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Erschienen in: Ethik in der Medizin 3/2023

Open Access 08.05.2023 | Fall und Kommentare

Kommentar II zum Fall: „Einsame Entscheidung – Extubation in tiefer Narkose“

verfasst von: Prof. Dr. Torsten Verrel

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 3/2023

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Der vorliegende Fall hat zu Fragen darüber geführt, ob die vom Oberarzt vorgenommene Extubation rechtmäßig war und er die Todesbescheinigung korrekt ausgestellt hat.
Maßgeblich dafür, ob eine indizierte lebenserhaltende Behandlung wie vorliegend die Beatmung über einen Tubus eingestellt werden darf oder sogar muss, ist allein die Übereinstimmung mit dem Willen der Patientin. Daher kann zu den unter 2., 3. und 5. angestellten Erwägungen klar Stellung bezogen werden. Vorstellungen Dritter, hier also die Wertvorstellungen der Mitarbeiter, etwaige Behandlungsvorgaben des Hauses oder angebliche berufsrechtliche oder ethische Regeln können eine dem (vorausverfügten) Willen der Patientin widersprechende (Weiter‑)Behandlung nicht rechtfertigen: Voluntas aegroti suprema lex! Der BGH (Bundesgerichtshof) hat schon 2005 festgestellt,1 dass weder ein mit dem Patienten geschlossener Heimvertrag noch die Gewissensfreiheit des Pflegepersonals dazu berechtigen, sich über dessen Selbstbestimmungsrecht hinwegzusetzen. Immer noch wird in der Praxis übersehen, dass jede medizinische (Weiter‑)Behandlung einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Rechtsgüter des Patienten darstellt, über die grundsätzlich nur er verfügen darf. Da das Selbstbestimmungsrecht auch die Befugnis umfasst, eine vital indizierte Behandlung abzulehnen, ja sogar ein Grundrecht auf eine freiverantwortliche Selbsttötung besteht2, kann ein auf die bloße Lebensverlängerung reduzierter Grundsatz nihil nocere nicht gegen eine mit dem Patientenwillen übereinstimmende Therapiebegrenzung ins Feld geführt werden. Und schließlich folgt aus der Zustimmung zum Therapiebeginn keinesfalls, dass der Patient ungeachtet des Therapieverlaufs auch alle weiteren aus ärztlicher Sicht erforderlichen Maßnahmen zu „tolerieren“ hat, sondern es muss die Behandlung zu jedem Zeitpunkt von seiner Einwilligung gedeckt sein. Dies kann entgegen einer nach wie vor verbreiteten Vorstellung dazu führen, dass eine lebenserhaltende Behandlung durch aktives Tun eingestellt werden muss.3 Rechtlich als solches nicht zu beanstanden ist ferner die „Einsamkeit“ der oberärztlichen Entscheidung, denn er und nicht das Team trägt die ärztliche Entscheidungsverantwortlichkeit.
Entscheidend für die Beurteilung der unter 1. und 4. angezweifelten Rechtmäßigkeit der Extubation ist damit, ob sie dem Willen der Patientin entsprach. Auch hier fällt die Wertung eindeutig aus. Die Patientin hatte unter dem Eindruck ihrer fortschreitenden Tumorerkrankung schriftlich verfügt, dass sie eine Intubation sowohl als Maßnahme einer erweiterten Intensivbehandlung als auch im Falle von Komplikationen ablehnt. Damit liegt eine Patientenverfügung vor, welche die in § 1827 Abs. 1 S. 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch, vormals § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB4) genannten und vom BGH präzisierten Anforderungen5 an eine hinreichende Bestimmtheit erfüllt, nämlich die genaue Bezeichnung der untersagten ärztlichen Maßnahmen (Wiederbelebung, Intubation) und die konkrete Beschreibung der Behandlungssituation (Intensivpflichtigkeit, Komplikationen), in der die Verfügung gelten soll. Es ist auch die in der Patientenverfügung beschriebene Konstellation eingetreten, wobei es nicht darauf ankommen dürfte, ob die zur Intubation führende Komplikation möglicherweise – der Sachverhalt ist hier unklar – durch einen Behandlungsfehler verursacht wurde. Ebenso wenig musste abgewartet werden, ob sich die Patientin wieder „berappelt“. Vielmehr hat der Oberarzt durch die Extubation eine Behandlungsmaßnahme in Übereinstimmung mit der Beurteilung des Willens der Patientin durch deren Bevollmächtigen6 beendet, die durch das Notfallteam bei Beachtung der Patientenverfügung gar nicht erst hätte ergriffen werden dürfen.7
Die wirklichen Probleme des Falls liegen in der Ausstellung der Todesbescheinigung. Versterben Patient*innen infolge der wunschgemäßen Einstellung einer lebenserhaltenden Behandlung oder ist eine solche Behandlung mangels Indikation beendet worden, ist das als natürlicher Tod zu werten, da der tödlich verlaufenden Erkrankung nicht weiter entgegengetreten wird.8 Anders liegen die Dinge, wenn die Behandlungsbedürftigkeit fremdverschuldet, also etwa Folge eines Unfalls oder einer vorsätzlichen Straftat9 ist, aber auch dann, wenn ein Behandlungsfehler und damit ebenfalls eine äußere Einwirkung (Schelling 2020, S. A 39; Hefer und Wenning 2006, S. 18)10 zum Tod geführt hat. Zwar dürfte der nicht substantiierte und nach den Gesamtumständen eher fernliegende Vorwurf einer fehlerhaft durchgeführten Magenspiegelung nicht ausreichen, um (vorsorglich) einen nicht natürlichen Tod anzugeben.11 Die Besonderheit des Falles besteht jedoch darin, dass der Oberarzt nicht lediglich eine laufende Behandlung eingestellt und damit der Grunderkrankung ihren Lauf gelassen, sondern den Atemantrieb durch eine tiefe Narkose gedämpft hat. Damit war nicht eine Aspirationspneumonie, sondern die medikamentös herbeigeführte Unterdrückung des Atemreflexes und folglich wiederum eine äußere Einwirkung todesursächlich. Dies ändert zwar nichts an der Rechtmäßigkeit der nur so leidensfrei durchführbaren Extubation, hätte aber zu der Angabe „nicht natürlicher Tod“ aufgrund einer Ateminsuffizienz führen müssen. Damit hätte der Oberarzt sein Verhalten wahrheitsgemäß dokumentiert und einer juristischen Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft zugänglich gemacht, was keineswegs als Eingeständnis fehlerhaften Verhaltens zu verstehen gewesen wäre. So zu verfahren hätte auch angesichts der Empfehlung nahe gelegen, dass die Todesbescheinigung nicht von dem Arzt ausgestellt werden sollte, der in die zum Tod führende Behandlung involviert ist (Schelling 2020, S. A 39). Die unrichtige Ausstellung des Todesscheins oder das sich anschließende Nicht-Verständigen der Polizei können nach den Bestattungsgesetzen der Länder als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.12

Danksagung

Der Verf. dankt Herrn Akad. Rat a.Z. Dr. Franzke für seine wertvolle Unterstützung.

Interessenkonflikt

T. Verrel gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
BGH, MedR 2005, 719.
 
2
BVerfGE 183, 182.
 
3
Vgl. BGHSt, NStZ 2010, 630 m. Anm. Verrel.
 
4
Durch das am 01.01.2023 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 04.05.2021 (BGBL. 2021 I, S. 882.) hat sich die Nummerierung der Paragrafen geändert.
 
5
BGHZ, 214, 62; 211, 676; 202, 226.
 
6
Damit bedurfte es gem. § 1829 Abs. 4 BGB (vormals § 1904 Abs. 4 BGB) auch keiner betreuungsgerichtlichen Genehmigung.
 
7
Der Frage einer dadurch begründeten Strafbarkeit wegen (fahrlässiger) Körperverletzung wird nicht weiter nachgegangen.
 
8
Die Todesbescheinigung in Fällen von Behandlungsbegrenzungen wird soweit ersichtlich bisher in der Literatur nicht ausdrücklich behandelt.
 
9
Vgl. BGH, NStZ 2021, 231, 232 f.
 
10
Krit. zum Begriff der äußeren Einwirkung Maiwald (1978, S. 562 f.).
 
11
Vgl. zum Erfordernis konkreter oder „wenigstens entfernter“ Anhaltspunkte Meyer-Goßner und Schmitt (2022, § 159 Rn. 5); a. A. Geerds (1984, S. 173 f.): Angabe eines unnatürlichen Tods, schon dann, wenn „keine sicheren Anzeichen für einen natürlichen Tod festzustellen sind“.
 
12
S. etwa § 49 Abs. 4 BestattG BW (Bestattungsgesetz Baden-Württemberg).
 
Literatur
Zurück zum Zitat Geerds F (1984) Leichensachen und Leichenschau aus juristischer Sicht. MedR 2:172–177 Geerds F (1984) Leichensachen und Leichenschau aus juristischer Sicht. MedR 2:172–177
Zurück zum Zitat Hefer B, Wenning M (2006) Todesbescheinigung NRW. Rheinisches Ärztebl 8:18–19 Hefer B, Wenning M (2006) Todesbescheinigung NRW. Rheinisches Ärztebl 8:18–19
Zurück zum Zitat Maiwald M (1978) Zur Ermittlungspflicht des Staatsanwalts in Todesfällen. NJW 31:561–566 Maiwald M (1978) Zur Ermittlungspflicht des Staatsanwalts in Todesfällen. NJW 31:561–566
Zurück zum Zitat Meyer-Goßner L, Schmitt B (2022) Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, 64. Aufl. C.H. Beck, München Meyer-Goßner L, Schmitt B (2022) Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, 64. Aufl. C.H. Beck, München
Zurück zum Zitat Schelling P (2020) Strafrecht: Risiken beim Ausfüllen der Todesbescheinigung. Dtsch Ärztebl 117(1–2):A 38–A 39 Schelling P (2020) Strafrecht: Risiken beim Ausfüllen der Todesbescheinigung. Dtsch Ärztebl 117(1–2):A 38–A 39
Metadaten
Titel
Kommentar II zum Fall: „Einsame Entscheidung – Extubation in tiefer Narkose“
verfasst von
Prof. Dr. Torsten Verrel
Publikationsdatum
08.05.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-023-00768-4

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