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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einführung und Zusammenfassung

verfasst von : Helmut Schröder, Prof. Dr. Petra Thürmann, Dr. Carsten Telschow, Dr. Melanie Schröder, Prof. Dr. Reinhard Busse

Erschienen in: Arzneimittel-Kompass 2022

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Für eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung, die für eine Gesellschaft essenziell ist oder sein sollte, sind qualitativ hochwertige, wirksame und unbedenkliche Arzneimittel eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung. Damit von Seiten der Patientinnen und Patienten, der Leistungserbringenden, der Politik und der Wissenschaft die Qualität der Arzneimittelversorgung positiv bewertet wird, muss unter anderem überhaupt eine bedarfsgerechte Therapie zur Verfügung stehen, eine angemessene Einsatzbreite der Arzneimittel unter Berücksichtigung ihrer Einsatzgebiete sichergestellt werden, aber auch vom medizinischen Personal adäquat und korrekt eingesetzt und von den Patientinnen und Patienten richtig angewendet werden.
Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement sind bereits seit Ende der 80er Jahre im Sozialgesetzbuch V verankert. Gute Qualität der Versorgung und Patientensicherheit steht seit Jahren regelmäßig auf der Agenda der deutschen Gesundheitspolitik. So sollte neben der wirtschaftlichen Verfügbarkeit der von den Patientinnen und Patienten benötigten Versorgung deren gute Qualität ein Kernanliegen der Gesundheitspolitik und aller Akteure sein.
Es scheint – zumindest legen die Beiträge im aktuellen Arzneimittel-Kompass dies nahe – als handle es sich hinsichtlich der Qualität der Arzneimittelversorgung weniger um ein Wissensdefizit, sondern eher um eine Umsetzungsherausforderung, die bewältigt werden sollte. Zahlreiche Informationen für Ärztinnen und Ärzte wie Leitlinien, die regelmäßigen Publikationen wie beispielsweise „Arzneiverordnung in der Praxis“ der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), „Arzneimittelbrief“, „Arznei-Telegramm“ oder „Arzneiverordnungs-Report“ stehen zur Verfügung und geben Einblick in das, was in der Wissenschaft bekannt ist. Auch der Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland, den das Bundesministerium für Gesundheit bereits 2007 ins Leben gerufen hat, benennt die Herausforderungen. So soll auch der Arzneimittel-Kompass allen Akteuren im Gesundheitswesen helfen, Wege aufzuzeigen, wie es gelingen kann, das Wissen über eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung auch in die Praxis umzusetzen. Insbesondere Qualitätsbemühungen rund um die stationäre Versorgung im Krankenhaus sind hier bereits deutlich früher gestartet. Die wissenschaftliche Entwicklung von Qualitätsindikatoren wird kontinuierlich weiterentwickelt; diese können von Ärztinnen und Ärzten sowie von Patientinnen und Patienten genutzt werden, um die Qualität der Krankenhäuser bewerten zu können. Mit diesen Instrumenten wird auch eine qualitätsorientierte Zentralisierung der Leistungserbringung in spezifischen Versorgungsbereichen ermöglicht.
Mit dem vorliegenden Arzneimittel-Kompass wollen die Herausgebenden darauf hinweisen, dass die qualitätsorientierte Weiterentwicklung der deutschen Versorgungslandschaft gerade auch bei der Arzneimittelversorgung notwendig ist. So soll diese Publikation zur Transparenz über die Qualität der Arzneimittelversorgung beitragen und Impulse für die Versorgungsgestaltung geben. Adressaten dafür sind die Verantwortlichen in Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung auf Bundes- und Landesebene, Entscheidende und Gestaltende in den ärztlichen Praxen und den Apotheken, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und auch die interessierte Fachöffentlichkeit. Damit sind wir gemeinsam auf dem Weg, um das Ziel einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung für alle Patientinnen und Patienten erreichen zu können.
Im Arzneimittel-Kompass 2022 wird die Arzneimittelversorgung spezifischer Gruppen fokussiert. In der Vergangenheit – und das nicht erst in der Pandemie – wurde immer wieder aufgezeigt, dass für einige Gruppen von Patientinnen und Patienten, wie beispielsweise ältere Menschen, Kinder und Jugendliche sowie andere spezifische Gruppen, Herausforderungen in Bezug auf eine optimale Arzneimittelversorgung existieren. So werden ältere Menschen oftmals nicht in klinische Studien für neue Medikamente einbezogen, obwohl sie sie am häufigsten einnehmen. Insgesamt entfallen im Jahr 2021 auf die Gruppe der Versicherten ab 65 Jahren, die 22 % der Gesamtpopulation darstellen, 56 % der Arzneimittelmenge nach Tagesdosen. Bei den Versicherten, die älter als 70 Jahre sind, erhalten mehr als 90 % innerhalb eines Jahres mindestens eine Arzneimittelverordnung. Aus diesem Grund widmen sich verschiedene Beiträge insbesondere der Arzneimittelversorgung von älteren Patientinnen und Patienten. Auch eine andere Gruppe fällt durch einen hohen Anteil von Arzneimittelpatientinnen und -patienten auf: Rund 86 % der Kinder unter 5 Jahren erhalten mindestens eine Arzneimittelverordnung innerhalb eines Jahres. Darunter befinden sich zahlreiche Arzneimittel, die keine Zulassung für diese Altersgruppe haben.
Im Arzneimittel-Kompass 2022 mit dem Schwerpunkt „Qualität der Arzneimittelversorgung“ wird eine Vielzahl weiterer wichtiger Themenbereiche diskutiert, die im folgenden kurz skizziert werden.
Zum Einstieg in das Thema bilden Peter Hensen und Dominik Rottenkolber einen theoretischen und konzeptuellen Rahmen in Bezug auf die Qualität der Arzneimittelversorgung. Eine inhaltstheoretische Annäherung an den Qualitätsbegriff in der gesundheitlichen Versorgung (Versorgungsqualität) verbinden sie mit Beobachtungsbereichen und Handlungsebenen der Arzneimittelversorgung. Darüber hinaus eröffnen sie struktur-, mess- und handlungstheoretische Zugänge der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements, um Anknüpfungspunkte für die Qualitätsbestimmung und Qualitätsgestaltung im Gesundheitswesen, insbesondere für den Bereich der Arzneimittelversorgung, aufzuzeigen. Ergänzend dazu betrachten sie anwendungsbezogen ausgewählte Aspekte eines pharmazeutischen und therapeutischen Qualitätsbegriffs.

1.1 Beiträge mit vertiefender Diskussion ausgewählter Fragestellungen

Im ersten von mehreren Beiträgen zur speziellen Versorgungssituation älterer Menschen widmen sich Marjan van den Akker, Sebastian Harder, Mirjam Dieckelmann und Christiane Muth der Ausprägung, den Herausforderungen und den Lösungsansätzen der Multimedikation. Aufgrund des demographischen Wandels und der damit einhergehenden Häufung von chronischen sowie Mehrfacherkrankungen steigt auch der Anteil von Menschen, die dauerhaft fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Diese so genannte Multimedikation ist zwar häufig, oft angemessen und sogar notwendig; sie stellt jedoch Behandelte und Behandelnde vor große Herausforderungen. Dieses Kapitel referiert den epidemiologischen Sachstand zum Zusammenhang zwischen Multimedikation und Adhärenz und verwandten Konzepten und beschreibt Strategien zur Optimierung von Multimedikation mit dem Ziel, die Versorgung von Menschen mit Multimedikation und infolgedessen deren Lebensqualität zu verbessern.
Dem Thema der Potenziell inadäquaten Medikation für ältere Menschen – PRISCUS 2.0 widmet sich der Beitrag von Petra Thürmann, Nina-Kristin Mann, Anette Zawinell, Katja Niepraschk-von Dollen und Helmut Schröder. Fast ein Viertel der gesetzlich krankenversicherten Personen sind älter als 65 Jahre. Ihre Arzneimittelversorgung ist geprägt durch die ansteigende Zahl der Erkrankungen im Alter und damit steigt auch die Menge der verordneten Arzneimittel. Zudem reagiert der Körper durch sich im Alter verändernde Stoffwechselvorgänge anders auf manche Arzneimittel als bei jüngeren Menschen. Dies kann zu potenziell inadäquater Medikation und damit zu einem Anstieg von unerwünschten Arzneimittelereignissen und nicht zuletzt zu einer erhöhten Mortalität führen. Im Jahr 2022 wurde eine aktualisierte PRISCUS-2.0-Liste von Arzneimitteln entwickelt, die für ältere Menschen ab 65 Jahre potenziell ungeeignet sind. Die Analyse der Arzneiverordnungsdaten zeigt, dass nahezu jede zweite ältere GKV-versicherte Person potenziell inadäquate Medikamente verordnet bekommt. Aus der differenzierten Betrachtung der Verordnungen ausgewählter PRISCUS-2.0-Wirkstoffe nach Facharztgruppen lassen sich Ansätze zur Optimierung der Arzneimittelversorgung ableiten. Auch die regionalen Prävalenzunterschiede der Verordnung von PIM-Arzneimitteln können als Hinweise verstanden werden, dass Verbesserungen umsetzbar sind. Durch die Entwicklung der PRISCUS-2.0-Liste, die Beschreibung der hohen Betroffenheit unter den älteren Arzneimittelpatientinnen und -patienten wie auch die kostenfreie Bereitstellung der Liste kann die Qualität der Arzneimittelversorgung älterer Menschen in der Praxis weiter optimiert werden.
Susann Behrendt, Ulrich Jaehde, Tanyel Özdes und Antje Schwinger widmen sich der Arzneimittelversorgung in Pflegeheimen. Ein Fünftel aller gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen in Deutschland lebt dauerhaft im Pflegeheim. Sie sind in der Regel hochbetagt und multimorbid, zwei Drittel gelten als dementiell erkrankt. Angesichts der damit verbundenen Herausforderungen für die Arzneimittelversorgung dieser Menschen nimmt der Beitrag häufige und potenziell kritische Arzneimitteleinsätze in den Blick: den dauerhaften Einsatz von Antipsychotika bei Demenz bzw. von Benzodiazepinen/Z-Substanzen, die Verordnung von Wirkstoffen gemäß PRISCUS-Liste sowie die Polymedikation. Ausgehend von den Analysen für das Innovationsfonds-Projekt Qualitätsmessung mit Routinedaten in der Pflege (QMPR) versteht der Beitrag die Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden nicht nur als Ergebnis ärztlicher Performanz, sondern verortet diese Prozesse an den Schnittstellen der Versorgung. Während die Häufigkeit potenziell kritischer Arzneimitteleinsätze insgesamt deutliches Optimierungspotenzial erkennen lässt, zeigt sich auch: Maßnahmen zur Optimierung müssen auf mehreren Ebenen ansetzen und den Stellenwert von Qualifizierungsmaßnahmen für die an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen und eine zielgerechte, berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit anerkennen. QMPR-Indikatoren, die für jedes Pflegeheim einzeln die Häufigkeit potenziell kritischer Arzneimitteleinsätze messen, können hier einen wichtigen Beitrag für mehr Transparenz leisten und letztlich Awareness schaffen.
Welche Herausforderungen die Arzneimittelversorgung von Kindern mit sich bringen, legen Irmgard Toni, Katrin Moritz, Julia Zahn und Antje Neubert dar. Besondere Herausforderung der Arzneimittelversorgung von Kindern ist deren unterschiedliche Physiologie im Vergleich zu Erwachsenen. Dass klinische Studien dies berücksichtigen sollten, liegt auf der Hand. Dennoch erhalten im stationären Bereich überraschend viele Kinder und Jugendliche Medikamente außerhalb der Zulassung; ein Großteil der im stationären Bereich eingesetzten Arzneimittel müssen vor der Verabreichung individuell verändert werden. Die EU-Kinderarzneimittelverordnung von 2006 hat bislang zu keiner nachhaltigen Verbesserung der Situation geführt. Ein signifikanter Rückgang der Off-Label-Verordnungen zeigt sich nicht. Daher kommen der Aufbereitung und schnellen Verfügbarkeit der bestehenden Evidenz für die Dosierung von Kinderarzneimitteln eine hohe Bedeutung zu. Mit dem Kinderformularium.de steht ein wichtiges neues Hilfsmittel für pädiatrisch tätige Ärztinnen und Ärzte sowie Apothekerinnen und Apotheker zur Verfügung.
Ingrid Mühlhauser und Maria Beckermann werfen einen Blick auf die Menopausale Hormontherapie und beschreiben, ob und wie neu gewonnene Evidenz zur Veränderung der Arzneimitteltherapie führt. Nach Abbruch der Women’s Health Initiative Study (WHI-Studie) wegen unerwartet häufiger Brustkrebserkrankungen unter menopausaler Hormontherapie (MHT) im Jahr 2002 wurde dieses Thema medial intensiv diskutiert; es folgte ein massiver Einbruch bei den Hormonverordnungen. Neuere Studien mit ähnlichen Ergebnissen fanden weniger Beachtung. Trotzdem lässt sich in den letzten Jahren wieder eine Zunahme von Hormonverordnungen – auch ohne gesicherte Evidenz – beobachten, insbesondere durch die Verordnung von transdermalen Hormonpräparaten. Die Autorinnen sehen keinen Beleg, dass diese ein günstigeres Risikoprofil als die in der WHI-Studie untersuchten Hormonkombinationen haben. Aussagekräftige Studien hierzu seien erforderlich, damit nicht erneut Hormone unkritisch ohne Vorliegen gesicherter Evidenz verordnet werden und Patientinnen dadurch zu Schaden kommen.
Eike Eymers und Thomas Römer stellen am Beispiel der Oralen Kontrazeptiva vor, dass aussagekräftige Studien in Bezug auf das Risiko bestimmter Hormonkombinationen vorliegen und diese in entsprechenden Empfehlungen des BfArM und der Leitlinie aufgeführt werden. Deren Umsetzung in der Praxis ist zwar erkennbar, jüngste Veröffentlichungen haben hingegen noch nicht zu einer nennenswerten Veränderung des Verordnungsverhaltens geführt. Insgesamt würden gemäß Eymers und Römer klarere Aussagen in den Empfehlungen sowohl zu einer höheren Behandlungssicherheit für die Patientinnen als auch zu einer forensischen Sicherheit bei den Verordnenden beitragen. Die Verhütungsberatung sei in der Gruppe der jungen Frauen besonders wichtig, um die Risiken in Bezug zum Nutzen der Empfängnisverhütung individuell zu bewerten. Hier gilt es, aus der Vielzahl der verfügbaren Kontrazeptionsmethoden individuell die richtige Methode auszuwählen, wobei weitere Aspekte – etwa der Nutzen bei der Behandlung des prämenstruellen Syndroms, der Dysmenorrhoe oder der Akne – nicht aus dem Blick zu verlieren sind.
Die anspruchsvolle Arzneimittelversorgung bei multipler Sklerose (MS) stellen Friedemann Paul und Achim Berthele in ihrem Beitrag vor. Die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ zeigt eine Vielgestaltigkeit möglicher Symptome und einen unvorhersehbaren Verlauf in Bezug auf Krankheitsschübe und neurologische Behinderung. Hier hat die Erkrankung durch ein breites Spektrum an Immuntherapeutika inzwischen vieles von ihrem Schrecken verloren. Zwar ist die MS weiterhin nicht heilbar, aber der Weg zu Konzepten einer individualisierten MS-Therapie ist eröffnet. Allerdings kritisieren die Autoren eine Vielzahl an strukturellen Defiziten: So orientiere sich die Arzneimittelentwicklung eher an finanziellen Anreizen als an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Zudem zeigten sich bei den Patienten und deren Ärztinnen und Ärzten Wissenslücken in Bezug auf die Krankheit und ihre Behandlung, die es zu füllen gelte. Registerdaten, die in Dänemark und Schweden generiert werden, hätten gerade in den letzten Jahren wesentliche Erkenntnisse zu diversen Immuntherapiestrategien geliefert, weshalb sie auch für Deutschland zu fordern wären.
Claudia Langebrake widmet sich der Schnittstelle der Arzneimittelversorgung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Die Versorgung mit Arzneimitteln im ambulanten und stationären Bereich ist in Deutschland sehr unterschiedlich organisiert, sodass es an den Sektorengrenzen unweigerlich zu Informationsverlusten kommt. Dadurch können Medikationsfehler entstehen, die negative Auswirkungen auf die Arzneimitteltherapie- und Patientensicherheit haben können. Um dies zu verhindern, sollten gemäß der Autorin sowohl bei der Aufnahme von Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus als auch bei deren Entlassung relevante Informationen lückenlos und korrekt sowie in einfach zu verarbeitender Form zur Verfügung stehen. Durch die Verwendung strukturierter Medikationspläne könnte unter Verwendung elektronischer Verordnungssysteme – idealerweise eingebunden in die digitale Patientenakte – die korrekte Medikation der Patienten eingelesen und weiterverarbeitet werden. Somit liegen ideale Voraussetzungen für ein umfassendes Medikationsmanagement durch (Stations-)Apothekerinnen und Apotheker vor, um die Qualität der Arzneimitteltherapie an den Schnittstellen zu erhöhen.
Irit Nachtigall, Christiane S. Hartog, Caroline Isner, Maria J.G.T. Vehreschild und Marzia Bonsignore arbeiten in ihrem Beitrag Erkenntnisse aus der Arzneimittelversorgung von Patientinnen und Patienten mit Covid-19 auf. Die rasche und dramatische Entwicklung der neuartigen Infektionskrankheit stellte und stellt die Mitarbeitenden medizinischer Einrichtungen vor große Herausforderungen. Die Evidenz für neue oder bekannte Medikamente lag anfangs noch nicht vor und eine durch Impfungen vermittelte Präventionsmöglichkeit stand ebenfalls noch nicht zur Verfügung. Viele Studien erfolgten parallel, Pressemeldungen zu Ergebnissen überschlugen sich und waren geprägt von Hoffnung und Frustration. Nicht immer wurde in diesem Kontext die einer Therapieempfehlung zugrundeliegende Evidenz in dem Ausmaß geprüft, wie es im prä-pandemischen Setting üblich gewesen wäre. Das Kapitel rekapituliert am Beispiel dreier Medikamente die Bemühungen um die zeitnahe Identifizierung von wirksamen und sicheren Therapieoptionen und die sich daraus ergebenden Herausforderungen in Bezug auf wissenschaftliche Ansprüche und ethische Aspekte.

1.2 Beiträge aus Sicht der verschiedenen Akteurinnen und Akteure auf die Qualität der Arzneimittelversorgung

Neben den tiefen Einblicken in spezielle Versorgungsbereiche und Patientengruppen soll in diesem Abschnitt den an der Arzneimittelversorgung beteiligten Akteurinnen und Akteuren das Wort erteilt werden, um aus ihrer Sicht die Qualität der Arzneimittelversorgung zu beschreiben und auf Verbesserungspotenziale hinzuweisen.
Die Sicht der Patientinnen und Patienten stellen dabei Susanne Teupen und Florian Innig in ihrem Beitrag vor. Unter dem Begriff Qualität der Arzneimittelversorgung lassen sich aus ihrer Sicht viele Aspekte subsumieren. Grundlegende Prämisse sei, dass die Patientinnen und Patienten mit wirksamen und sicheren Arzneimitteln versorgt werden und es bei den unterschiedlichen Personengruppen nicht zu Über-, Unter- und Fehlversorgung kommen soll. In Deutschland gibt es einen bemerkenswert schnellen Zugang zu neuen Arzneimitteln. Diesen gelte es auch künftig zu erhalten, da er einen deutlichen Einfluss auf die hohe Versorgungsqualität hierzulande darstelle. Gleichzeitig seien die steigenden Kosten bei Arzneimitteln insgesamt eine Herausforderung für das solidarische Gesundheitssystem in Deutschland.
Aus der Sicht der Ärzteschaft beschreibt Daniel Grandt einige Aspekte, die derzeit eine sichere Verordnung von Arzneimitteln in der Praxis erschweren. Der Arzneimitteltherapieprozess wurde in den letzten Jahrzehnten kaum weiterentwickelt, während die Multimorbidität und die Komplexität der Behandlung stetig zugenommen haben. Die gesamte Medikation der Patientinnen und Patienten sollte deren Ärztinnen und Ärzten bekannt sein und elektronisch unterstützt sollten Hinweise auf klinisch relevante Risiken erfolgen, wozu eine elektronische Verordnung erforderlich wäre. Auch eine Rückverfolgung der Arzneimittel bis zu den Patientinnen und Patienten könne diese schützen. Insgesamt fehle in der Arzneimittelversorgung der Entwurf eines fehlertoleranten Ideal-Prozesses und der Wille, diesen zu realisieren, wofür Digitalisierung und eine Optimierung der derzeitigen Prozesse erforderlich seien. Nicht nur Arzneimittel könnten Leben retten, auch adäquate, digital unterstützte Prozessorganisation könne dies erreichen.
Gedanken zur Qualität der Arzneimittelversorgung in Deutschland aus Sicht der Apothekerschaft machen sich Martin Schulz, Nina Griese-Mammen, Uta Müller und André Said. Aus ihrer Sicht sollte die Qualität der Arzneimittelversorgung daran bemessen werden, dass jede Patientin und jeder Patient das richtige, also individuell bestwirksame und bestverträgliche Arzneimittel in der richtigen Dosierung und zur richtigen Zeit bekommt. Dies zu unterstützen sei Anspruch und Angebot der Apothekerschaft. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Medikationsprozess komplex sei und bei einer ärztlichen Verschreibung die Anamnese, die Verordnung, die Patienteninformation, das Einlösen des Rezepts in der Apotheke, die Abgabe mit Beratung und Information, die Einnahme/Anwendung des Arzneimittels, die Dokumentation und das Monitoring umfasse. Wie das Projekt Arzneimittelinitiative (ARMIN) gezeigt habe, sollten dessen wirksame und sichere Interventionen bundesweit in die Regelversorgung eingeführt werden. So sollte allen Patientinnen und Patienten mit Polymedikation, d. h. wenn sie mehr als fünf systemisch wirkende Arzneimittel erhalten, eine Medikationsanalyse mit pharmazeutischer und medizinischer Arzneimitteltherapiesicherheits-Prüfung angeboten werden, gefolgt von einem interdisziplinären Medikationsmanagement.
Frank Dörje, Sabine Krebs und Jochen Schnurrer beschreiben die Herausforderungen aus der Sicht der Krankenhäuser. Nach Infektionsgefahren stellen Medikationsfehler das größte mit einer Krankenhausbehandlung verbundene Risiko für Patientinnen und Patienten dar. Medikationsfehler geschehen, weil auf dem Weg von der ärztlichen Verordnung bis zur Applikation viele Schritte im Medikationsprozess erfolgen müssen, die von zahlreichen Personen unterschiedlicher Berufsgruppen ausgeführt und in verschiedenen Medien dokumentiert werden. Der tradierte Versorgungsprozess ist fehleranfällig und daher – insbesondere aufgrund mangelnder Transparenz und vor dem Hintergrund der bekannten strukturellen Defizite – im Sinne einer erhöhten Arzneimitteltherapiesicherheit dringend zu optimieren. Krankenhäuser würden in der Zukunft an diesem Qualitätsstandard gemessen – nicht nur von Patientinnen und Patienten sowie Kostenträgern, sondern auch von den Mitarbeitenden, z. B. Pflegenden und ärztlichem Personal, die bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes auf Sicherheit, Entlastung und Unterstützung im Medikationsprozess achten würden.
Die Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung vertreten Sabine Jablonka, Anna Böhnlein und Constanze Wolf. In Deutschland sind neue Arzneimittel schnell und umfassend verfügbar und die Kosten werden – anders als in den meisten anderen Ländern – unmittelbar erstattet. Durch die Bestimmung des Zusatznutzens über den Gemeinsamen Bundesausschuss ist das Wissen um den möglichen Stellenwert von Arzneimitteln hoch. Ein nachhaltiges Investment in eine zuverlässigere Arzneimittelversorgung hinsichtlich der Produktqualität wäre der Ausbau der Prüfungen in der Produktion. Robustere Lieferketten würden das Risiko von Ausfällen weiter minimieren. Die AOK-Gemeinschaft hatte bei Rabattvertragsausschreibungen bereits entsprechende Kriterien integriert, scheiterte aber am Widerstand der pharmazeutischen Hersteller. Soll zukünftig die Nachhaltigkeit der Arzneimittelversorgungssicherheit in Verträgen gestärkt werden, sei eine gesetzliche Legitimierung der entsprechenden Kriterien auch für Vergabeverfahren dringend notwendig.
Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie beschreibt Han Steutel die Arzneimittelversorgung in Deutschland. Hierzulande bestünden Strukturen und Prozesse, die insgesamt eine sichere Arzneimittelversorgung bei hervorragender Qualität gewährleisteten. Dies bedeute vor allem: hohe Zulassungsstandards, rascher Zugang der Patientinnen und Patienten zu neu zugelassenen Medikamenten und resiliente Lieferketten. Die Sicherung der hochqualitativen Arzneimittelversorgung müsse daher ein zentrales Ziel sein und dürfe nicht zu Gunsten von kurzfristigen Einsparmaßnahmen aufgegeben werden. Innovationsfreundliche Rahmenbedingungen seien der Garant für stetigen medizinischen Fortschritt durch kontinuierliche Investitionen und Arzneimittelinnovationen. Weiterhin stabile Versorgungsstrukturen und die Aufrechterhaltung etablierter Rahmenbedingungen, die unter anderem den frühen Zugang zu neuen Arzneimitteln sicherstellten, sorgten zwangsläufig für eine steigende Qualität der Arzneimittelversorgung.

1.3 Beiträge zum Arzneimittelmarkt

Der letzte Abschnitt rundet das Werk mit einem breiteren, nicht am Schwerpunkt orientierten empirischen Blick auf den deutschen Arzneimittelmarkt, auch im Vergleich zu anderen europäischen Märkten, ab.
Carsten Telschow, Melanie Schröder, Jana Bauckmann, Katja Niepraschk-von Dollen und Anette Zawinell geben in ihrem Beitrag einen Überblick zum Arzneimittelmarkt der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Sie erläutern die Ursachen und Hintergründe der Umsatzsteigerung, die den Arzneimittelmarkt auch in diesem Jahr insbesondere durch neue, patentgeschützte Arzneimittel prägen. Aber auch dem Segment der Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) mit jährlich starken Umsatzsteigerungen bei äußerst geringem Versorgungsanteil kommt eine wachsende Bedeutung zu. Angesichts der ebenfalls dynamischen Kostenentwicklung bei den Biologika wird bereits seit langem die Öffnung des „Nachahmer-Segments“, der Biosimilars, für exklusive Rabattverträge diskutiert. In zwei Szenarien schätzen die Verfassenden ein Einsparpotenzial ab, wobei bereits realisierte Einsparungen berücksichtigt werden müssen. Ein Blick auf besondere Entwicklungen in der Arzneimittelversorgung während der Covid-19 Pandemie, die auf eine Resilienz der Arzneimittelversorgung in der GKV hindeutet, ergänzt die Sicht auf den GKV Arzneimittelmarkt des Jahres 2021.
Seit nunmehr zehn Jahren werden neu eingeführte Arzneimittel in Deutschland auf ihren Zusatznutzen untersucht und Preise auf Basis dieser Bewertung vereinbart. Antje Haas, Anja Tebinka-Olbrich, Daniel Erdmann, Susanne Henck, Maximilian Blindzellner, Christine Göppel und Lukas Lehmann beschreiben Ziel, Funktionsweise und Ergebnisse des AMNOG. Die gut etablierte Regelung hat eine beeindruckende Anzahl von Bewertungen zu neuen Arzneimitteln erbracht und es wurden Preise auf Basis dieser Bewertung vereinbart. Der Umsatz dieser Arzneimittel sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor wächst stark. Im Weiteren gehen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, wie bei begrenzten Ressourcen nutzengerechte Arzneimittelpreise gewährleistet werden können. Die aus Sicht des Autorenteams notwendigen gesetzgeberischen Fortentwicklungen werden skizziert, um eine tatsächlich am nachgewiesenen Zusatznutzen orientierte Preisfindung zu gewährleisten und um die finanzielle Stabilität der GKV zu erhalten.
Abschließend stellen Reinhard Busse, Cornelia Henschke, Sabine Vogler und Dimitra Panteli Arzneimittelmarkt und -versorgung in Deutschland im europäischen Vergleich anhand vier zentraler Parameter (Ausgaben, Verbrauch, Generikaanteile und Preise) im Zeitraum von 2010 bis 2020 dar. Im Vergleich mit zehn europäischen Ländern, darunter große Arzneimittelmärkte und Nachbarländer, weist Deutschland hohe Pro-Kopf-Arzneimittelausgaben auf. Hinsichtlich des Verbrauchs von Arzneimitteln gehört Deutschland zu den Vergleichsländern, in denen infolge der demographischen Entwicklung die erwartete steigende Verbrauchstendenz zu erkennen ist. Eine systematische Übersicht von Ergebnissen der Preisvergleichsstudien mit deutscher Beteiligung zeigt, dass sowohl die Preise einzelner Arzneimittel wie auch das Preisniveau für Arzneimittelgruppen in Deutschland im Vergleich am höchsten sind. Dies trifft insbesondere auf neue, patentgeschützte Arzneimittel zu.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind überzeugt, dass mit der vorliegenden Ausgabe des Arzneimittel-Kompass eine Bestandsaufnahme zur Qualität der Arzneimittelversorgung in Deutschland gelungen ist. Der oft exemplarische Einblick in einzelne Bereiche wie auch die verschiedenen Sichtweisen sollen dazu beitragen, ein Verständnis bei allen Beteiligten für die Herausforderungen zu wecken und sich gemeinsam der Verbesserung der Qualität zu widmen. Selbstverständlich sind weder der Blick in die einzelnen Bereiche noch die daraus abgeleiteten Optimierungspotenziale erschöpfend behandelt, was bei einem so facettenreichen Thema auch kaum möglich wäre. Die vielen berücksichtigten Hinweise und Beispiele sollen – im Sinne eines Kompasses – Anregungen geben, sich diesem Ziel auf unterschiedlichen Wegen zu nähern.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Einführung und Zusammenfassung
verfasst von
Helmut Schröder
Prof. Dr. Petra Thürmann
Dr. Carsten Telschow
Dr. Melanie Schröder
Prof. Dr. Reinhard Busse
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2022
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DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66041-6_1