin, dass der Gesetzgeber mit der Pflegeversicherung eine eigenständige Sozialversicherung eingeführt hat. Zweitens hat der Gesetzgeber in der Pflegeversicherung auf einen Kassenwettbewerb analog zur gesetzlichen Krankenversicherung verzichtet. Die Versicherten haben in der Pflegeversicherung mit wenigen Ausnahmen kein eigenständiges Kassenwahlrecht. Die Pflegekassen sind den Krankenkassen organisatorisch angegliedert. Die Höhe des Beitragssatzes ist bei allen Pflegekassen gleich hoch, weil Ausgabenunterschiede ausgeglichen werden.
Auch diese ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen sind für die Qualität der pflegerischen Leistungen wenig förderlich. Erstens haben die Pflegekassen durch den nicht existenten Wettbewerb strukturell wenig Interesse an qualitativ hochwertigen pflegerischen Leistungen, weil sie einerseits nicht den Verlust von Versicherten fürchten müssen und andererseits Mehrkosten – etwa in Form eines vermeidbaren höheren Pflegegrads – über den Ausgabenausgleich zwischen den Pflegekassen kompensieren können. Gleiches gilt für Anreize, in präventive Maßnahmen zur Reduzierung des Pflegerisikos zu investieren. Hinzu kommt, dass die Pflegekassen wenig Möglichkeiten zur Steuerung der pflegerischen Versorgung haben (siehe unten). Damit besteht zumindest derzeit wenig Potenzial, dass die Pflegekassen ein wirksames Korrektiv im Sinne eines Sachwalters für die Versicherten bzw. Pflegebedürftigen darstellen.
Zweitens führt das Nebeneinander von wettbewerblich organisierten gesetzlichen Krankenkassen und über einen Ausgabenausgleich finanzierten Pflegekassen zu negativen Anreizen beim Angebot von Rehabilitationsleistungen
für Pflegebedürftige. Rehabilitationsleistungen müssen von den Krankenkassen finanziert werden und sind damit ausgaben- und beitragssatzrelevant. Die positiven Effekte der Rehabilitation – eine vermiedene Pflegebedürftigkeit bzw. ein geringerer Pflegebedarf bzw. Pflegegrad – fallen jedoch in der Pflegeversicherung an. Aus ökonomischer Sicht entstehen positive externe Effekte, die zu einem Unterangebot von Rehabilitationsleistungen und damit zu einer Minderung der Versorgungsqualität bei den betroffenen Pflegebedürftigen führen und den Grundsatz Rehabilitation vor Pflege konterkarieren (Rothgang
2016).
Drittens führt das Nebeneinander von gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung in der derzeitigen Ausgestaltung zu Anreizen bei den Kranken- bzw. Pflegekassen, die Pflegebedürftigen in die stationäre Versorgung zu drängen. Diese Anreize resultieren aus den unterschiedlichen Finanzierungszuständigkeiten für die Behandlungspflege im ambulanten und stationären Setting. Im ambulanten Setting müssen die Krankenkassen die Behandlungspflege finanzieren, im stationären Setting sind es die Pflegekassen bzw. die Pflegebedürftigen selbst. Auch hier haben die wettbewerblich organisierten Krankenkassen somit ein Interesse daran, Kosten auf andere Finanzierungsträger zu verlagern. Die angesprochenen unterschiedlichen Finanzierungszuständigkeiten sind somit zumindest nicht förderlich für eine bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung.
Zusammenfassend führen die Grundsatzentscheidungen bei der Organisation der Pflegekassen dazu, dass diese nur wenige ökonomische Anreize haben, als Sachwalter im Sinne der Versicherten bzw. Pflegebedürftigen zu agieren. Darüber hinaus führen positive externe Effekte im Verhältnis von Kranken- und Pflegekassen zu einem Unterangebot von Rehabilitationsleistungen und die unterschiedlichen Zuständigkeiten bei der Finanzierung der Behandlungspflege zu einer nicht bedarfsgerechten Bevorzugung stationärer Versorgungsarrangements.
9.2.3 Ungesteuerter Anbieterwettbewerb
In der gesetzlichen Krankenversicherung geht der Gesetzgeber davon aus, dass ein ungesteuerter Anbieterwettbewerb nicht zu einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung und potenziell steigenden Kosten führen könnte. Daher regulieren die jeweils zuständigen Institutionen zumindest in der ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung sowie in der Versorgung mit Krankenhausleistungen die Kapazitäten. Es ist unstrittig, dass in beiden Bereichen die eher planwirtschaftliche Allokation der knappen Ressourcen das angesprochene Ziel nur sehr eingeschränkt erreicht. Das zeigen nicht zuletzt die wiederkehrenden Reformen bei der Bedarfsplanung und die Debatte um eine Neustrukturierung der stationären Versorgung. Es besteht jedoch weitgehender Konsens darüber, dass die Konsequenz aus diesen Mängeln eine Anpassung der Steuerungsinstrumente sein muss. Ein weitgehend unregulierter Marktzugang für die von den Krankenkassen zu finanzierende ambulante und stationäre Versorgung wird nicht ernsthaft diskutiert.
Vor diesem Hintergrund wird der Kontrast zu den ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen im Hinblick auf den Marktzugang ambulanter und stationärer Anbieter in der Langzeitpflege umso deutlicher: Der Gesetzgeber hat zwar Verantwortungszuständigkeiten für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung normiert, in der Praxis läuft dies jedoch auf eine „Verantwortungs- und Zuständigkeitsdiffusion“ (Greß und Jacobs
2021, S. 187) hinaus. So sind die Bundesländer zwar gesetzlich für die Vorhaltung der pflegerischen Infrastruktur zuständig, kommen dieser Verpflichtung allerdings insgesamt nur unzureichend nach. Die Pflegekassen wiederum sind zwar gesetzlich für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung zuständig, haben aber nur wenige wirkungsvolle Instrumente zur Bedarfssteuerung – insbesondere wenn eine Unterversorgung vorliegt. Die Ablehnung von Versorgungsverträgen bei Überversorgung ist außerdem weitgehend ausgeschlossen, weil Pflegebedürftige zwischen verschiedenen Anbietern auswählen können sollen (Greß und Jacobs
2021).
In der Konsequenz ist der Marktzugang für Leistungsanbieter sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Langzeitpflege weitgehend unreguliert. Eine zentrale Bedarfsplanung findet in den meisten Bundesländern nicht statt. Diese Situation lässt sich dadurch erklären, dass der Gesetzgeber nach Einführung der Pflegeversicherung die Notwendigkeit erkannt hat, Anbieterkapazitäten erheblich auszubauen, was zu einem entsprechenden Investitionsbedarf geführt hat. Diesem erwünschten Ausbau der Kapazitäten sollten möglichst wenige regulatorische Hürden in den Weg gelegt werden. Die private Finanzierung des notwendigen Investitionsbedarfs hat gleichzeitig die Haushalte der Bundesländer entlastet (Greß und Jacobs
2021).
Aus ökonomischer Sicht ist ein freier Marktzugang für Anbieter auf funktionierenden Märkten nicht nur unproblematisch, sondern eine wichtige Voraussetzung für eine optimale Ressourcenallokation. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen bestehen jedoch nachhaltige Zweifel, dass die Märkte für ambulante und stationäre Langzeitpflege die Voraussetzungen für funktionierende Märkte erfüllen. Pflegebedürftige müssen häufig unter Zeitdruck, mit erheblichen Informationsdefiziten und teilweise eingeschränkter Entscheidungskompetenz existenzielle Entscheidungen mit weitreichenden finanziellen Konsequenzen treffen (Greß
2018). Die Qualität der pflegerischen Leistungen bei den zur Verfügung stehenden Anbietern ist ihnen in der Regel nicht bekannt. Ohne einen verständlichen und transparenten Vergleich der Qualität des Angebots sind fundierte, qualitätsbasierte Entscheidungen seitens der Pflegebedürftigen jedoch nicht möglich. Insbesondere dort, wo Entscheidungen trotz der Möglichkeit von Qualitätsvergleichen nicht realisierbar sind, sind überdies flankierende gesetzliche Rahmenbedingen erforderlich, die etwa Mindestqualitätsstandards sicherstellen. Hinzu kommt, dass selbst bei flächendeckenden und verständlichen Qualitätsvergleichen zunehmend nicht sichergestellt ist, dass sich die Pflegebedürftigen für ein höherwertiges Angebot entscheiden, da dies unter Umständen mit deutlich höheren finanziellen Eigenanteilen verbunden ist.